Der Roman »London NW« von Zadie Smith

Keine Sonne über Caldwell

Zadie Smith schildert in ihrem neuen Roman »London NW« die Lebensgeschichten von vier ehemaligen Klassenkameraden.

Als Zadie Smith auf die Liste der 20 besten jungen britischen Autoren gesetzt wurde, war die Tochter eines englischen Vaters und einer jamaikanischen Mutter gerade 28. Man hat sie als neuen Rushdie, ja als neuen Dickens gefeiert. Und wie antwortet Smith auf so viel Lob? Mit einem tiefschwarzen Abgesang auf ihr Londoner Viertel.
Es ist das Jahr, in dem die Londoner in den Parks ungläubig in die Sonne blinzeln, weil am Himmel plötzlich die Flugzeuge fehlen. Der Vulkan Eyjafjallajökull hat in Island derart viel Asche ausgespuckt, dass auf den mehr als 1 800 Kilometer entfernten Britischen Inseln der Flugverkehr eingestellt werden muss. Ein denkwürdiges Himmelsspektakel für die Einwohner einer Metropole, die durch regen Handels- und Finanzverkehr mit allen Ecken der Welt verbunden ist. Dass sich in Europa kaum ein Ort hektischer, multikultureller und weltoffener zeigt, ist zu einem Klischee geworden. Und nun das: Die silbrigen Transportmittel, die den Austausch mit anderen Weltteilen bewerkstelligen, müssen am Boden bleiben. Angesichts des leergefegten Himmels fühlen sich die Londoner in eine vorindustrielle Zeit besinnlicher Stille zurückversetzt. Für ein paar Tage hat es den Anschein, als hätten die Vögel die Herrschaft am Himmel zurückerobert.
Magische Momente wie diesen nutzt Zadie Smith in ihrem Roman »London NW«, um ihre sonst oft atemlos verknappte Prosa voll ruppigem Slang und messerscharf eingefangenem Alltagsgebrabbel zum Innehalten zu zwingen. Diese Magie umfängt die Protagonistin Natalie Blake, die sich aufmacht, die makellose Ehe mit dem umwerfenden Ehemann Frank De Angelis durch heimliche Rendezvous mit im Internet aufgegabelten Sexpartnern aufzupeppen. In einer anderen Szene verlangsamt Smith das fiebrige Vorauseilen der Zeit, wenn sie von Natalies Freundin Leah Hanwell erzählt, die mitten in einem von Autos umtosten Stadtviertel ganz unverhofft auf ein Kirchlein aus dem 14. Jahrhundert stößt: »Eine mittelalterliche Dorfkirche, gestrandet auf diesem Viertelhek­tar inmitten eines Kreisverkehrs. Aus Zeit und Raum gefallen. Ein Kraftfeld heiterer Ruhe.«
Mit der Kirchentür, hinter der sich die Schwarze Madonna von Willesden verbirgt, stößt die von protestantischen Iren abstammende Leah zugleich eine Tür in die Vergangenheit der Metropole auf, in der die jungen Frauen aus ihrem Stadtteil nicht an Crack, sondern im Kindsbett starben. So verbindet Smith Gegenwart und Vergangenheit, wenn sie die Schicksale ihrer Helden Natalie Blake, Leah Hanwell, Felix Cooper und Nathan Bogle beleuchtet. Ihnen allen ist trotz ihres sehr unterschiedlichen sozioökonomischen Erfolgs gemeinsam, dass sie dieselbe Klasse einer Schule im tristen Caldwell besucht haben.
Fast hat man den Eindruck, Smith wolle sich mit den kontemplativen Passagen von dem ätzenden Vorwurf des Kritikers James Wood reinwaschen, ihrem aufgedrehten Realismus hafteten Symptome der Hysterie an. Doch niemand muss befürchten, dass die Autorin auf ihren Ausflügen in Kirchen ihren Biss verloren hat. Im Gegenteil: Nach wie vor ist es ihre Stärke, den Alltag jener unhippen Vorstädte zu sezieren, die nicht von bärtigen Hipstern mit Apple-Laptops, sondern von Pfandleihern und Poundshops bestimmt werden. Anders als in den Stadtteilen Dalston oder Shoreditch dominieren im unglamourösen Kilburn noch immer »weißer Stein, grüner Rasen, rötlicher Rost, grauer Schiefer, braune Scheiße«. Smith macht anschaulich, wie sich banale Konfliktsituationen in einer Atmosphäre extremer sozialer Ungleichheit zu Katastrophen auswachsen.
Da ist zum Beispiel die brillant geschilderte Szene auf einem Spielplatz. Ein junger Schwarzer zündet sich eine Zigarette an. Eine ältere weiße Dame reagiert empört. Natalie, Tochter einer jamaikanischen Einwanderin, die ihrem spielenden Kind zuschaut, eilt der Seniorin zu Hilfe. Mit einer schwarzen Rastafrau, die sich als Jugendsozialarbeiterin zu erkennen gibt, ist die Allianz gegen den uneinsichtigen Raucher perfekt: »Du bist der Grund, dass wir nicht weiter sind, als wir gerade sind.« Augenblicklich entwickelt sich ein Streit darüber, was man als schwarzer Londoner zu tun und zu lassen hat. Während der Raucher gedemütigt den Kopf einzieht, fühlt sich Natalie überschwemmt von einem Triumphgefühl, dass sie an ihre eloquenten Auftritte als Rechtsanwältin erinnert. Einmal hat sie bewiesen, dass sie die »Kokosnuss« ist: außen schwarz, innen weiß. Aber hat sie nicht bloß dabei geholfen, eine Selbstverständlichkeit durchzusetzen?
»London NW« ist voll mit prägnanten Szenen, in denen es um Klasse, Herkunft und Gender geht. Zu einem Leitmotiv entwickelt sich Leahs Begegnung mit der attraktiven Fixerin Shar, die ihr mit einer Schmonzette über ihre angeblich kranke Mutter 30 Pfund entlockt. So gering der Verlust ist, so nachhaltig nistet sich die Erfahrung doch in Leahs Gedankenwelt ein. Während ihre Mutter und ihr um sozialen Aufstieg bemühter Freund Michel fassungslos ihre Gutgläubigkeit verdammen, ist Leah hin- und hergerissen zwischen Zorn, Mitleid und sexueller Anziehung. Als sich Michel mit dem Zuhälter der Betrügerin anlegt, eskaliert der Streit. Mehr und mehr wird der kleinkriminelle Zwischenfall zur offenen Wunde in Leahs Leben. Fans von Paula Fox werden sich an die desaströsen Konsequenzen des berühmten Katzenbisses in »Was am Ende bleibt« erinnert fühlen.
Geographisch präzise nachvollziehbar ist der mehrstündige Stadtspaziergang in einem der letzten Kapitel, wenn Natalie ohne Schlüssel und Geld ihr durchgestyltes Haus in Queen’s Park verlässt, um Richtung Norden aufzubrechen. Allmählich machen die engen Straßen mit den viktorianischen verhutztelten Häuschen der Wildnis von Hampstead Heath Platz. Natalie gabelt unterwegs Nathan Bogle auf, einen ehemaligen Klassenkameraden, der in besseren Tagen blendend aussah und ein vielversprechender Fußballer war. Smith gönnt dem Junkie und der Anwältin lange Gespräche und einen gemeinsamen Joint. In der Sommerhitze entsteht eine vertraute Nähe, die in »London NW« selten ist. Nathan, der sonst nur eine Randfigur ist, bringt die Ungleichheit zwischen ihm und seiner Begleiterin auf den Punkt: »Und du gehst wieder heim zu deiner Kohle und deinem Leben, aber wo bleibt meine Kohle und mein Leben? Bleib du ruhig auf deiner Richterbank. (…) Was weißt du über mich? Null.« Nathans Zorn wird im englischen Original prägnant in den Textzeilen von »If I Ruled the World« von Nas gespiegelt. Dass der deutsche Verlag die Rechte für den Abdruck dieses New Yorker Rap-Songs nicht erwerben konnte, ist ein Jammer.
Smith ist erstaunlich streng mit ihren vier Helden aus Caldwell. Ständig hat man das Gefühl, sie wolle um jeden Preis gegen den Verdacht anschreiben, ein allzu geschöntes Bild des Londoner »Multiversums« abzuliefern. Am Schlimmsten trifft es am Ende Felix, einen jungen Mann voller Optimismus, der das Glück im Namen trägt. Dass das frühere Mathegenie Nathan mit einem Fuß bereits im Knast steht, ist absehbar. Doch auch Leah und Natalie müssen sich fragen, was sie bloß so ruiniert hat. Leah will die Zeit anhalten und um keinen Preis Kinder haben. Ihre Freundin, die neben ihren wohlgeratenen Sprösslingen und ihrem Mann mit lässiger Ralph-Lauren-Aura glänzend dasteht, fürchtet, ihre Wurzeln verloren zu haben. Es macht stutzig, wie hart Smith mit Natalie ins Gericht geht, die sich mit einer Namensänderung wie die Autorin selbst neu erfunden hat (aus Sadie wurde Zadie, aus Keisha Natalie). Ausblicke und Freiheit gönnt sie ihren Helden fast nie. Selbst der Blick von der Brücke bleibt fragmentarisch: »In einem Kästchen St. Paul’s. Im anderen die Gurke. Ein halber Baum.« Smith hat ein blendend beobachtetes Buch über London geschrieben, in dem trotz großer Hitze keine Sonne auf Caldwell scheint.

Zadie Smith: London NW. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 428 Seiten, 22,99 Euro