Wie der Zapatismus die Kultur- und Sozialtheorie beeinflusst hat

Ab in die Schule

Der Zapatismus veränderte die transnationale Wissensproduktion und beeinflusst akademische Kultur- und Sozialtheorien.

Entwicklungshilfe einmal anders: Geladene Gäste kommen in den lakandonischen Urwald und lassen sich das zapatistische Verständnis von Freiheit erklären. Diese Schulung, bei der die Eingeladenen auch am Alltagsleben ihrer Lehrerinnen und Lehrer teilnehmen, fand zum Jahreswechsel das zweite Mal statt. Sie firmiert unter dem Namen »Kleine Zapatistische Schule« (Escuelita Zapatista). Bereits im August 2013 waren über 1 500 Menschen in die von den Zapatistas kontrollierten Gebiete auf Bildungsreise gegangen.
Der Dschungel im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas ist das Rückzugsgebiet der zapatistischen Bewegung. Die Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN) hatte vor genau 20 Jahren, am 1. Januar 1994, ihren bewaffneten Aufstand begonnen. Benannt ist sie nach Emiliano Zapata, einem der Anführer der Mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Mit dieser Bezugnahme wird an die uneingelösten Versprechen jener grundsätzlichen Umstrukturierung von Staat und Gesellschaft gemahnt. Gefordert werden gerechte Landverteilung, das Ende der rassistischen Diskriminierung der indigenen Bevöl­kerung und die Abschaffung der Armut, von der mehr als die Hälfte der Mexikanerinnen und Mexikaner betroffen ist.

Die meisten Probleme, die vor 20 Jahren zur ­Besetzung von Ländereien und der Eroberung mehrerer Städte durch den EZLN geführt hatten, bestehen weiterhin. Sogar die alte Staatspartei, die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die Mexiko von 1929 bis 2000 regierte, ist seit Ende 2012 wieder an der Regierung. Und doch hat sich seit 1994 viel getan. Nach Verhandlungen zwischen der Guerilla EZLN und der damaligen Regierung wurden 1996 die Verträge von San Andrés geschlossen. Keine Bundesregierung setzte allerdings die darin vereinbarten Rechte auf Autonomie für indigene Gemeinden um. 2003 beschlossen die Zapatistas, dies selbst in die Hand zu nehmen: Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Handel werden seitdem jenseits staatlicher Regulierung und Unterstützung organisiert. Damit einher gingen auch bewegungsinterne Umstrukturierungen. Dabei zog sich der militärische Flügel stark zurück, die Gemeinden selbst trafen fortan die Entscheidungen.
Die Organisation des Alltags Zehntausender Menschen in Chiapas ist aber nur eine Ebene zapatistischer Politik. Eine andere sind die verschiedenen Mobilisierungskampagnen, die die Bewegung in den vergangenen zwei Dekaden auf die Beine gestellt haben und zu denen auch die »Kleine Zapatistische Schule« gehört. Diese Kampagnenpolitik ist in ihrer Vielfalt beispiellos. Sie erklärt auch den enormen Zuspruch, die der Zapatismus vor allem in den neunziger und frühen nuller Jahren weltweit erfuhr.
Frühe Höhepunkte waren die »Intergalaktischen Treffen«, die 1996 in Chiapas und 1997 in Spanien mit jeweils rund 5 000 Teilnehmenden stattfanden. 2001 tourte die Kommandantur des EZLN in einer Buskarawane durch zwölf mexikanische Bundesstaaten nach Mexiko-Stadt, begleitet von 2 000 Unterstützerinnen und Unterstützern. Als basisdemokratische Initiative gegen die Präsidentschaftswahl wurde 2006 die »Andere Kampagne« ins Leben gerufen, der sich etwa 1 000 Organisationen in Mexiko anschlossen. Die Wahlabstinenz der »Anderen Kampagne« rief ­allerdings auch viel Kritik und Unverständnis hervor. Denn 2006 war auch der linke Sozialdemokrat Andrés Manuel López Obrador ein aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, auf den viele Linke ihre Hoffnungen setzten. Er verlor die Wahl gegen den Konservativen Felipe Calderón, viele gaben den Zapatistas die Schuld. Zum Wahlboykott hatten sie allerdings nicht aufgerufen und auch mit den Ungereimtheiten bei der Stimmenauszählung hatten diese nichts zu tun.
Die Zapatistas blieben ihrer basisdemokratischen, libertären Linie treu. Der charismatische Sprecher der EZLN, Subcomandante Marcos, zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, den Fokus der Arbeit bildete zunehmend der Aufbau der Autonomie. Die mehrfach totgesagte Bewegung überraschte jedoch erneut: Im Dezember 2012, anlässlich des angeblich von ihren Maya-Vorfahren vorausgesagten Weltendes, marschierten 40 000 Maskierte schweigend durch sechs chiapanekische Städte. Hatten die Zapatistas sich 1994 maskiert, um endlich gesehen zu werden, schwiegen sie nun, um sich weiterhin Gehör zu verschaffen.

Gehört wurden sie schließlich nicht nur in der globalisierungskritischen Bewegung und anderen Initiativen, die sich gegen neoliberale Politik wandten. Auch in den akademischen Kultur- und Sozialtheorien wurde der Zapatismus verschiedentlich rezipiert. Der Politikwissenschaftler John Holloway, der in seinem viel diskutierten Buch »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen« ein paar zapatistische Grundlagen mit marxistischer Theorie kreuzt, ist dafür nur das bekannteste Beispiel. Auch der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug diskutierte die zapatistischen Strategien 1997 als Auslöser und Teil einer globalen »Wiedergewinnung linker Initiative und Handlungsfähigkeit«. Er hob dabei Witz und Poesie, die sich in den »Verlautbarungen aus dem lakandonischen Urwald« häufig finden, als besondere Waffen im Kampf um das Denken der Menschen hervor. Auch der Literaturwissenschaftler und Theoretiker der Dekolonisierung, Walter D. Mignolo, sieht zapatistische Praktiken als wegweisend an. Sie hätten durch die Verknüpfung von indigener Kosmologie und undogmatischem Marxismus einen »epistemischen Bruch« hervorgerufen, einen grundsätzlichen Wandel in der Art und Weise, wie Politik zu denken sei. Étienne Balibar, Philosoph und Schüler Louis Althussers, beschreibt die zapatistischen Forderungen als prototypisch für jene nach einem »Recht auf Rechte«, das Marginalisierte in aller Welt immer stärker formulieren würden.
Dass dem Aufstand von 1994 ein »Revolutionäres Frauengesetz« (1993) vorausging, nahmen wiederum viele Feministinnen zum Anlass, die Signalwirkung des Zapatismus zu betonen. Auch wenn in dem Gesetz vor allem Grundrechte, wie das auf freie Partnerwahl, verankert wurden, bestand die grundsätzlichere Botschaft doch darin, mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit in den Geschlechterverhältnissen beginnen zu müssen, wenn man es mit der Revolution ernst meine. Feministische Ökonominnen wie Silvia Federici heben über den Bruch mit patriarchaler Ordnung hinaus weitere Pionierleistungen der Zapatistas hervor. So markiere etwa der zapatistische Widerstand gegen die Aufhebung der verfassungsmäßigen Garantie von Gemeindeland den Auftakt für eine Auseinandersetzung um Commons in der radikalen Linken.
Der Aufstand einer indigen und bäuerlich geprägten Bewegung faszinierte linke Wissenschaftler nicht nur als Gegenstand. Der Zapatismus wurde selbst zum Akteur, zur theoriebildenden Kraft. So ist die Escuelita Zapatista auch symbolischer Ausdruck einer transnationalen Wissensproduktion, von den südmexikanischen Maisfeldern hinein in die akademischen Kultur- und Sozialtheorien. Statt gemäß der Modernisierungs- und Entwicklungslogik von Norden nach Süden und von der Stadt aufs Land fließt das Wissen hier kreuz und quer. Das ist nicht unbedingt die wichtigste Leistung des Zapatismus, aber eine überraschende und nicht selbstverständliche.
Währenddessen bleiben die zapatistischen Gebiete von rund einem Drittel der mexikanischen Armee umstellt. Die Verarmung der Kleinbauern wird durch den Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (Nafta), dessen Inkrafttreten 1994 Anlass des Aufstands war, weiter verschärft und treibt vor allem junge Menschen aus den nach wie vor armen südlichen Bundesstaaten zur Flucht.