Theorien des Schenkens von Marcel Mauss und anderen

Wegwerfen, um zu gewinnen

Immer wenn die Armut von den Verhältnissen gezwungen wird, sich nicht mehr zu verstecken, begeistern sich linke Gesellschaftskritiker fürs Schenken. Dass sie nach wie vor Fachleute für Knauserigkeit sind, widerspricht dem nicht.

Wenn eine moderne, linke, kritische Wochenzeitung ihre Weihnachtsausgabe dem Phänomen des Schenkens widmet, können die Leser sicher sein, dass sentimentale Dinge wie Weihnachts­geschenke darin allenfalls als Gegenstand von Ironie vorkommen. Das freut die Leser insofern, als sie mit den Mitgliedern der nichtkritischen Gesellschaftsmehrheit die konstitutionelle Unfähigkeit teilen, irgendjemandem irgendetwas, geschweige denn sich selbst, zu schenken. Die Abgeschmacktheit sogenannter Geschenkartikel, die sich jährlich zu Heiligabend zusammenfindende Familienbande, die degoutante Präsenz lärmender Feierlichkeit in der eigentlich stillsten Zeit des Jahres und die backpfeifenheischende Idiotie von massenhaft auftretenden Jugendlichen mit roten Zipfelmützen sind indessen längst vorgeschobene Argumente, um die von der Tradition vorgegebene Nötigung abzuweisen, einmal im Jahr die Geduld und Phantasie aufzubringen, derer es bedarf, um die Nebenmenschen mit dem zu überraschen, was sie sich schon immer wünschten, ohne es zu wissen.
Die Verachtung des Schenkens als zweckfreie und daher beglückende Handlung korrespondiert mit einer in kärglichen Zeiten besonders populären Sympathie fürs Abgeben und Teilen, die Solidarität mit den Zukurzgekommenen bekunden soll. Wie es mit dieser Solidarität bestellt ist, zeigt ein Blick in sogenannte Geschenkläden, in denen Leute ohne Geld, Geist und Geschmack den ihnen unerträglich gewordenen Teil ihres Hausrats entsorgen, damit andere mit noch weniger Geld, um deren Geist und Geschmack man sich so wenig schert wie um sie selbst, ihn dort abholen können. Solche Läden verhalten sich zur Geste des Schenkens wie protestantische Pfadfinderlieder zur katholischen Liturgie. Schenken, seinem genuinen Sinn nach Zeugnis von Großzügigkeit, in welcher Überfluss und Reichtum die eigene Borniertheit zu überschreiten suchen, kommt in ihnen herunter zur moralisch verbrämten Feier der eigenen und kollektiven Beschränktheit. Weil man davon ausgeht, dass die anderen ebenso anspruchslos sind wie man selbst, hat man immer was für sie abzugeben und ist dabei ebenso wenig wählerisch, wie die Abnehmer es sein dürfen. Statt zu einer Ökonomie der Verschwendung gehören Geschenkläden daher zu einer Ökonomie des Recyclings: Es sind die Müllhalden einer Gesellschaft, die dabei ist, den Unterschied zwischen Unrat und Eigentum zu liquidieren.

Während die protestantische Fraktion der Geschenkliebhaber sich auf den Kommunitarismus und ökonomische Theorien der Nachhaltigkeit beruft, bemüht die ihnen gegenüberstehende, gleichsam linkskatholische Denkschule des Schenkens gern den französischen Ethnologen Marcel Mauss und dessen kreativen Adepten Georges Bataille zur Legitimation ihrer vermeintlich subversiven Ökonomie der Verschwendung. Marcel Mauss selbst, der ein redlicher Empiriker war und dessen 1925 erschienene, dank Bataille und seinen postmodernen Nachfolger zum Mythos gewordene Studie »Die Gabe«, ihrem Unter­titel entsprechend, nicht mehr und nicht weniger ist als eine Untersuchung von »Form und Funk­tion des Austauschs in archaischen Gesellschaften«, trägt an dieser Mythologisierung am wenigsten Schuld. Mit historisch-materialistischem Blick lässt sich seine Studie gar als eine Phänomenologie archaischer Herrschaftsformen deuten, in denen gesellschaftliche Gewalt weder durch Institutionen noch durch den Äquivalententausch vermittelt und daher stets unmittelbar an Personen gebundene, sich an Personen auslebende Gewalt ist.
Erkenntnisleitende Begriffe von Mauss’ Theorie der Gabe, die er in Rekurs auf die Riten von Stämmen aus Polynesien, Samoa, Melanesien und andernorts entwickelt, sind nicht Zweckfreiheit und Reichtum, sondern »Leistung« und »Pflicht«, und diese wiederum beziehen sich nicht auf In­dividuen, sondern auf als Stämme organisierte Kollektive. In archaischen Wirtschafts- und Rechtsordnungen, so Mauss, begegne man »fast niemals dem einfachen Austausch von Reichtümern, Gütern und Produkten im Rahmen eines zwischen Individuen abgeschlossenen Handels«. Vielmehr kenne der archaische Tausch allein Kollektivsubjekte, »Clans, Stämme, Familien«, die Mauss etwas missverständlich »moralische Personen« nennt, und was zwischen diesen Gruppen zirkuliere, seien nicht vorwiegend »wirtschaftlich nützliche Dinge«, sondern »Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze«, deren Tausch nicht marktvermittelt sei, sondern einer Logik der »obligatorischen Gabe« folge. Diese Wirtschaftsordnung bezeichnet Mauss, um sie dem von instrumenteller Vernunft beherrschten und zugleich reglementierten Markt der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzusetzen, als »System der totalen Leistungen«, die zirkulierenden Gaben in Anlehnung an US-amerikanische Ethnologen als »Potlatch«.

Obwohl sie keinem Nützlichkeitskalkül folgt, ist die Gabe im Potlatch in doppelter Weise verpflichtend. Es besteht die Pflicht, sie anzunehmen, ebenso wie die Notwendigkeit, sie zu erwidern: »Ein Clan, eine Hausgemeinschaft oder ein Gast hat nicht die Freiheit, Gastfreundschaft nicht in Anspruch zu nehmen, Geschenke nicht anzunehmen, nicht zu handeln, Blut- und Heiratsverbindungen nicht einzugehen. (…) Die Pflicht des Gebens ist nicht weniger wichtig (…). Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemand einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigern.« Die Gabe steht im Potlatch also, im Gegensatz zur Geste des Schenkens als zumindest dem Schein nach zweckfreier Widerpart des geldvermittelten Tauschs in der bürgerlichen Gesellschaft, der Gewaltordnung, von der sie hervorgebracht wird, nicht widersprüchlich gegenüber, sondern ist deren unmittelbarer Ausdruck: Wer jemandem (der hier noch gar nicht Jemand, sondern nur Gruppenexemplar ist) etwas schenkt, nimmt den Beschenkten und dessen Clan gleichsam in Haft und verpflichtet ihn, das Geschenk zu erwidern. Die Gabe ist im Potlatch kein Modus der Selbstentäußerung, sondern ein Mittel kollektiver Erpressung, die sich in den Gesellschaften des Potlatch noch nicht als komplementärer Gegensatz des Warentauschs ausdifferenziert hat, sondern unmittelbare politische und ökonomische Handlung ist.
Daraus resultiert eine weitere, für Bataille besonders attraktive Erkenntnis von Mauss. Um sich von der durch die Gabe konstituierten, sich auf den Beschenkten und dessen Gruppe als Ganzes – also nicht nur auf deren Habe, sondern auch auf ihren Leib – erstreckenden Verpflichtung loszukaufen, muss der Beschenkte dem Geber zurückgeben, und zwar mehr, als er erhalten hat. Diese Regel beschreibt Mauss etwas euphemistisch als »System der Freigiebigkeit«, und eben darin meinte Bataille den Keim einer die Logik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unterwandernden Ökonomie der Verschwendung auszumachen. Während Bataille, insbesondere in seinen Studien »Die Aufhebung der Ökonomie«, »Die Erotik« und »Theorie der Religion«, in der erotischen Selbstentäußerung, in den Residuen naturreligiöser Spiritualität, in den archaischen Elementen des Katholizismus sowie im echten Kampf, der noch keine »Soldaten«, sondern nur »Krieger« gekannt habe, Spuren jener Ökonomie der Verausgabung sucht, die er in der entfremdeten Gegenwart wieder entfesselt sehen will, beschreibt Mauss nüchtern den auf nichts anderes als kollektive Selbstvernichtung zielenden des­truk­tiven Kreislauf des Potlatch, der innerhalb kurzer Zeit zur Auslöschung ganzer Stämme führen konnte, die sich mit der Potlatch-Ökonomie ihrer eigenen Reproduktionsbedingungen beraubten. Der kollektivsuizidale Charakter des Potlatch, der bei Bataille noch durch ein romantisch verbrämtes Lob von Luxus und Ekstase verdeckt ist, kommt zu sich selbst in Jean Baudrillards Theorie des subversiven Opfers, wie er sie in seinem 1976 erschienenen Buch »Der symbolische Tausch und der Tod« mit ausdrücklichem Rekurs auf Mauss und Bataille entwickelt und in der er – in Vorwegnahme seiner nach den Attentaten vom 11. September 2001 bekundeten Sympathie für Selbstmordattentäter – den Suizid als Mittel preist, die Gesellschaft zur »Implosion« zu bringen und ihre Kreisläufe »kurzzuschließen«.

Die opferverliebte Feier der Gabe als Modus subversiver Verausgabung will im Nu erreichen, was die Freunde der kommunitaristischen Geschenkökonomie langfristig, eben »nachhaltig«, anstreben: die Abdankung der an ihren eigenen Widersprüchen verrückt gewordenen bürgerlichen Gesellschaft, nicht ihre Überwindung also, sondern ihrer Selbstzerstörung. Was das Bürgertum zu Zeiten, als seine Ideologen noch halbwegs auf der Höhe waren, unter Schenken verstand und noch in Friedrich Nietzsches bereits zum Pathos aufgeblähter Maxime, sich wegzuwerfen, um sich zu gewinnen, nachklingt, bewahrt demgegenüber, wenngleich nur als Impuls, die Erinnerung an den Zusammenhang von Zweckfreiheit und Glück. Um als dem Zweck Entronnenes in Erscheinung zu treten, bedarf das Schenken des nur dem Schein nach gleichen Tauschs als dessen Gegenpart. Nur wo normalerweise berechnet, verglichen, getauscht, gewonnen und verloren wird, kann das Schenken als Versprechen jenes Besseren fungieren, dessen Verwirklichung es zugleich verhindert. Dass das heute altbacken, langweilig und störend klingt, verdankt sich nicht zuletzt Verhältnissen, die jede Erinnerung ans Glück eben so erscheinen lassen: altbacken, langweilig, störend.