Ein Nachruf auf Gabriel García Márquez

Dämonen des Kolonialismus

Gabriel García Márquez galt als »Magier des Realismus«. Ein Nachruf auf eine unproduktive Kategorie.

Wenn unsere Realität durch Muster interpretiert wird, die nicht unsere eigenen sind«, so sagte Gabriel García Márquez 1982 bei der Entgegennahme des Literaturnobelpreises in Stockholm, »so dient das nur dazu, uns immer unbekannter werden zu lassen, immer weniger frei, immer einsamer.« Mit dem Motiv der Einsamkeit ist García Márquez zu einem der berühmtesten Schriftsteller Lateinamerikas geworden. Dieses Motiv steht bei ihm auch für eine politische und kulturelle Isolation. Trotz seiner Reportagen wie »Das Abenteuer des Miguel Littín« über die Repressionen unter dem Regime Pinochets und trotz seiner Romane wie »Der Herbst des Patriarchen«, in dem er Juan Vicente Gómez und mit ihm alle lateinamerikanischen Diktatoren parodiert, gilt García Márquez nicht als politischer Schriftsteller. Man sieht ihn als »magischen Realisten«, der die Beschreibung persönlicher Schicksale mit eskapistischer Phantastik vermischt.
Es ist die Erzählkunst, die dazu einlädt, García Márquez als magischen Realisten einzuordnen. Die Beschreibung wilder Phantasiereisen und der nüchterne Kommentar der Alltagsbegebenheiten haben bei ihm nur eine einzige Stimme. In seinen Memoiren nennt er sie »die Erzählstimme meiner Großmutter« und betont, dass die Kunst des Erzählens das Erlebte überschreibt.
Diese Individualität im Erzählen wird verbunden mit dem Exemplarischen der Romanszenen. So bescheinigte Walter Haubrich dem Werk von García Márquez 2002 in der Zeit eine »universelle Gültigkeit«, es sei »eben keine exotische, sondern Weltliteratur«. Literarische Qualität wird definiert als Vermittlung des Allgemeinen und des Besonderen, mit dem sich immer auch der Europäer identifizieren kann, der die universelle Gültigkeit ohnehin gepachtet hat. In diesem Sinne lobt auch Andreas Platthaus in der FAZ García Márquez’ »Erfolgsrezept«: Es seien »unsere Geschichten, nur anders erzählt«.
Die Geschichten Lateinamerikas zu »unseren Geschichten« zu erklären, bedeutet aber, das kritische Potential zu verkennen, das in der spezifischen Ausdrucksform liegt. Diese ist eben keine neutrale Form, die »unsere Geschichten« unverändert lässt. Der mexikanische Kulturtheoretiker Néstor García Canclini formulierte es so: »Weit entfernt von einem ›magischen Realismus‹, der irgendein formloses und unbestimmtes Material an der Wurzel des symbo­lischen Produktionsprozesses vermuten würde (…), können die Werke besser verstanden werden, wenn wir uns gleichzeitig mit den sozialen Prozessen beschäftigen, die die Methoden des arbeitenden Künstlers hervorbringen.«
García Canclini spricht von der »hybriden Kultur« Lateinamerikas, die von »Strategien des Betretens und Verlassens der Moderne« geprägt sei. Die Moderne ist für ihn keine historische Epoche, sondern ein Nebeneinander von alten und neuen Kulturen und Werten. Auch die Raumerfahrung sei von der Hybridität geprägt. »Der Ort, von dem aus viele Tausende lateinamerikanischer Künstler schreiben, malen oder Musik komponieren«, schreibt Canclini, »ist nicht länger der Ort, an dem sie ihre Kindheit verbracht haben, auch nicht der, an dem sie viele Jahre gelebt haben, sondern eher ein Zwischen-Ort, an dem sich die wirklich gelebten Orte begegnen.«
Von einer solchen Begegnung erzählte auch García Márquez. Auf einer Fahrt in seine Heimatstadt Aracataca sei er an der einzigen Bananenplantage in dieser Gegend vorbeigekommen. Der Name der Plantage – Macondo – habe auf dem Eingangstor gestanden. Leser seines Romans »Hundert Jahre Einsamkeit« kennen Macondo als den fiktiven Ort, in dem er die Handlung angesiedelt hat.
García Márquez kritisierte sein Frühwerk als zu statisch. Seine Schilderung der Realität in den magischen Erzählungen sei dynamischer. Der Literaturkritiker Michael Bell schlägt daher vor, die Bezeichnung »magischer Realismus« für das Werk von García Márquez aufzugeben, er spricht lieber von der »psychologischen Dynamik«, die dem Marginalisierten Raum gibt. Der Ort Macondo versammelt, mit García Canclini gesprochen, Strategien, das Marginalisierte, Verdrängte, die Widersprüche und Brüche sichtbar zu machen.
Ein solcher Bruch steht auch am Ursprung der sozialen Prozesse, auf die García Canclini verweist: die Kolonisierung, eine Geschichte von Verrat, Eroberung und Gewalt, die verbunden ist mit der Geschichte der europäischen Moderne und dem Projekt von Fortschritt, Emanzipation und Vernunft. Klaus Theweleit reflektierte diesen Bruch in seinem »Buch der Königstöchter« in der Figur der sprachgewandten indigenen Sklavin Malinche, die dem Eroberer Hernàn Cortéz »geschenkt« wurde, ihm als Dolmetscherin diente und somit in die Geschichte der Kolonisierung Lateinamerika verstrickt ist. Sie ist selbst Opfer von Gewalt, wird zur Verräterin und wird schließlich als Stammmutter verehrt.
Auch in García Márquez’ Werk gibt es diese weiblichen Charaktere, die eine Schuld abtragen müssen. Wie das 14jährige Mädchen in der Kurzgeschichte »Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter«, das sich als Prostituierte verdingen muss, um eine Schuld abzugleichen. In »Hundert Jahre Einsamkeit« will die junge Petra Cotes eine Tombola veranstalten, nachdem ein Sturm den Besitz und damit das Vermögen ihres Geliebten vernichtet hat.
Einer Verfilmung dieses Romans hat sich der Autor bis zu seinem Tod widersetzt.
García Márquez starb im Alter von 87 Jahren in Mexiko-Stadt an einer Lungenentzündung. Sowohl Mexiko als auch Kolumbien erhoben sogleich Anspruch auf die Urne mit seiner Asche. Der kolumbianische Botschafter schlug inzwischen vor, die Asche aufzuteilen. Ganz ähnlich wie es der Autor in seinem Buch »Leichenbegängnis der Großen Mama« geschildert hat, wartet er, der wohl berühmteste Bürger Mexikos und Kolumbiens, auf eine Entscheidung, das aber vermutlich nicht »bei 40 Grad im Schatten«.
Der Kampf um das Vermächtnis García Márquez’ hat also begonnen. Es ist nicht zuletzt deshalb umkämpft, weil in seiner Biographie kommerzieller Erfolg, literarische Qualität und weltweite Anerkennung zusammenkommen. Damit identifiziert man sich gerne. Barack Obama erklärte seine Wertschätzung; der perua­nische Schriftsteller Vargas Llosa, der Marquez 1986 vor dem Pen-Club als »Höfling Castros« denunzierte, rühmt nun die Unsterblichkeit seiner Werke. Wer García Márquez als Literaten schätzt, braucht ihn als politischen Kritiker imperialistischer Politik nicht ernst zu nehmen.