Das Heldenepos »Richter und Narr« von Vladimir Jabotinsky

Showdown in Palästina

Vladimir Jabotinsky war ein wichtiger Vertreter des radikalen Zionismus und gehört heute zu den Klassikern der hebräischen Literatur. Sein Heldenepos »Richter und Narr« liegt jetzt in neuer Übersetzung vor.

Gerne wird vergessen, dass die Gründung Israels im Jahre 1948 auch das Ergebnis des jüdischen Aufstands gegen die britische Mandatsmacht war. Mit zahllosen Sabotageaktionen und Bombenanschlägen hatten zionistische Gruppen ab 1944 die mehr als 100 000 Mann starke britische Armee in Palästina mürbe gemacht und zum Rückzug gezwungen.
Der ideologische Vater dieser Revolte war der 1940 in New York verstorbene Begründer des revisionistischen Zionismus, Vladimir Jabotinsky. Er vertrat einen wehrhaften jüdischen Nati­onalismus und zielte auf die Revision des praktischen Zionismus von Chaim Weizmann und David Ben-Gurion. Diese wollten zuerst eine jüdische Besiedlung Palästinas, Jabotinsky forderte hingegen die umgehende Ausrufung eines jüdischen Staates in Palästina.
Doch der im Jahr 1880 im russischen Odessa geborene Jabotinsky war nicht nur Zionist, er war ein wichtiger jüdischer Intellektueller. Seit seiner Jugend schrieb er für russische Zeitungen und arbeitete später als Auslandskorrespondent. Er verfasste Gedichte und zahlreiche Übersetzungen ins Russische und Hebräische. Seine Übertragung von Edgar Allan Poes Langgedicht »Der Rabe« in die hebräische Sprache gilt bis heute als wegweisend.
Ein Glücksfall ist es, dass sich »Die Andere ­Bibliothek« Jabotinskys vergessenem literarischen Werk angenommen hat. Bereits im vergangenen Jahr erschien dort unter dem Titel »Die Fünf« Jabotinskys Hommage an seine Heimatstadt Odessa. Jetzt folgt mit »Richter und Narr« sein Erstlingswerk über den biblischen Helden Simson. Die Geschichte erschien 1927 als Fortsetzungsroman in der russischsprachigen Zeitung Rassvet, für die Jabotinsky von 1924 bis 1934 als Herausgeber tätig war. An dem Manuskript hatte er acht Jahre gearbeitet und nach dem Erscheinen in Buchform (auf Deutsch im Jahr 1928) waren die Kritiken ausnahmslos positiv. Der große jüdische Dichter Chaim Nachman Bialik meinte anerkennend, Jabotinsky habe einen modernen Mythos kreiert: »Was er geschaffen hat, ist eine Vision der Rettung des jüdischen Volkes.«
In »Richter und Narr« orientiert sich Jabotinsky an der biblischen Simson-Geschichte aus dem »Buch der Richter«. Er erweitert den kurzen Bericht jedoch zu ein er großen, 370 Seiten umfassenden Erzählung, die an manchen Stellen entscheidend vom Original abweicht. So säkularisiert er Simson, indem dessen Geburt bei Jabotinsky nicht mehr auf eine göttliche Verkündung zurückgeht, sondern das Ergebnis eines unehelichen Verhältnisses seiner Mutter ist.
Das Buch bewegt sich zwischen Abenteuer- und Entwicklungsroman. Simson ist aus dem israelitischen Stamm der Daniter und ein geborener Anführer. Sein Land ist von den Philistern besetzt, die er jedoch für ihre Kultur bewundert. Er feiert mit ihnen und gibt an ihren Tischen den Narren. Schließlich heiratet er die Philisterin Semadar. Während der Hochzeitsfeier schlägt die Bewunderung in Ernüchterung um. Zum ersten Mal wird Simson klar, dass er nicht Gleicher unter Gleichen ist. Die Philister demütigen seine Gefährten und Achtur, der Anführer der Philister, beleidigt Simson. Das führt zum Bruch: Simson verlässt das Fest und seine Braut.
Zurück in seiner Heimat ist er als Richter für die Beilegung von Streitigkeiten zuständig und stellt fest, dass sich sein Volk mit der Unfreiheit abgefunden hat. An diesen Stellen wird Jabotinskys Botschaft deutlich. Sein Roman war als Warnung an die jungen Juden in der Diaspora gerichtet: Die Aufgabe ihres Judentums würde ihnen weder Sicherheit noch Gleichheit bringen. »Die Eroberer«, reflektiert Simson über sein Volk, »hatten ihnen ihr Land, ihre Sprache, ihre Bräuche, ihre Künste und ihre Götter genommen und schließlich auch den Willen, auf ihre Art zu leben. Wie ein Spatz, der eine Schlange zu lange anschaut, warteten sie ohne Murren, vielleicht sogar mit Freuden, darauf, verschlungen zu werden.«
Diese Passivität kannte Jabotinsky nur zu gut. Seine Versuche, in Palästina eine jüdische Miliz aufzustellen, wurden von führenden Zionisten torpediert. Sie wollten die britische Mandatsmacht nicht provozieren. Dadurch verhinderten sie aber, dass sich die palästinensischen Juden während der Pogrome in Jerusalem 1920 und Jaffa 1921 wehren konnten.
Auch im Buch braucht es erst eine Katastrophe, um Simson zum Aufstand zu bewegen. Er möchte Semadar doch noch mit in seine Heimat nehmen, sie ist aber an Achtur vergeben. Den weiteren Verlauf ändert Jabotinsky entscheidend: Es ist nicht wie in der Bibel Simsons Enttäuschung, die ihn in den Untergrund führt, sondern die Ermordung Semadars und ihrer Familie durch die Philister sowie die Vergewaltigung ihrer Halbschwester Elinoar. Fortan spielt Simson tagsüber weiterhin bei den Philistern den Narren, aber nachts bekämpft er sie.
Die Geschichte ist nicht nur eine Warnung vor der jüdischen Assimilation, Jabotinsky spiegelt in der Person der Philister auch seine Erfahrungen mit den Briten, die er für ihre Kultur und ihren politischen Liberalismus bewundert hatte. Diese Verbundenheit wandelte sich jedoch bald in Enttäuschung. Das britische Versprechen einer jüdischen Heimstätte in Palästina wurde nicht erfüllt, die jüdische Einwanderung nach Palästina eigeschränkt und Ostpalästina an die Araber gegeben. Dadurch wurde der Narr Jabotinsky zum Richter, der als politischer Anführer den Kampf gegen die Briten vorbereitete, den Sieg aber nicht mehr erleben durfte.
Ähnlich ergeht es seiner Romanfigur Simson. Dieser trifft erneut auf Elinoar, die sich Delila nennt. Simson glaubt zunächst, sie sei die tote Halbschwester. Das entfacht Eifersucht und Hass bei Elinoar. Sie verrät ihn an die Philister, die ihn gefangennehmen und misshandeln. Aus der Gefangenschaft schickt Simson seinem Volk einen Rat: »Sie sollen Eisen horten, sie sollen einen König wählen, und sie sollen lachen lernen.« Waffen, eine politische Führung und – etwas ungewöhnlich – Lebensfreude, das ist Jabotinskys in literarische Form gebrachtes Rezept für die Schaffung eines jüdischen Staates.
Im Herzen des Feindes, dem Tempel der Philister, kommt es schließlich zum Showdown. Elinoar offenbart Simson, dass sie seinen Sohn geboren hat und diesen aus Rache zum Hass auf Simsons Volk erziehen wird. Gefahr für die Juden droht nicht nur von außen, sondern auch aus dem eigenen Volk, möchte Jabotinsky mit dieser Abweichung von der Bibelgeschichte andeuten. Simson weiß, wenn sein Volk jemals unabhängig werden soll, muss er Elinoars Vorhaben verhindern. Er zerstört den Tempel und tötet dabei sich, die Elite der Philister, Elinoar und seinen Sohn.
Jabotinskys »Richter und Narr« ist zweifellos ein zionistisches Manifest. Aber es wäre ungerecht, den Roman darauf zu reduzieren. Es ist ein modernes Heldenepos und gleichzeitig das vielschichtige Psychogramm eines Menschen in der Revolte. Zudem machen Jabotinskys Stil und seine dramaturgischen Fähigkeiten das Buch zu einem der wichtigsten Werke der jüdischen Literatur im 20. Jahrhundert. Die zeitgemäße und hervorragende Übertragung in Deutsche durch Ganna-Maria Braungardt sowie die liebevolle editorische Gestaltung tun hierzu ein Übriges.

Vladimir Jabotinsky: Richter und Narr. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Die Andere Bibliothek, Berlin 2013, 382 Seiten, 22 Euro