Eine Reportage über die jüdische Gemeinde von Rhodos

»›Die Ziffern auf meinem Arm sind bloß eine Telefonnummer aus Rhodos‹, sagte meine Mutter«

Die jüdische Gemeinde auf Rhodos war einst ein Zentrum des Judentums in Südeuropa. Heute kämpft die kleine Gemeinde dafür, dass das Schicksal ihrer Vorfahren nicht vergessen wird. Einer, der sich engagiert, ist Isaac Habib. Wenn er von seiner Familie ­erzählt, schildert er auch die Geschichte der Juden von Rhodos und des Holocaust. Im nächsten Jahr will er mit einer Gedenkveranstaltung an den 70. Jahrestag der Deportationen erinnern.

Die jüdische Synagoge auf Rhodos liegt in einer kleinen Seitenstraße in der Altstadt, nur wenige Meter entfernt vom Trubel der Hauptstraße. Touristen verirren sich kaum in die Simmiou-Straße in Rhodos-Stadt. Eine unscheinbare Holztür mit einem Davidstern ist der Eingang zur Synagoge. Auf einer kleinen Tafel stehen die Öffnungszeiten und der Hinweis, dass die Kahal-Kadosh-Synagoge mit Mitteln der EU renoviert worden ist. Einst war die jüdische Gemeinde die größte des östlichen Mittelmeers. Heute verwaltet sie auf Rhodos vor allem ihr Erbe.
»Wir versuchen, die Gemeinde am Leben zu erhalten, so gut es geht, für die Juden von Rhodos, die ermordet wurden. Die Synagoge ist ein bisschen ihr Mausoleum«, sagt Isaac Habib. Der kleine Mann mit den grauen Haaren und dem gebräunten Gesicht ist einer von sechs freiwilligen Mitarbeitern, die die Besucher durch die Synagoge und das kleine angeschlossene Museum führen. Fünf jüdische Familien leben heute noch auf Rhodos, dazu kommen ein paar Freiwillige wie Isaac Habib, die einige Wochen im Jahr auf Rhodos verbringen. Habib lebt in Südafrika und besucht im Sommer die Insel, um sich um die Gemeinde zu kümmern, der seine Eltern angehörten.

Wenn Isaac Habib seine Familiengeschichte erzählt, dann erzählt er auch die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Rhodos. Aufgewachsen ist er im Kongo. Das erste Mal kam er 1966 als Teenager mit seiner Familie nach Rhodos. 1988 kam er allein, um das Haus seiner Familie zu suchen. »Der Grieche, der inzwischen in dem Haus wohnte, hat mich hereingelassen, das war ein sehr emotionaler Moment. Ich habe Bilder des Hauses an meine Eltern geschickt«, erzählt er. Vor acht Jahren kam Habib erneut auf die Insel: »Da haben sie gerade die Synagoge restauriert.« Seitdem ist er jedes Jahr auf die Insel gekommen. Und weil in den Büchern, die in den Touristen-Shops ausliegen, fast nichts über die Geschichte der Juden von Rhodos steht, sprach er Leute auf der Straße an und fragte, ob sie Interesse hätten, etwas über die Gemeinde zu erfahren. Heute arbeite er »professioneller«, meint er. Manchmal führt er Interessierte auch durch das ehemalige jüdische Viertel, die Juderia.

Vermutlich seit dem 3. Jahrhundert leben Juden auf Rhodos. Es war Benjamin de Tudela, spanischer Jude und Weltreisender, der im 12. Jahrhundert in seinem Reisetagebuch vermerkte, dass er in Jerusalem auf 200 Judengetroffen sei, aber in Rhodos auf 500. In den folgenden Jahrhunderten wuchs die Gemeinde, Rhodos wurde zu einem »Klein-Jerusalem«. Als die Türken 1522 die Insel eroberten, erkannten sie die Juden als religiöse Minderheit an. In den folgenden Jahrzehnten kamen Juden aus dem ganzen Mittelmeerraum, vor allem aber spanische Juden auf der Flucht vor der Inquisition. Die Kahal-Shalom-Synagoge wurde 1577 von den Sephardim errichtet, die schon bald die jüdische Gemeinde der Stadt dominierten. Es begannen 400 Jahre des relativen Wohlstands. Auf Rhodos lebten muslimische Türken, orthodoxe Griechen und sephardische Juden nebeneinander, verbunden waren sie vor allem durch Geschäftsbeziehungen. Es gab keine Mauern oder Tore zwischen den Vierteln der verschieden Bevölkerungsgruppen. »Die Leute haben sich einfach hin- und herbewegt«, beschreibt Habib die Welt, in die seine Eltern hineingeboren wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten Schätzungen zufolge 4 000 bis 6 000 Juden auf der Insel, die damals 30 000 Einwohner zählte.
Seit dem Ende des Türkisch-italienischen Krieges 1912 standen Rhodos und die umliegenden Inseln des Dodekanes unter italienischer Herrschaft. Doch zunächst änderte sich wenig für die jüdische Bevölkerung auf der Insel. 1928 wurde auf Betreiben des italienischen Gouverneurs Mario Lago eine Rabbiner-Schule eröffnet, die den Ruf von Rhodos als Zentrum jüdischen Lebens festigte. Die Zeitung El Boletin berichtete über das Gemeindeleben in Landino. Fotos aus der Zeit zeigen geschäftiges Straßenleben, junge Frauen im Sommerkleid beim Picknick, Männer mit Akkordeon. Die »landlosen« Juden nahmen auch auf Rhodos die Staatsbürgerschaft der »Eroberer« an, als die Italiener die Insel 1912 einnahmen. Habibs Vater Gershon Habib leistete Militärdienst in der italienischen Armee, kämpfte für Mussolini in Äthiopien und wurde mit der italienischen Staatsbürgerschaft belohnt.
Doch auch die jüdische Gemeinde in Rhodos litt unter dem Problem des griechischen Insellebens: der Armut. Wie viele auf dem Festland lebende Griechen suchten auch immer mehr auf Rhodos lebende Juden ihr Glück in Amerika oder Afrika. »Simbabwe und der Kongo hießen die Menschen willkommen, weil sie helfen konnten, ihre Wirtschaft zu entwickeln. Sie brauchten uns«, erklärt Issac Habib. Sein Vater Guershon Habib emigrierte zu dieser Zeit in den Kongo, er arbeitete erst für ein großes Unternehmen, machte dann seine eigene kleine Firma auf, die Fahrräder produzierte. Viele aus Rhodos emigrierte Juden waren bald so erfolgreich, dass sie ihre Familien nachholen konnten. Auch zwei der vier Schwestern von Habibs Mutter Lucia Capelluto gingen nach Afrika. »Dann begann der Zweite Weltkrieg und die Leute waren gefangen auf Rhodos«, erzählt Habib.
Infolge der Politik Mussolinis änderte sich die gesellschaftliche Situation auf der Insel. 1940 trat Mussolini in den Krieg ein. Doch weil die schlecht ausgerüstete italienische Armee bald überall auf dem Rückzug war, wurden zu ihrer Unterstützung Truppen der Wehrmacht auch auf die griechischen Inseln verlegt, eine 9 000 Mann starke Garnison nach Rhodos. Die überrannte und internierte die 40 000 italienischen Soldaten, die auf der Insel stationiert waren, als Mussolini 1943 kapitulierte.
Während im Sommer 1944 die Vernichtung der europäischen Juden geplant wurde, wähnte sich die Gemeinde von Rhodos in Sicherheit. Die Deportationen begannen plötzlich, überraschend, ohne Warnung. Am 18. Juli erging die Order, dass alle männlichen Juden über 16 Jahren sich am nächsten Tag mit Ausweis und Arbeitserlaubnis vor dem ehemaligen Gebäude des italienischen Luftwaffenkommandos einzufinden hätten. Sie wurden im Keller der Kommandatur eingesperrt. Tags darauf mussten sich auch Frauen und Kinder in der ehemaligen Kommandatur einfinden, andernfalls, so drohte man ihnen, würden ihre Ehemänner erschossen. Drei Tage später, um vier Uhr morgens, wurden 1 673 Juden unter dem Geheul der Sirenen der Luftabwehr durch die menschenleeren Straßen der Altstadt zum Hafen in drei alte Frachtboote gebracht. Über Tilos, Leros und Samos erreichten die Boote am 31. Juli Piräus. Bereits auf der Überfahrt gab es die ersten Todesopfer auf den überfüllten Booten.
Issac Habibs Großmutter sowie seine Mutter Lucia Capelluto und ihre beiden Schwestern Rachel und Mathilde gehörten zu den Deportierten. Von den vier Frauen seiner Familie überlebte nur seine Mutter Lucia den Holocaust. Sie war eine von 151 Überlebenden der 1 700 deportierten Juden und Jüdinnen von Rhodos. Ihre Geschichte vertraute sie 1946 der Helferin Lina Galasso an, während sie in Rom darauf wartete, dass jüdische Hilfsorganisationen sie zu Verwandten nach Afrika bringen. Galasso, eine Lehrerin und Christin mit jüdischen Wurzeln, beherbergte Lucia Capelluto und vier andere Überlebende und schrieb mit großer Sorgfalt auf, was ihr die junge Frau erzählte. Die Niederschrift von Lucia Capellutos Geschichte wird heute in einer kleinen Broschüre unter dem Titel »Mein Leben in Auschwitz und Bergen-Belsen« in der Synagoge auf Rhodos verkauft.

Die Erinnerungen von Lucia Capelluto an die Verfolgung lassen sich in der Broschüre detailliert nachlesen: Schon bei der Ankunft in Piräus wären Mutter und Tochter beinahe getrennt worden. Ein Polizeioffizier zog Lucia von ihrer Mutter weg, aber sie flehte den Mann an, bei der Mutter bleiben zu dürfen. Kurz danach schubste ein italienischer Offizier sie in Richtung eines anderen Wagens: »Für einen Moment dachte ich schon, ich habe sie verloren.« Drei Tage später verließ ein Zug das Polizeihaftlager in Haidari nahe Athen. Jeweils 65 Juden aus Rhodos saßen zusammengepfercht in einem der Viehwaggons. Es war einer der letzten Züge mit Deportierten, der Haidari verließ.
Ihre Mutter verloren Lucia und ihre Schwestern endgültig auf der Rampe in Auschwitz am 16. August 1944, als die Waggons nach 13 Tagen im Vernichtungslager ankamen. »Noch im Zug wussten wir nicht, wo es hinging«, erzählte sie später. Nach Angaben des Historikers Joseph D. Alhadeff wurden fast 1 200 Juden noch am selben Tag vergast. Einen Monat nach Beginn der Deportationen war die Mehrheit der jüdischen Gemeinde ausgelöscht. Nur wenige Deportierte wurden für »arbeitstauglich« befunden, unter ihnen Lucia Capelluto und ihre Schwestern Rachel und Mathilde. In der Lagerhierarchie standen die Neuankömmlinge ganz unten, sie wurden geschlagen und gedemütigt. Am 4. Oktober 1944 starb Mathilde Capelluto, krank, gebrochen, verwirrt. Für Lucia und ihre Schwester Rachel begann eine Odyssee durch verschiedene Lager, die am 22. Dezember 1944 in Bergen-Belsen endete.
Als die Briten Bergen-Belsen am 14. April 1945 befreiten, lebten nur noch 16 der 100 Mädchen aus Rhodos. »Wir wogen 30 Kilogram, waren Haut und Knochen«, erzählte Lucia ihrer Helferin. Auf offenen Lastwagen wurden die Überlebenden nach Celle gebracht. Lucias Schwester Rachel starb völlig entkräftet zwei Monate später an den Folgen der Lagerhaft. Als Lucia Capelluto und einige andere Mädchen aus Rhodos sich ein wenig erholt hatten, gaben sie sich als Frauen englischer Offiziere aus, schlugen sie sich bis an die italienische Grenze und schließlich nach Rom durch, wo sie ihre Helferin Lina Galasso trafen. Ihre Odyssee durch Europa hatte hier ein Ende, Verwandte gaben ihr Geld, damit sie die Überfahrt nach Afrika bezahlen konnte.

Mit ihrem Sohn Isaac redete die Mutter, die nach ihrer Heirat Lucia Habib hieß, zwar nur selten über ihre Vergangenheit, dennoch war der Holocaust auch für den jungen Isaac ein Thema. Er erinnert sich an den Moment, als er seine Mutter zum ersten Mal nach ihrer KZ-Nummer fragte. Damals war er sechs Jahre alt und die Familie lebte im Kongo. »Ich saß neben ihrem Schaukelstuhl und habe sie gefragt: ›Was ist das für eine Nummer auf deinem Arm‹, und meine Mutter sagte, die Ziffern seien bloß ihre alte Telefonnummer aus Rhodos. Ich habe mir dann unsere kongolesische Telefonnummer auf den Arm gemalt und bin damit in die Schule gegangen«, erinnert sich Habib. »An diesem Tag hatten wir auch Hebräischunterricht und der Lehrer schrie mich an. Das war mein erster Kontakt mit dem Thema.«
Auch später erfuhr er nicht viel von seiner Mutter. Seine Mutter habe eher über das Thema gesprochen, wenn sie mit anderen Überlebenden zusammensaß. »In dem Haus in Kapstadt, das wir nach unserem Umzug nach Südafrika bewohnten, gab es vier jüdische Familien aus Rhodos. Drei von vier waren Überlebende, manchmal haben sie sich erinnert, und ich hörte einfach zu. Ich hatte nie die Courage, zu fragen: ›Erzählt mir mehr‹«, sagt Habib heute. Seine Mutter starb 2003 im Alter von 77 Jahren, sein Vater ein halbes Jahr später im Alter von 92. Habib, der als Lehrer in Johannesburg tätig ist, versucht, die Lücken in seiner Familiengeschichte zu schließen, etwa die Frage, was mit seiner Tante Rachel geschah: »Ich habe mich immer gewundert, warum ich nichts darüber in den Archiven gefunden habe. Dann hat mir jemand in einem deutschen Archiv geholfen und tatsächlich das Sterbedatum und den Namen des Krankenhauses herausgefunden.« Offenbar hatte man ihren Name falsch geschrieben und sie als eine »Capulutora« geführt.

Heute leben wieder Juden auf Rhodos. Es war die jüdische Gemeinde aus Athen, die in den fünfziger Jahren einige Familien nach Rhodos schickte, um die Gemeinde in Rhodos neu zu gründen. Griechisch sprechende Juden, keine Sephardim »mit anderen Bräuchen«, wie Habib erzählt. Ende der siebziger Jahre verließen viele Familien die Insel. Heute hat die Gemeinde keinen Rabbi mehr, trotzdem gibt es Gottesdienste an Freitagabenden, vor allem im Sommer. An Rosh Ashanah und Yom Kippur werden Geistliche aus Israel und den USA eingeflogen, offiziell ist die Kahal Kadosh damit die älteste Synagoge Griechenlands. Doch die Gemeinde ist nicht groß genug, um autonom zu sein, sondern ist direkt abhängig vom Zentralkomitee der jüdischen Gemeinden in Griechenland in Athen. Fünf jüdische Familien leben auf Rhodos und ihre Mitglieder sind alle über 50 Jahre alt.
»Simon ist der einzige Junge, der noch übrig geblieben ist und manchmal in der Synagoge hilft. Die Jungen gehen weg, um zu studieren, so wie meine Tochter«, erzählt Carmen Cohen. Sie ist Direktorin der jüdischen Gemeinde und »Mädchen für alles«, wie sie sagt. Cohen kam aus Thessaloniki nach Rhodos und koordiniert im Sommer die Arbeit der Freiwilligen. Sie kümmert sich um den Friedhof, die Community, die Synagoge, das Museum, um Hochzeiten, Bar-Mitzvas und Begräbnisse. Im Winter ist nicht viel los auf Rhodos, in der jüdischen Gemeinde noch weniger.
In gewisser Weise seien die Touristen die Rettung der Gemeinde, sagt Habib. Die Kosten für die Renovierung der Synagoge hat die Europäische Union zu 75 Prozent übernommen, der Rest kam vom griechischen Staat. Den Unterhalt übernehmen die Gemeinde und private Spender. Vor allem die Touristen der Nebensaison, die nicht nur Strand, Souvlaki und Ouzo wollen, würden die Synagoge besuchen und Geld spenden, erzählt er. Die lokale Politik mache eher Witze von wegen »Die Juden haben immer Geld«, meint Cohen: »Sie denken, wir brauchen keine Unterstützung.« Zur orthodoxen Kirche vor Ort gebe es kaum Kontakte. »Wenn sie die Menschen in Rhodos danach fragen, was sie über Juden auf der Insel wissen, werden ihnen die meisten sagen: keine Ahnung«, so Cohen. Dabei sei das Judentum doch Teil der lokalen Geschichte und es sei doch wichtig zu betonen, dass auf dieser Insel Vertreter aller drei großen Religionen gelebt haben.
Wie es für die Gemeinde weitergeht, wissen Isaac Habib und Carmen Cohen nicht. »Ein großes Fragezeichen«, sagt Habib. Aber es gibt Pläne für das neue Jahr. Für 2014 planen sie eine große Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Deportation. »Ich habe eine Einladung herumgeschickt mit allen Zahlen: ›1 700 wurden deportiert. Stellt euch vor, 1 700 kommen! 1 100 wurden vergast. Stellt euch vor, 1 100 kommen! 600 wurden zur Zwangsarbeit und zum Weiterleben ausgewählt. Stellt euch vor, wir werden 600 sein! 151 haben überlebt. Stellt euch vor, wir werden 151 sein!‹« Aus allen Ecken der Welt haben sich bereits Menschen auf die Einladung gemeldet. »Sie schreiben: Wir kommen, wir kommen, wir kommen«, sagt Habib. »Und darauf hoffe ich wirklich.«