Neue Auflage des Romans »Der weiße Hai«

Alien im Weltmeer

Von Knud Kohr

40 Jahre nach der Erstveröffentlichung bringt der österreichische Milena-Verlag Peter Benchleys Roman »Der weiße Hai« neu heraus.

Dam-Dam … Dam-Dam-Dam-Dam-Dam-Dam …«  Jeder, der Steven Spielbergs Film »Der weiße Hai« gesehen hat, den der Regisseur 1975 im Alter von nur 29 Jahren drehte, kann sich an die monotone, bedrohlich pulsierende Tonfolge erinnern. Das Nahen des mörderischen Tiers kündigte sich damit an. Gleich würde er wieder zuschlagen. Oder auch nicht. Aus heutiger Sicht betrachtet, befand sich die Tricktechnik zu Beginn der siebziger Jahre noch im Mittelalter. Wer sich heute Bilder von dem Plastikmonster ansieht, das damals die Hauptrolle spielte, versteht genau, warum Spielberg es nur in entscheidenden Szenen überhaupt aus dem Wasser schauen ließ. »Der weiße Hai« setzte sich dennoch binnen weniger Monate an die Spitze der bis dahin kommerziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten, spielte an den Kinokassen 260 Millionen Dollar ein und zog mehrere Sequels nach sich. Da Spielberg nur zwei Jahre später mit »Unheimliche Begegnung der dritten Art« ein ähnlich dimensionierter Erfolg gelang, darf man ihn getrost als Vater des Blockbuster-Kinos bezeichnen.
»Zuerst dachte die Frau, sie hätte sich das Bein an einer Klippe oder einem Stück Treibholz aufgerissen. Sie spürte keinen Schmerz, nur einen heftigen Ruck rechts unten. Sie griff hinunter, um ihren Fuß zu betasten, trat dabei Wasser, mit dem linken Bein, um den Kopf oben zu behalten, und suchte mit der linken Hand in der Schwärze. Sie konnte ihren Fuß nicht finden. Ihre suchenden Finger hatten zersplitterte Knochen und zerfetztes Fleisch gefunden. Sie begriff jetzt, dass der warme, pulsierende Strom auf ihren Fingern in dem kalten Wasser ihr eigenes Blut war.« So stellt sich das mörderische Tier auf der dritten Seite von »Jaws« vor. Der Roman wurde von Peter Benchley verfasst, erschien erstmals 1974 und wurde zur Vorlage des Drehbuchs für Spielbergs Film.
Jetzt, kurz vor dem 40. Jubiläum, hat der in Wien ansässige Milena-Verlag den Roman neu aufgelegt.
Peter Benchley wurde 1940 in New York geboren. Er entstammte einer Schriftstellerfamilie. Schon sein Großvater war Schauspieler und Theaterkritiker gewesen, sein Vater schrieb Kinder- und Jugendbücher. Peter Benchley studierte zunächst in Harvard, um ab 1961 als Journalist für die Zeitungen Newsweek und Washington Post zu arbeiten. Außerdem verfasste er Reden für Lyndon B. Johnson, der dem ermordeten John F. Kennedy als US-Präsident nachfolgte.
Wie viele Kinder aus wohlhabenden New Yorker Familien verbrachte auch Benchley die Sommermonate mit seiner Familie an der Atlantikküste. In seinem Fall hieß das Ziel Nantucket, eine Insel vor Massachusetts. Schon als Kind faszinierten ihn Haie, und zwar nicht als mörderische Raubtiere, sondern als Meisterwerke der Evolution, die seit Hunderten von Millionen Jahren nahezu unverändert ihre Nische in der Tierwelt behaupten. Benchley las alles, was er über diese Tiere finden konnte. Dabeistieß er auch auf alte Zeitungsberichte über die Haiangriffe vor der Küste von New Jersey vom Juli 1916, bei denen während weniger Tage vier Menschen getötet und mehrere weitere verletzt worden waren. Diese Vorfälle waren vor allem deshalb so viele Jahrzehnte nicht vergessen worden, weil sie äußerst selten sind. Normalerweise greifen Haie Menschen nicht an. Nach Angaben des »International Shark Attack File« gab es weltweit lediglich 74 dokumentierte Fälle in den vergangenen 100 Jahren.
Damit hatte Benchley, der zu diesem Zeitpunkt Anfang 30 war, den Stoff gefunden, mit dem er die Autorentradition seiner Familie fortführen konnte. Er verlegte das Geschehen von Massachusetts in das kleine, fiktive Seebad Amity in New Jersey, das von New York aus gut mit dem Wagen zu erreichen war. Eigentlich sollte der Roman vor allem eine Sozialstudie sein. Benchley erläutert nämlich genau, dass das kleine Seebad mit seinen nur 1 000 Einwohnern zwingend auf das Geld angewiesen ist, das die ungefähr 10 000 Sommergäste ihm jedes Jahr in die Kassen spülen. Eine auch nur mäßige Saison bringt zwingend finanzielle Einbußen bis hin zur Armut nach Amity, bei zwei mäßigen Saisons hintereinander müssen etliche Einwohner ihre Häuser verkaufen und schlecht bezahlte Arbeit in Fischfabriken entlang der Küste suchen. Wenn es gar Haiattacken gibt, steht zu befürchten, dass Amity zu einer Geisterstadt wird.
Als Spielberg und sein Produzent Richard D. Zanuck, der damals ebenso wie der Regisseur am Anfang einer großen Hollywoodkarriere stand, die Filmrechte an Benchleys Roman kauften, ließ der Autor sicherheitshalber in den Vertrag schreiben, dass er die beiden ersten Drehbuchversionen schreiben durfte. Noch Jahre später erinnerte er sich schaudernd an das erste Meeting, bei dem Zanuck ihm sinngemäß sagte: »Dieser Film wird von A bis Z eine Abenteuergeschichte sein, mit geradlinigem Verlauf, dass Sie den ganzen romantischen Kram, das Mafia-Zeugs und alles, was letztlich ablenkt, herausnehmen.«
Spielberg und Zanuck übergaben ab der dritten Drehbuchversion an den Hollywood-Autor Carl Gottlieb, der die Story so umarbeitete, wie sie jedem Filmfan in Erinnerung geblieben ist: Roy Scheider kämpft als Polizeichef Brody zunächst gegen die Stadtoberen, die unbedingt verhindern wollen, dass Brody die Strände ausgerechnet zum Wochenende um den 4. Juli sperren lässt. So muss er hilflos zusehen, wie der Hai reiche Beute macht und ihm selbst von Zeitungen und dem feigen Bürgermeister Vorwürfe gemacht werden, die Bürger von Amity nicht ausreichend geschützt zu haben.
Im Film ist das mehr oder weniger Vorgeplänkel für den Showdown, auf den es im Abenteuergenre zulaufen muss: Duell auf dem Wasser und, nachdem alle Helfer von Brody dem Hai zum Opfer gefallen sind: ein Mann gegen einen Fisch.
Benchley war zu diesem Zeitpunkt schon auf Zeitungsmeldungen angewiesen, um sich über den Stand der Filmproduktion zu informieren. Um das Los eines Romanautors zu erhellen, der im Laufe des Produktionsprozesses immer mehr zur Randfigur wird, hat der Verlag einige Texte des 2006 verstorbenen Benchley mit ins Buch genommen. Am 15. April 1974 schrieb er, schon der Fassungslosigkeit nahe, an den ausführenden Produzenten David Brown: »Wie ich schon heute am Telefon erwähnte, bin ich äußerst besorgt wegen einiger Dinge in der endgültigen Drehbuchfassung. Ich fürchte, (…) dass die Zuschauer den Film lächerlich finden und man ihn als irrwitzige Farce abtun wird.«
Den Showdown zwischen Held und Hai kennt schon der Roman; epischer sogar als im Film: Nachdem Brody auf offener See all seine Helfer verloren, aber letztlich gesiegt hat, schwimmt er allein (im Film gemeinsam mit dem Haiforscher Hooper) auf die jetzt haifreie Küste zu. Verschwunden sind allerdings zwei Handlungsstränge, die das Zusammenleben und die Probleme der Menschen in Amity ­beschreiben und die Benchley so präzise modelliert hat, dass das Auftauchen des Hais manchmal fast störend wirkt. Zum einen ist das die Geschichte von Brodys junger Frau ­Ellen, die es vor 15 Jahren abenteuerlich fand, nicht wie alle ihre New Yorker Freundinnen ­einen Anwalt oder Arzt zu heiraten, sondern einen Polizisten in einem Küstenkaff. Aber nun, mit Mitte 30 und als dreifache Mutter, wird sie hier noch immer nicht akzeptiert und ist von ihren Jugendfreundinnen schon fast vergessen. Wenn Benchley schildert, wie ­Ellen sich barfuß auf einer Tankstellentoilette für den unausweichlich erscheinenden Seitensprung mit einem jungen Haiforscher vorbereitet und wie enttäuschend der Vollzug in einem billigen Motel ist, kommt man gar nicht auf die Idee, dass Ellen irgendwie schuldig wäre.
Viel leichter fällt genau das bei dem korrupten Bürgermeister Amitys. Der versucht, mit von der Mafia geliehenem Geld die Immobilien der halben Stadt aufzukaufen. Und gerät angesichts der implodierenden Preise plötzlich in Lebensgefahr. Für die Mafia nämlich ist ein einzelner Hai noch nie ein Argument gewesen, ihre Ratenzahlungen nachzuverhandeln.
Peter Benchley konnte Zeit seines Lebens nicht verstehen, warum Spielbergs Film erstens so erfolgreich wurde und zweitens bis heute als Meilenstein für die Dramaturgie von Spannungsplots gilt. Die Idee für »Alien« (1979) wurde den Produzenten mit nur einem Satz verkauft: »Wir machen ›Der weiße Hai im Weltall‹.« Finanzielle Sorgen musste sich der Autor nie wieder machen. »Der weiße Hai« verkaufte sich 20 Millionen Mal. Benchley konnte sich bis zu seinem Tod der Haiforschung und dem Schutz der weißen Haie widmen.

Peter Benchley: Der weiße Hai. Aus dem Englischen von Vanessa Wieser. Milena-Verlag, Wien 2013, 309 Seiten, 23,90 Euro