Das neue Album von The Notwist

Preferring not to twist

Mit ihrem Album »Close to the Glass« melden sich The Notwist zurück und bieten sich als vertraut antriebsschwache Begleitung an.

Es wird ja viel zu wenig darüber geredet, wo, wann und in welcher Situation wir Popmusik hören. Im öffentlichen Raum? Im öffentlichen Raum unter privaten Kopfhörern? Im Club? In der Kneipe? Zu Hause, aus großen Boxen? Zu Hause am Rechner? Tags, nachts, Tag und Nacht? Allein, zu zweit, in wie auch immer zusammengekommenen Gruppen? Auf Partys? Beim Essen, Trinken, Reden, Sex? Allein beim Lesen? Im Winter, im Sommer, bei Regen, Sonne, Schnee? Konzentriert zuhörend, laut? Im Hintergrund, bei der Hausarbeit, beim Kochen?
Dies ist der erste Jungle-World-Text über The Notwist. Erstaunlich, denn die Band aus dem oberbayerischen Weilheim existiert bereits seit dem Fall der Mauer, »Close to the Glass« ist ihr siebtes Album, und beim Jungle-World-Lesen habe ich es gern gehört, was noch kein Qualitätsmerkmal ist, ist doch von einem ARD-Intendanten der Satz überliefert, er wolle keine Musik im Radio hören, die ihn beim Zähneputzen stört. Hätte er gesagt, er würde sich nie die Zähne putzen, um seinen Hörgenuss nicht zu stören, er wäre nicht Intendant geworden. Durchschnittliche Jungle-World-Leser dürften sich von The Notwist weder beim Zähneputzen gestört fühlen, noch mit dem Zähneputzen aufhören, wenn The Notwist im Radio laufen. Die von der Band verantwortete Produktinformation formuliert das so: »Ihre Musik ist für viele zu einem vertrauten Begleiter geworden.« Ein fragwürdiges Kompliment, oder wartet irgendjemand freudig erregt auf die neue Platte eines vertrauten Begleiters? Fehlt nur noch das Wort »Urgestein«. Aber Notwist-Vertraute wissen schon, was gemeint ist mit dem »vertrauten Begleiter«, und sie wissen es zu schätzen.
Tatsächlich können sich Leute, die zwischen, sagen wir, 1965 und 1985 geboren sind, durch den vertrauten Begleiter The Notwist einer biographischen Kontinuität versichern und einen Lebensweg von der Jugend bis in die mittleren Jahre nachzeichnen. Die Band ist nie stehengeblieben und sie hat sich nie so schlagartig verändert, dass sie ihre Begleiter vor den Kopf gestoßen hätte.
The Notwist sind eine Containerband, sie haben die bedeutenden musikalischen Neuerungen der vergangenen 25 Jahre mit der ihnen eigenen Behutsamkeit inkorporiert. HipHop, zunächst die Beats, dann leibhaftige Rapper in Gestalt der US-Crew Themselves. Das gemeinsame Projekt der beiden Bands, 13 & God, brachte es auf zwei Alben beim Anticon-Label, die klingen wie nichts sonst auf der Welt. Techno, nicht four to the floor, sondern eher als Erweiterung der sonischen und technischen Möglichkeiten: »Analoge Schwermut mit digitalem Knistern« hätten sie verbunden, meinte die Süddeutsche Zeitung. Naja. Manchmal ist da mehr als bloß Knistern, mit »14 Zero Zero« landete Notwist-Allrounder Martin Gretschmann als Console einen kleinen Technopophit, der zur Zähneputzzeit im Radio lief.
Eine gewisse ort- und herkunftslose Schwermut umwölkt auch das neue Album, ohne dass man möglichen Ursachen auf den Grund gehen möchte; ich kenne jedenfalls niemanden, der bei The Notwist auf die Texte achten würde. Dass diese in englischer Sprache gesungen werden, begünstigt den Erfolg der Band im Rest der Welt und verhindert eine einseitig auf die Texte konzentrierte Rezeption. Markus Achers unverwechselbar unvirile, wenn nicht antivirile Stimme ist das markanteste Instrument des reichhaltigen Notwist-Sounds, sie verleiht selbst angriffslustigen Punkrocksongs eine friedfertige Müdigkeit und entschleunigt Uptempo-Nummern; da kommt die alte Schule von Dinosaur Jr. & Sebadoh durch. Schlaffes, aggressionsgebremstes Singen mit dem harten Wall-of-Guitars-Sound zu kombinieren, darin war J Mascis ein Meister. Überdies hat der Dinosaur Jr.-Sänger über die Jahrzehnte eine habituelle Antriebsschwäche kultiviert, die ihm den Ruf eines nicht allzu ergiebigen Interviewpartners einbrachte. Einmal hatte ich das Vergnügen, mit J Mascis zu reden; mit meinen 50 Fragen waren wir in sieben, acht Minuten durch.
Dinosaur Jr. und andere Musiker auf US-amerikanischen Labels wie Homestead, Touch & Go oder auch SST haben die jungen Notwists geprägt, in Sound & Politics, also Haltung, Ethos, Auftreten und solchen Dingen. Wir reden von den späteren Achtzigern, als Alternative Rock noch kein Industrieformat war und noch nicht entkoppelt von der Frage »Alternative zu was«? Als der Begriff Independent noch nicht zu »Indie« nebst integriertem Life-und-Konsumstyle verniedlicht, sondern als Unabhängigkeitserklärung gedacht war. 25, 30 Jahre später sind die meisten Musiker von damals verschwunden oder tot, der Rest verdient im Reunion-Modus etwas mehr (Sebadoh), deutlich mehr (Dinosaur Jr.) oder sehr viel mehr (Pixies) als in der Originalbesetzung. The Notwist sind geblieben, haben sich nie aufgelöst, stetig entwickelt und sind musikalisch heute auf einem anderen Planeten als ihre Vorbilder von einst, auch wenn sie mit »Kong« auf der neuen Platte einen – man verzeihe das Wort – Indierockfeger draufhaben, der es (fast) mit »Freakscene« aufnehmen könnte, wären die Zeiten nicht sowie, sie sind, und wäre da nicht dieses synthetische Fiepen, das dem Song eine aerodynamische Eight-Miles-High-Haftigkeit gibt (Byrds und Hüsker Dü zu gleichen Teilen). Zudem singt Markus Acher hier mindestens acht Meilen hoch, der junge Neil Young ist ein Dreck dagegen. »Höher und weiter« gilt für die Musik von The Notwist; mit jedem Hören erschließt sich das Album mehr, ohne dass sich erschließen würde, wie sie nun wieder diesen Schlenker hinbekommen haben. »Analoges Handwerk verbindet sich mit digitaler Finesse«, könnte die Süddeutsche Zeitung schrei­ben.
Ironischerweise ist das Notwistsche Fortschritts- und Differenzierungs-Paradigma elementarer Bestandteil ihrer wertkonservativen Politics. Die Acher-Brüder und Martin Gretschmann, der harte, dann wieder gar nicht harte Kern der Band, sind sich offenbar einig darin, dass sie künstlerisch weiterwollen und dass sie sich eine gewisse Distanz zu und Unabhängigkeit von dem Betrieb und seinen Gesetzen, denen man angeblich nicht entrinnen kann, bewahren wollen. Antriebsschwäche, Müdigkeit, Prokrastination, Schlaffheit – die Symptome der heutigen Burn-out-Gesellschaft waren zu Zeiten von Dinosaur Jr. Ausdruck einer sich selbst nicht bewussten Stilpolitik, der die Bezeichnung »Slacker« mehr zugewiesen wurde, als dass die eher passiven Protagonisten des Slackerism sich diese selbst verliehen hätten. Wie Alternative und Indie ging der Slacker den Weg alles Irdischen und wurde in den Warenkreislauf eingespeist. In Weilheim allerdings haben sie den Slacker eingefroren, ihn bis zum Revival des »Bartleby« gekühlt und 2013 aufgetaut. Eine Wiederauferstehung feierte das Slackertum dann in Gestalt des plötzlich vollbärtigen Bild-Chefredakteurs, der in Silicon Valley anscheinend Herman Melville gelesen, aber nur »I would prefer not to shave« verstanden hatte. Melville kann sich darüber nicht mehr ärgern, aber auch nicht freuen über Bartleby-Adaptionen wie das 2013 erschienene Buch »Morgen werde ich Idiot« von Hans-Christian Dany, Untertitel: »Kybernetik und Kontrollgesellschaft«. Da heißt es: »In meinem Ohr wiederholt sich der Halbsatz ›I would prefer not to‹. Bartleby, der Held in Melvilles gleichnamiger Erzählung, verzichtet darauf, sich über die Zurückweisung hinaus mitzuteilen, und bleibt einfach sitzen. Seine Abweisung sagt nicht, was sie will.«
Bei The Notwist sagt die Abweisung auch nicht ausdrücklich, was sie nicht will, aber dass mit dieser Band kein Staat zu machen ist, das wird schon klar an Tagen wie diesen. Sitzenbleiben und weitermachen, weiterkommen, vielleicht ist das die Dialektik von The Notwist, die ja schon im Bandnamen angedeutet wird. Sitzenbleiben und weiterkommen – könnte auch der Titel meines Lieblingstracks sein, ein neunminütiger Auf-der-Stelle-Treten-Disco-Drone ohne Stimme. Aber einen Song so konkretistisch betiteln? I would prefer not to. Also heißt er »Lineri«, wie ein Dorf in Sizilien.
Zur Eingangsfrage: Wo habe ich »Close to the Glass« gehört? Im öffentlichen Raum? Nein. Im öffentlichen Raum unter privaten Kopfhörern? Nein. Im Club? Nein. In der Kneipe? Nein. Zu Hause, aus großen Boxen? Ja. Zu Hause am Rechner? Ja. Tags, nachts, Tag und Nacht? Ja. Allein, zu zweit, in wie auch immer zusammengekommenen Gruppen? Zu zweit. Auf Partys? Nein. Beim Essen? Ja. Beim Trinken? Ja. Beim Reden. Ja. Beim Sex? Nein. Allein beim Lesen? Ja. Im Winter? Ja. Im Sommer? Geht nicht.

The Notwist: Close to the Glass. (City Slang/Universal)