Die Debatte um den Mindestlohn

Der geschenkte Gaul

In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich SPD, CDU und CSU auf die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns geeinigt. Nun fordern die Unionsparteien Ausnahmeregelungen. Sollten sie sich damit durchsetzen, hätten 37 Prozent der Geringverdiener keinen Anspruch auf den Mindestlohn.

Die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns war lange Zeit eine wesentliche Forderung der »Linken« und des fortschrittlicheren Flügels der DGB-Gewerkschaften. Die Linkspartei bestritt in den Anfängen ihrer Existenz mit diesem Anliegen ganze Wahlkämpfe. Die SPD, die sich durch die Agenda 2010 mit der Einführung der Hartz-Gesetze und der Rente mit 67 scheinbar endgültig diskreditiert hatte, tat das Thema Mindestlohn, das eigentlich als sozialdemokratische Selbstverständlichkeit hätte gelten müssen, als billige Provokation ab. Nach der Bundestagswahl 2009, bei der die Partei ihr historisch schlechtestes Ergebnis erzielte und daraufhin vier bittere Jahre in der Opposition verbringen musste, reifte bei der SPD die Erkenntnis, dass es sich eine Partei, deren Dasein immer noch davon abhängt, von der Öffentlichkeit als der »Arbeitnehmerflügel der Gesellschaft« angesehen zu werden, nicht leisten kann, große Teile ihrer Wählerschaft und deren Anliegen links liegen zu lassen.
Folgerichtig schaffte es die Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, die auch als schärfste Abgrenzung zur schwarz-gelben Koalition verstanden werden sollte, über die Gewerkschaften und den demoralisierten »linken« Flügel ins Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl 2013. Allerdings setzte sich dabei nicht ein Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde durch, wie ihn soziale Bewegungen und Teile der Linkspartei gefordert hatten, sondern die vom DGB befürworteten 8,50 Euro pro Stunde. Ein solcher Stundenlohn dürfte kaum dazu geeignet sein, ein Arbeitseinkommen zu sichern, das wesentlich über den ALG-II-Regelsätzen liegt. Aber für die gegenwärtige SPD-Führung unter Gabriel war die Symbolik dieser Forderung das Entscheidende, um das Image der Partei aus der Ära von Gerhard Schröder loszuwerden, in der die Schaffung eines großen Niedriglohnsektors entscheidend dazu beigetragen hatte, den Preis der Ware Arbeitskraft für Millionen Lohnabhängige unter die Reproduktionskosten sinken zu lassen.

Entsprechend wichtig war es für die SPD-Führung denn auch, in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU ihre Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Wäre sie damit gescheitert, hätte weder den ei­genen Parteimitgliedern noch den relevanten Sektoren der Gesellschaft eine Regierungsbeteiligung der SPD vermittelt werden können. Der Verhandlungsdelegation der CDU war das bewusst, zumal die CDU-Führung – taktisch nicht ungeschickt – bereits auf ihrem Leipziger Parteitag 2011 von ihrer bis dahin starren Ablehnung abgerückt war und die Einführung zumindest regionaler und branchenbezogener »Lohnuntergrenzen« in Aussicht gestellt hatte, um der erwartbaren SPD-Kampagne zum Mindestlohn den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ob es sich dabei um eine branchenübergreifende gesetzliche Regelung oder eine branchenbezogene, von den Tarifparteien auszuhandelnde Übereinkunft mit ­allerlei regionalen Öffnungsklauseln handeln würde, war in den vergangenen zwei Jahren die eigentliche Kontroverse, die immer schon mit Blick auf die Zeit nach der Bundestagswahl geführt wurde. Der Absturz der FDP war vorhersehbar, entsprechend galt die Große Koalition als wahrscheinlich.
Auf den ersten Blick hat die SPD bei den Koalitionsverhandlungen diese für sie unverzichtbare Forderung durchgesetzt. Dafür hat sie einen hohen Preis gezahlt: Mütterrente, Betreuungsgeld, PKW-Maut für ausländische Fahrzeuge, einen schlechten Kompromiss bei der doppelten Staatsbürgerschaft und der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. All das findet sich im Koalitionsvertrag von SPD, CDU und CSU. Und auch was den Mindestlohn betrifft, gewinnt man schon bei der oberflächlichen Lek­türe den Eindruck, dass die am Ende erzielte Einigung nicht viel mehr als Symbolpolitik beinhaltet. Der Koalitionsvertrag sieht zwar tatsächlich einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro vor, doch flächendeckend wird dieser erst ab dem 1. Januar 2017 in Kraft treten. Tarifverträge mit geringeren Löhnen gelten bis dahin weiter. Selbst Tarifverträge, die bis dahin neu abgeschlossen werden, können den Mindestlohn noch unterschreiten. Nur Beschäftigte, die nicht tariflich bezahlt werden, erhalten »schon« ab dem 1. Januar 2015 den gesetzlichen Mindestlohn.

In den Reihen von CDU und CSU mehren sich nun Stimmen, die umfassende Ausnahmeregelungen fordern, mit dem Argument, für bestimmte Gruppen sollte die Mindestlohnregelung nicht gelten, weil sie sich nur eine Art Zubrot verdienen: Minijobber, Rentner, Schüler, Studierende und hinzuverdienende Arbeitslose. Wenn sich die Union damit durchsetzt, würde die Mindestlohn­regelung zur Farce, wie eine Analyse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt. Im Jahr 2012 lag der Stundenlohn von rund 5,25 Millionen Beschäftigten unterhalb von 8,50 Euro. Gälte der Mindestlohn nicht für Minijobber, Rentner, Schüler, Studierende und hinzuverdienende Arbeitslose, würden zwei Millionen Menschen nicht vom Mindestlohn profitieren, das sind 37 Prozent der Geringverdiener. Ohne Ausnahmen für geringfügig Beschäftigte wäre immer noch fast ein Viertel der Geringverdiener betroffen. Perfide ist, dass beispielsweise das vermeintliche Zubrot für den großen Teil der arbeitende Studierenden das hauptsächliche Einkommen darstellt und es sich bei den »hinzuverdienenden Arbeitslosen« oft schlicht um sogenannte Aufstocker handelt, die als Erwerbstätige ergänzend ALG II beziehen müssen, weil ihre Löhne unterhalb des ALG-II-Regelsatzes zuzüglich ihrer Mietkosten liegen.
Die Ausnahmen würden sich der Studie des WSI zufolge auf einige wenige Branchen konzentrieren: Knapp 56 Prozent aller Minijobber und 52 Prozent aller erwerbstätigen Rentner, Schüler und Studierenden, die Stundenlöhne unter 8,50 Euro erhalten, arbeiten im Gastgewerbe, im Einzelhandel oder im unternehmensnahen Dienstleistungsbereich. Hinzu kommen noch die »sonstigen Dienstleistungen« wie beispielsweise Wäschereien oder das Friseurgewerbe. In diesen vier Branchen sind von denjenigen, die weniger als den Mindestlohn verdienen, zwischen 35 und 40 Prozent geringfügig beschäftigt und zwischen sieben und 25 Prozent Rentner, Schüler oder Studenten. Zudem warnt das WSI vor der Gefahr erheblicher Verdrängungs- und Substitutions­effekte. Unternehmen könnten Beschäftigte mit Mindestlohn durch solche ohne Mindestlohn ­ersetzen. Und schließlich betonen die Autoren der Studie die beispielgebende Kraft, die es hätte, wenn bestimmte Branchen beim Mindestlohn faktisch ausgeklammert bleiben, in denen ein besonders hoher Anteil der Beschäftigten nicht von ihm profitieren würde. Denn bald würden Unternehmer in immer mehr Branchen vergleichbare Ausnahmeregelungen fordern. Absehbar wäre demzufolge, dass es irgendwann auch zu ganz förmlichen Ausnahmeregelungen nicht nur für Beschäftigtengruppen, sondern für Branchen und womöglich Regionen kommen würde.

In der vergangenen Woche warnten bereits die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einem Gutachten vor Ausnahmen beim Mindestlohn. Sie könnten gegen den Verfassungsgrundsatz verstoßen, alle Menschen gleich zu behandeln. Bei Praktikanten, Auszubildenden und Ehrenamtlichen sieht man dort verfassungsrechtlich jedoch kein Problem. Politisch dürfte die Bewertung anders ausfallen, schließlich haben die Ausweitung von Praktika, die Zunahme »ehrenamtlicher« Billiglohnjobs in der Sozialarbeit und im Pflegebereich, der Anstieg formell freiberuf­licher Beschäftigungsformen und der Trend zu Werkverträgen einen wesentlichen Beitrag zur Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt geleistet. In der Debatte um den Mindestlohn wurden solche Beschäftigungsverhältnisse jedoch weitgehend ausgeblendet und bleiben von jeglichen Mindestlohnregelungen unberührt. Die vermeintlich kritischen Anmerkungen, die im Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages fallen, erweisen sich bei näherer Betrachtung eher als sanfte Formulierungshilfen für die politischen Entscheidungsträger. Denn der Gesetzgeber darf dem Gutachten zufolge durchaus Arbeitnehmer von der Mindestlohnregelung ausnehmen, wenn er die Ausnahme mit »übergeordneten arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Erwägungen« begründen kann. Als mögliche Gründe nennt das Gutachten den Wegfall von Arbeitsplätzen, Wettbewerbseinbußen oder das Abwandern von Arbeitsplätzen in die Schattenwirtschaft. Das sind die gängigen Argumente, mit denen unternehmerfreundliche Maßnahmen stets begründet werden.
Auf einen anderen Aspekt, der den geplanten gesetzlichen Mindestlohn ins Zwielicht rückt, macht das unternehmernahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer neuen Studie aufmerksam. Angesichts der Lohnentwicklung, zumindest in tarifgebundenen Branchen, könnte die Zahl der Anspruchsberechtigten in den nächsten Jahren auch ohne die von der Union geforderten Ausnahmeregelungen deutlich sinken. »Mehr als 700 000 Arbeitnehmer verdienen aktuell zwischen acht und 8,50 Euro die Stunde. Setzt man Lohnsteigerungen von 2,3 Prozent wie zuletzt voraus, werden sie 2015 mehr als 8,50 Euro erhalten«, schreibt der Autor der Studie, der Volkswirt Karl Brenke. Das DIW erwähnt nicht, dass diese Lohnsteigerungen in absehbarer Zeit durch die Inflation getilgt werden dürften. Kaufkraftbereinigt wird sich an der Situation der Beschäftigten also nichts ändern, allein schon dadurch wird der gesetzliche Mindestlohn, wie er im Koalitionsvertrag steht, zu einer Lachnummer. Selbst dann, wenn die Forderungen der Union nach Ausnahmereglungen von der SPD heroisch abgeschmettert werden sollten.