Sotschi, der Sport und die Politik

Bunte Fingernägel unerwünscht

Mit der ehemaligen Tennisspielerin Billie Jean King hat Barack Obama eine lesbische Vorkämpferin für die Rechte der Athleten in die US-Delegation für Sotschi berufen. Sie wünscht sich für die Spiele ein deutliches Zeichen gegen Homophobie. Politische Äußerungen sind den Sportlern jedoch untersagt.

Ein Boykott findet nicht statt – auch wenn vor einem Sportereignis selten so viel darüber diskutiert wurde, ob man den Spielen nicht aus politischen Gründen fernbleiben sollte. Stattdessen werden 90 Nationen voraussichtlich 2 866 Sportler ins russische Sotschi schicken. Ein Rekord.
Zumindest eine will die Spiele boykottieren: Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und für Justiz zuständige EU-Kommissarin, begründete ihre Absage auf Twitter politisch: »Ich werde sicher nicht nach Sotschi fahren, solange Minderheiten auf diese Weise von der derzeitigen russischen Regierung behandelt werden.« Reding bezieht sich auf die russischen Gesetze, die »homosexuelle Propaganda« verbieten. Der britische Autor und Comedian Stephen Fry wählte einen höchst strittigen Vergleich und erinnerte an die Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin, die von Deutschland zu Propagandazwecken genutzt wurden. »Putin wiederholt auf unheimliche Weise diese wahnsinnigen Verbrechen – nur dieses Mal gegen LGBT-Russen«, erklärte Fry in einem offenen Brief.
Die übliche Antwort auf Boykottforderungen lautet, man müsse zwischen Sport und Politik unterscheiden. Fry betont: »Wir sollten uns klarmachen, dass Sport Kultur ist. Er existiert nicht in einem Freiraum außerhalb von Gesellschaft oder Politik.« Das aber behauptet mittlerweile auch niemand mehr, der Wert darauf legt, ernst genommen zu werden – außer von IOC-Präsident Thomas Bach und deutschen Sportjournalisten hört man den Satz nur noch selten.
Ein deutliches politisches Zeichen setzte US-Präsident Barack Obama. Er bleibt den Spielen ohne Begründung fern – wie auch Joachim Gauck und François Hollande ohne offizielle Begründung nicht nach Sotschi reisen werden –, berief aber die frühere Profitennisspielerin Billie Jean King, die offen lesbisch lebt, in die US-Delegation für Sotschi. Auch die lesbische Eishockeyspielerin Caitlin Cahow, die bei Olympischen Spielen bereits Bronze und Silber gewann, repräsentiert die USA in Sotschi, ebenso Brian Boitano, 1988 Olympiasieger im Eiskunstlauf, der sich unmittelbar nach seiner Berufung in die Delegation outete. Wie wirkungsvoll Obamas Geste ist, muss die Zukunft zeigen.
Billie Jean King ist nicht nur eine »lesbische Tennislegende«, wie sie hierzulande gerne tituliert wird, sondern eine Kämpferin für die Rechte der Athleten. Sportgeschichte schrieb die sechsmalige Wimbledon-Siegerin 1973 im »Battle of the Sexes«, einem Tennisschauturnier, bei dem sie den zwar schon 55 Jahre alten, aber um so arroganter wirkenden früheren Wimbledon-Sieger Bobby Riggs schlagen konnte. Riggs hatte zuvor getönt: »Sie ist eine stärkere Sportlerin als ich und sie spielt variantenreicher. Aber wenn der Druck groß ist und sie an die 50 Millionen Zuschauer denkt, die das Spiel sehen, dann bricht sie ein. So sind Frauen.« Das Match bekam die von Riggs gewünschte Rekordkulisse, aber King siegte 6:4, 6:3, 6:3.
King hat als Gründerin der Tennisspielerinnengewerkschaft WTA erfolgreich dafür gekämpft, dass die Preis- und Antrittsgelder der Spielerinnen an die Sätze für männliche Spieler angepasst werden. Zu ihrer Rolle in Sotschi sagt sie: »Ich hoffe, dass diese Olympischen Spiele wirklich zu einem Wendepunkt für die universelle Akzeptanz aller Menschen werden.« Caitlin Cahow engagiert sich in der »Principle 6«-Kampagne, in der Sportler für ihre Rechte kämpfen. Der Titel der Kampagne spielt auf Artikel sechs der Olympischen Charta an, wonach jede Form von Diskriminierung aus »rassischen, religiösen und politischen Gründen« oder aufgrund der sexuellen Orientierung nicht mit der Olympischen Bewegung vereinbar sind. Damit wollen die »Principle-6«-Akti­visten schwules und lesbisches Leben auch in Sotschi sichtbar machen.
King und Cahow stehen für eine Demokratisierung und Politisierung des Sports, die explizit von den Athleten selbst ausgeht. Das ist ­etwas anderes als eine bloße Inanspruchnahme homosexueller Sportler durch die offizielle Politik, wie es hierzulande gern dargestellt wird. »Obamas Geniestreich« titelte etwa die Frankfurter Rundschau und lobte den US-Präsidenten dafür, dass er »mit der Besetzung der US-Delegation den Sport zu einem Instrument seiner Außenpolitik gemacht« habe, ja, Kings Nominierung sei sogar »ein subtiles Zeichen der Missbilligung, dass Putin dem früheren NSA-Mitarbeiter Edward Snowden Asyl gewährt hat«. Dass Sportler, homosexuelle oder heterosexuelle, an gesellschaftlichen und politischen Diskussionen aktiv beteiligt sein könnten, wird dabei übersehen. So hieß es etwa in einem Beitrag auf FAZ Online, die USA verzichteten »auf hochran­gige Olympia-Besucher aus der Politik«, allerdings werde »die ehemalige Tennis-Größe und Schwulenrechtlerin Billie Jean King das Land repräsentieren.« Nicht nur die Bezeichnung »Schwulenrechtlerin« zeigt, wie unwichtig der Redaktion Sportler sind. Focus Online blamierte sich mit der Überschrift: »Obama schickt lesbischen Ex-Sportler nach Sotschi«.
Politische Äußerungen sind den Athleten während der Spiele untersagt. Wie repressiv diese Regelung vom IOC gehandhabt wird, wurde jüngst am Beispiel der schwedischen Hochspringerin Emma Green Tregaro deutlich. Tregaro hatte bei den Leichtathletik-WM in Moskau im vergangenen Jahr aus Solidarität mit Lesben und Schwulen in Russland ihre Fingernägel in den Regenbogenfarben lackiert. Solche Gesten hat das IOC für die Spiele in Sotschi untersagt, den Athleten droht andernfalls der Ausschluss von den Spielen. IOC-Präsident Bach erklärte, Athleten müssten davor geschützt werden, in politische Kontroversen verstrickt zu werden.
Nicht nur solche Regelungen sorgen dafür, dass es Sportlern schwergemacht wird, Gehör zu finden. Sportler, die ihre Interessen artikulieren, werden medial nicht beachtet – und auch von Journalisten ignoriert, die sonst gerne zugeben, dass Sport etwas mit Politik zu tun hat, die dabei aber an Parteien- und Regierungshandeln denken oder bestenfalls wünschen, Sportler sollten für irgendeine »gute« Sache, die an sie herangetragen wird, einstehen.
Billie Jean King steht für ein anderes Verständnis von Sport und Politik. Im September 2013 sagte sie: »Manchmal glaube ich, dass wir ein John-Carlos-Moment brauchen könnten.« Sie erinnerte damit an die bislang spektakulärste Protestaktion von Sportlern bei Olympischen Spielen: die schwarze Black-Panther-Faust von John Carlos und Tommy Smith bei der Siegerehrung des 200-Meter-Laufs in Mexiko 1968.
Die deutsche Fechterin Imke Duplitzer, die für die Grünen ins Europaparlament ziehen möchte und offen lesbisch lebt, sagte zu den Ängsten homosexueller Sportler, in Sotschi nicht frei leben zu können, die Sportler hätten »ja eigentlich auch eine Organisation, die für die Rahmenbedingungen sorgen sollte. Das IOC versagt allerdings komplett«. Die Eisschnellläuferin Jenny Wolf aus Berlin, die in Sotschi ihre Karriere als mehrfache Weltmeisterin und olympische Silbermedaillengewinnerin abschließen möchte, hofft, dass das IOC künftig »Großereignisse auch nach Kriterien wie der Einhaltung der Menschenrechte« vergibt.
Solche Einlassungen zeigen, dass es politische Diskussionen unter Sportlern durchaus gibt. Diese Athleten repräsentieren vor allem sich selbst und ihre sozialen, ökonomischen und politischen Interessen. So gesehen ist der Verzicht auf einen Boykott der Spiele in Sotschi zu begrüßen. Es geht darum, die Spiele zu nutzen, um Athletenrechte, die auch Menschenrechte sind, dort – und überall sonst – durchzusetzen.