Zur Debatte über die deutsche Gegenwartsliteratur

Es muss nicht der Amazonas sein

Literatur soll die Welt so beschreiben, wie sie ist. Dazu kann unter Umständen auch jede Menge Phantasie vonnöten sein. Ein weiterer Beitrag zur Debatte über die deutsche Gegenwartsliteratur.

1988 schrieb die Autorin Gisela Elsner einen Aufsatz über »Ehebrecherinnen in der Weltliteratur und die Moral der Bourgeoisie«. Sie konnte bei dieser Themenwahl selbstredend Theodor Fontanes Alterswerk »Effi Briest« nicht außer Acht lassen. Dieses »Monument der Doppelbödigkeit der bürgerlichen Moral« erzählt sie zunächst in groben Zügen nach, um dann anzumerken, dass Fontane ja selbst mitgeteilt habe, dass die »wirkliche Effi«, anders als seine Protagonistin, nicht etwa in Schande und von der Scham zerfressen verstorben sei, sondern noch bei Erscheinen des Romans als »vortreffliche Pflegerin in einer großen Heilanstalt« (Fontane in einem Brief) tätig gewesen sei.
Elsner schließt daher ihre »Effi Briest«-Bertrachtung folgendermaßen: »Zwar sind die Geschichten, die das Leben schreibt, für Romaninhalte nicht immer tauglich. Aber die Geschichte der ›wirklichen Effi‹, die sich ihrer unsinnig gewordenen Damenhaftigkeit entledigte und als simple Lohnempfängerin den Zugang zu den schlechteren Kreisen schaffte, die immer noch besser sind als keine, enthält einen gesellschaftskritischen Zündstoff, an dem sich ein Theodor Fontane nicht die Finger zu verbrennen wagte. Seine Umfälschung der wahren Geschichte ist keine dichterische Freiheit, sondern ein Zugeständnis an den Opportunismus. Während sich die ›wirkliche Effi‹ in die menschlichen Niederungen begab, mied diese Niederungen unser hiesiger hausgemachter Realist tunlichst, weil ein Moralapostel ohne seinen hohen Standpunkt leichterdings der Moral verlustig gehen und, eh er sich’s versieht, zum Realisten werden kann. Fontane verspielte sich durch die Umfälschung der wahren Geschichte bis zur Unkenntlichkeit die Chance, ein Realist zu werden. Doch dafür, dass er so lange an der Wirklichkeit herumflickte, bis diese der Moral der Bourgeoisie wie ein Maßanzug passte, krönte man ihn zum hiesigen Dichter des Realismus.«
Starker Tobak. Soll also das Leben selbst Literatur schreiben? Elsner hatte in ihrem Aufsatz bereits eingeräumt, dass »eine realistische Geschichte nicht nach Art Willi Bredels aus dem wahren Leben geschöpft zu werden« habe. Allerdings scheinen dies noch immer viele zu glauben. Oder aber sie propagieren das genaue Gegenteil.

Seit einigen Wochen wird im Feuilleton um die deutsche Gegenwartsliteratur gerungen, den Anlass dazu bot der Autor Florian Kessler, der in der Zeit geschrieben hatte, dass die deutsche Gegenwartsliteratur bieder sei, da sich die jüngeren Autorinnen und Autoren als Angehörige eines bildungsbürgerlichen Milieus diesem verpflichtet fühlen und dementsprechend nichts schrieben, was ihr Milieu aufstören könne. Daraufhin gab es Widerworte und Ergänzungen, Enno Stahl etwa schrieb vor drei Wochen an dieser Stelle (6/14), dass es mehr Realismus in der Literatur brauche, und fragte »Was wäre denn das angestammte Medium der Gesellschaftskritik, wenn nicht die Literatur, besonders die theoretisch reflektierte?« Ihm antwortete Jakob Hayner (8/14), der schrieb: »Der Begriff des Realismus trägt zur Vernebelung mehr bei als zur Aufklärung.«
Auch in anderen Medien wurde über Milieu und Biederkeit gestritten, einige Autorinnen und Autoren sahen sich persönlich angegriffen, und reagierten patzig, andere zählten ihre Bibliotheksbestände auf und pochten darauf, dass Literatur so hart werden müsse wie Jörg Fausers Romane oder »die amerikanischen TV-Serien«. Dazu muss man allerdings anmerken, dass es nicht unbedingt ein Hauptmerkmal der realistischen Literatur ist, wenn im Buch ein Auto explodiert, irgendjemand von einem Serienmörder brutal gefoltert wird oder eine Nymphe sich dutzende Geschlechtskrankheiten einfängt. Die Wirklichkeit ist nicht nur da, wo Blut fließt.

Maxim Biller schließlich forderte in der vorigen Woche in der Zeit alle »nicht deutschen« Autorinnen und Autoren zur »Revolution« gegen die Langeweile auf: »Worauf ich hinaus will? Dass wir nicht deutschen Schriftsteller deutscher Sprache endlich anfangen sollten, die Freiheit unserer Multilingualität und Fremdperspektive zu nutzen. Wir müssen aufhören, darüber nachzudenken, was wir tun und schreiben sollten, damit wir Applaus kriegen, wir dürfen nie wieder den Shitstorm der deutschen Kulturvolksfront fürchten, wir müssen immer nur in den einfachsten Worten, die wir kennen, über die Menschen sprechen, wie sie wirklich sind, egal, ob ihre Großeltern aus Antalya, Moskau oder Pforzheim kommen, und wenn wir eine gute Idee haben, wie wir erzählerisch und essayistisch den trüben deutschen Bloß-nicht-auffallen-Konsens attackieren könnten, kann das auch nicht schaden. Denn Wahrheit ist ein anderes Wort für Poesie, und der Schmerz, den sie beim Autor und bei den Lesern auslöst, verwandelt überhaupt erst die Worte in Literatur.«
Doch nur in wenigen Beiträgen redete man wie Kessler und Stahl über tatsächlich politische und literaturpolitische Konsequenzen. Die meisten Diskutanten blieben im Literaturbetrieb stecken, zeigten mit dem Finger auf diesen und jene und beschäftigten sich folglich schon wieder mit ihresgleichen. Womit wir wieder auf Gisela Elsner zu sprechen kommen. Denn das, was sie anhand von »Effi Briest« tut, verbietet sich für die Literaturkritik eigentlich. Sie misst den Roman an dem ihm zugrundeliegenden Material und interpretiert das Werk nicht aus sich heraus, sie hält dem Autor »die Wirklichkeit« entgegen und stellt Mutmaßungen über Fontanes Ängste an. Dennoch kann man aus ihrer Argumentation etwas lernen. Denn Elsner fordert, die Welt so zu sehen, wie sie ist, also wie es der Fall ist. Sie fordert, die Klassenverhältnisse zu analysieren und moralische Kategorien auf ihren Nutzen für die Bourgeoise hin zu untersuchen. Und sie fordert das explizit von der Literatur. Dies tut auch Stahl, wenn er Jörg Fausers berühmten Satz »Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Partyservice anheuern« zitiert. Es geht mitnichten um authentische Geschichten, es geht um Gegenwartsanalyse.

Nun kann man sich hinstellen, und lachen, denn selbstredend sind die Gedichte Paul Celans und Friederike Mayröckers, die Erzählungen Paul Scheerbarts oder die Märchen Hugo von Hofmannsthals große literarische Werke. Doch wollen die, die »die Wirklichkeit« in der Literatur reflektiert sehen wollen, der Phantasie gar keine Grenzen setzen. In seinem Essayband »Diskurs­pogo« führt Enno Stahl etwa auch den Schriftsteller Dietmar Dath als realistischen Erzähler an, dessen Bücher bekanntermaßen nicht selten von Außerirdischen, Teufeln oder Zombies bevölkert werden, allesamt Figuren, die man weder in den Straßen Pforzheims noch in der Wüste Gobi trifft.
Es geht Elsner, Stahl und all den anderen reflektierten Realistinnen und Realisten um etwas anderes: nicht um das Genre des Textes, sondern um den Gegenstand der Erzählung. Und was die meisten selbst ahnen: Ihr Alltagsleben als Habi­litierte ohne Professur und als Fotograf mit Ehekrise ist vielleicht wirklich allzu langweilig, um erzählt zu werden. Vielleicht aber auch nicht. Es geht um die Herangehensweise. Es gibt nämlich, Maxim Biller wird es nie verstehen, interessante und mitteilenswerte Begebenheiten in der Provinz, es gibt ein wirkliches Leben in der Vorstadt und auch eine Millionenerbin kann ein literarisches Material aufhäufen, ohne dass sie dafür an den Amazonas fahren muss. Literatur wird nämlich nicht von der Herkunft her geschrieben, es ist für einen Erzähltext egal, ob seine Autorin aus der Leipziger Bronx, aus Anatolien oder Rüsselsheim kommt.
Allerdings sind diejenigen, die die Preise ausloben, Buchhandlungen bestücken und Produkt­empfehlungen in Zeitschriften veröffentlichen, oft tatsächlich jene, die es nicht gern sehen, wenn ihre heile Welt aufgestört wird, wenn die Moralvorstellungen, denen sie sich unterworfen haben, hinterfragt werden, und Klassengegensätze plötzlich sichtbar sind. Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse unverkitscht darstellen will, sollte sich einen Job jenseits des Literaturbetriebs suchen. Vom Schreiben, vom Veröffentlichen allein wird sie und wird er nicht leben können. Der Berufsautor dagegen muss sich, um überleben zu können, anpassen können.