Charity und Sozialstaat

Das zahlt bei uns die Charity

In den USA und in islamischen Staaten gibt es eine lange Tradition des karitativen Spendens, in Deutschland wird die ehrenamtliche Betätigung bevorzugt. Schlecht ist das alles, wenn es als Ersatz für staatliche Sozialleistungen herhalten muss.

»Warum hören Sie mir nicht zu?« fragte der US-Senator Ted Cruz aus Texas seine Kollegen, die ihn in der Nacht schließlich ganz alleine ließen. Dennoch plapperte der konservative Republikaner einfach weiter und stellte mit über 24 Stunden Redezeit einen neuen Rekord im sogenannten Filibuster auf, dem Versuch, durch endlose Redebeiträge Abstimmungen zu unterbinden. Um Barack Obamas Gesundheitsreform zu verhindern, las Cruz unter anderem aus dem Kinderbuchklassiker »Green Eggs and Ham« vor. Theodor Seuss Geisel, wie dessen Autor mit Hang zum anarchistischen Sprachwitz heißt, hätte selbst wohl kaum mit den reaktionären Ansichten Curz’ übereingestimmt. Doch in einer anderen Hinsicht passt Geisels recht fortschrittliche Einstellung mit konservativen Werten durchaus zusammen: Philanthropie und Charity sind in den USA für Wohlhabende keine Reizwörter, sondern gehören zum guten Ton.
So spendete Geisel einen großen Teil seines Vermögens seiner ehemaligen Ausbildungsstätte, dem Dartmouth College in New Hampshire, einer der ältesten und renommiertesten Hochschulen in den USA. Dort finanzierte er die medizinische Fakultät, die nach ihm benannt wurde – die größte Einzelspende in der langen Geschichte des College. Auch die Bibliothek der University of California ist nach ihm benannt.
Förderungen durch ehemaligen Absolventen, die Alumni, läuft im US-Bildungssystem nicht viel. Staatliche Einrichtungen fordern zwar weniger Gebühren, sind aber oft mangelhaft ausgestattet und besitzen meistens keinen guten Ruf. Die Elite­universitäten verfügen hingegen dank der privaten Spenden über ausgezeichnete Bedingungen. Sie verlangen teils horrende Studiengebühren, bieten aber gleichzeitig auch jenen Bewerbern großzügige Stipendien, die sich wegen ihrer so­zialen Herkunft ein Studium eigentlich gar nicht leisten können. Im internationalen Vergleich schneidet der in hohem Maße privatisierte US-Bildungssektor damit gar nicht so schlecht ab. Aktuellen OECD-Statistiken zufolge sind in den USA die sozialen Aufstiegschancen von Arbeiterkindern besser als in Deutschland.
Gespendet wird nicht nur für prestigeträchtige Bauten oder einflussreiche Lehrstühle, sondern auch für den sozialen Sektor. Die USA unterhalten zwar den, jedenfalls in absoluten Zahlen, teuersten Sozialstaat der Welt, was vermutlich nicht einmal viele US-Bürger wissen. Mit über zwei Bill­ionen Dollar stellen Sozialleistungen, etwa für die Rentenversicherung Social Security, den mit Abstand größten Haushaltsposten dar. Gleichzeitig wurden allein im vergangenen Jahr über 300 Milliarden Dollar an Spenden eingesammelt. Dabei geben die Bewohner des Bundesstaats Utah nach Angaben des Online-Portals philantropy.com durchschnittlich etwa zehn Prozent ihres verfügbaren Einkommens für gemeinnützige Zwecke aus, in New Hampshire sind es immerhin noch rund 2,5 Prozent. Zahlen, die sonst nirgendwo in der Welt auch nur annähernd erreicht werden: Das Spendenaufkommen in Deutschland belief sich 2012 auf etwas über vier Milliarden Euro.

Vor allem einige der reichsten US-Bürger sind ausgesprochen spendierfreudig. So organisierte der Milliardär Warren Buffett im Juni 2012 ein Charity-Mittagessen, bei dem 3,5 Millionen Dollar zusammenkammen. Der Erlös kam der Aktion Glide zugute, die sich um Obdachlose und Arme in San Francisco kümmert. Der Finanzinvestor George Soros schenkte im vergangenen Jahr 100 Mil­lionen Dollar an die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die daraufhin ihre Belegschaft fast verdoppelte. »Das ist altersbedingt«, sagte Soros damals der New York Times. »Eigentlich wollte ich all mein Geld während meines Lebens unter die Leute bringen, aber den Plan habe ich aufgegeben.« Er kündigte weitere Spenden an.
Damit ist Soros aber bei weitem nicht der größte Spender in Nordamerika. Microsoft-Gründer Bill Gates hat einen großen Teil seines Vermögens einer nach ihm und seiner Frau benannten Stiftung übertragen, die über ein Kapital von 36 Milliarden Dollar verfügt. Die Stiftung finanziert Gesundheitsprojekte in Afrika, unterstützt dort die ländliche Entwicklung und vergibt Studienstipendien in den USA. 2006 kündigte Warren Buffett an, den größten Teil seines Vermögens in Höhe von 47 Milliarden Dollar an die Gates-Stiftung zu überschreiben.
Die beiden Milliardäre gründeten im Juni 2010 gemeinsam das Charity-Projekt »The Giving Pledge« (»Das Spendenversprechen«). Seitdem gelang es ihnen, über 100 Vermögende zu überzeugen, spätestens bei ihrem Tod mindestens die Hälfte ihres Vermögens für karitative Zwecke abzutreten. Mit ihrer Aktion haben die beiden bislang über 100 Milliarden Dollar aufgetrieben – zumindest in Form von Zusagen. Zu den Spendern zählen beispielsweise New Yorks ehemaliger Bürgermeister Michael Bloomberg, der Medienunternehmer Ted Turner, Banker David Rockefeller, Hotelier Barron Hilton, der Öl-Tycoon Thomas Boone Pickens, George Lucas, Regisseur von »Krieg der Sterne«, und Facebook-Gründer Mark Zuckerberg.

Weniger Resonanz erhielt die Initiative bislang außerhalb der USA. Zwar unterzeichnete auch der SAP-Gründer Hasso Plattner das Versprechen. Er ist aber einer von nur wenigen Deutschen, die sich daran beteiligen. Hier hält man die Initiative eher für eine geschickt initiierte PR-Aktion. Spenden seien in den USA zum großen Teil steuerlich absetzbar, erklärte der Hamburger Reeder und Multimillionär Peter Krämer. Die Reichen könnten also wählen, ob sie lieber spenden oder Steuern zahlen wollten. »Die Spender treten an die Stelle des Staates«, kritisierte er im Spiegel. Mit dieser Begründung spart er sich allerdings auch, selbst etwas von seinem Vermögen abzugeben.
Wie Krämer betrachten viele Deutsche allzu freigiebiges Spenden eher argwöhnisch und ziehen es statt dessen vor, unentgeltlich für einen guten Zweck zu arbeiten. Nach Angaben des Freiwilligensurveys des Bundesministeriums für Familie leisten rund ein Drittel aller Bundesbürger über 14 Jahren in irgendeine Form freiwillige Dienste, sei es bei der Feuerwehr, im Sportverein oder bei religiösen Institutionen. Allein in der evangelischen Kirche und ihren karitativen Einrichtungen engagieren sich über eine Million Menschen. Die »neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland«, wie sie die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder noch im vergangenen Jahr ausgemacht hatte, verwischt aber auch die Grenze zwischen ehrenamtlicher Arbeit und Sozialleistungen. So rekrutieren sich die Teilnehmer des neu eingeführten Bundesfreiwilligendienstes, der monatlich mit maximal 348 Euro vergütet wird, immer häufiger aus Harz-IV-Empfängern.

Eine ausgeprägte Spendenkultur existiert auch in islamischen Ländern. Das Geben von Almosen gehört schließlich zu den fünf Pfeilern des Islam – alle Gläubigen müssen einen Teil ihres Besitzes für Arme und Notleidende geben. Hat ein Muslim kein oder nur sehr wenig Vermögen, so ist er von dieser Pflicht befreit. Das trifft allerdings in vielen islamischen Ländern auf einen immer größeren Teil der Bevölkerung zu, wie etwa in Ägypten. Dort lebt offiziellen Zahlen zufolge jeder vierte Einwohner in absoluter Armut, die Hälfte der Bevölkerung muss mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Staatliche Sozialleistungen existieren kaum.
Diesen Mangel kompensieren islamistische Organisationen wie die Muslimbruderschaft, die einen umfangreichen Wohlfahrtsapparat betreiben und diesen mit ihrem politischen Vorhaben verbinden. Kliniken sind zum Beispiel Moscheen angeschlossen, mehr als zwei Dutzend Spitäler betreibt die Islamische Medizinische Vereinigung. Schulen werden meist im Namen von reichen Familien gegründet, die den Muslimbrüdern angehören oder ihnen nahestehen. Millionen von Männern, Frauen und Kindern sind auf die Hospitäler der Islamisten angewiesen. Hinzu kommen Suppenküchen, Waisenhäuser und andere karitative Einrichtungen. Nach dem Verbot der Muslimbruderschaft sind nun viele soziale Dienste von der Schließung bedroht. Eine Alternative zu dieser Form der Wohlfahrt existiert für die meisten Bedürftigen nicht. Schlechte Aussichten also für die ägyptische Karitas.