Volodymyr Ishchenko im Gespräch über das Fehlen progressiver Kräfte in der Ukraine

»Die ukrainische Linke spielt keine signifikante Rolle«

Volodymyr Ishchenko ist ein ukrainischer Soziologe, dessen Forschungsschwerpunkt auf sozialen Protesten in der Ukraine liegt. Er ist der stellvertretende Direktor des Zentrums für Gesellschaftsforschung in Kiew und Dozent an der renommierten Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie.

Die faschistische Swoboda-Partei hat ihren Stimmenanteil in den vergangenen Jahren stetig ausbauen können. In einigen Regionen im Westen errang die Partei bis zu 38 Prozent der Stimmen. Jetzt ist sie sogar an der Regierung beteiligt. Spielt ihr die Polarisierung im Land in die Hände?
2012 konnte Swoboda ihren Stimmenanteil auf über zehn Prozent landesweit steigern. Derzeit verliert sie allerdings nach Umfragen wieder an Wählerzuspruch. Diesen zufolge liegt sie etwa bei sechs Prozent. Viele Menschen sind enttäuscht von ihrer Unentschlossenheit während der Proteste auf dem Maidan und ihren provokativen Aktionen zu dieser Zeit, die nur der russischen Propaganda genutzt haben. Zu Beginn versuchten die Parteiführer sogar, die Protestierenden zu stoppen, und distanzierten sich von den Auseinandersetzungen mit der Polizei, während sie zugleich ihre ethnonationalistische, an Stepan Bandera (ein ukrainischer Nationalist und NS-Kollaborateur, J.-N. K.) orientierte Agenda propagierten.
Könnte der Rechte Sektor Swoboda noch mehr Einbußen bescheren?
Sicher macht der Rechte Sektor Swoboda Stimmen streitig, da beide um dieselben Wähler konkurrieren. Doch auch diese Partei sollte nicht überschätzt werden, den Umfragen zufolge ist von nicht mehr als drei Prozent der Stimmen auszugehen. All das ist jedoch abhängig davon, wie sich die Partei entwickelt. Wird sie Ressourcen erhalten? Wird sie sich als effektive Kraft in den kommenden Ereignissen inszenieren? Nichts­destoweniger hatte sie bereits ihren wesentlichen Durchbruch. Man sollte daran erinnern, dass die Organisationen und Menschen, die den Rechten Sektor gründeten, der breiten Öffentlichkeit bis Januar vollkommen unbekannt waren. Nun jedoch erhalten sie eine immense Medienöffentlichkeit und engagieren sich ernsthaft bei den Präsidentschaftswahlen.
Nützt der Konflikt mit Russland Swoboda, weil er es einfacher macht, an nationalistische Ressentiments zu appellieren?
Tatsächlich hilft der Konflikt Swoboda nicht, weil die Partei weiterhin dafür kritisiert wird, zu provokativ zu sein und damit der russischen Propaganda zu helfen. Man kritisiert sie weniger dafür, dass sie antidemokratisch und extrem rechts ist, sondern dafür, nicht konsequent nationalistisch zu sein. Dafür, dass sie die Interessen der Ukraine nicht über die der eigenen Partei stellt. Das ist die Hauptkritiklinie. Aber vergessen wir nicht, dass wir hier über mögliche, noch nicht angekündigte Parlamentswahlen sprechen. Bei denen könnte sie in einigen westlichen Regionen wieder stark abschneiden, aber bei den Präsidentschaftswahlen haben beide rechtsextremen Kandidaten keine Chance.
Die Arbeitskosten im verarbeitenden Gewerbe in der Ukraine sind mit etwa drei Euro pro Stunde schon jetzt niedriger als in China. Der IWF und die EU sagten Kredite von zusammen etwa 27,5 Milliarden Dollar zu. Als Gegenleistung verpflichtet sich die Regierung in Kiew, Austeritätsmaßnahmen durchzusetzen. Die soziale Spaltung wird sich also noch verstärken. Gerade in Griechenland hat sich gezeigt – wenngleich die Maßnahmen nicht ­vergleichbar sind –, wie stark dies nationalchauvinistischen und faschistischen Kräften in die Hände spielen kann, siehe die »Goldene Morgenröte«.
Zuerst sollten wir festhalten, dass diese Kredite dazu dienen, die Auslandsschulden zu bedienen: Es wird also Geld geben, aber dieses Geld verschwindet auch wieder bei westlichen Banken. Wie dem auch sei, der arme Teil der Bevölkerung wird leiden, insbesondere weil die Preise für Gas und Energie steigen werden. Ob das den Rechten helfen kann, hängt wieder von deren Strategie ab.
Man reduziert den Konflikt hierzulande oft auf »prorussisch« gegen »antirussisch«. Welche Rolle spielt die soziale Frage?
Bei den Spannungen in der Ostukraine geht es nicht nur um die Sprache, die Angst vor den uk­rainischen Nationalisten, das Verhältnis zu Russland oder dessen Politik. Die Menschen im Osten reden viel über Arbeitslosigkeit, die Einkommen und die steigenden Preise. Einige fordern Verstaatlichungen, andere eine angemessene Bezahlung für ihre Arbeitskraft. Es geht also sehr stark um soziale Missstände. Und zu diesem Zeitpunkt gibt es keine starke Kraft, die diesen Protest führen oder diese Inhalte transportieren könnte. Die ukrainischen Nationalisten können es nicht, weil sie gegen diesen Protest sind und nicht differenzieren zwischen Separatisten, bewaffneten Gruppen, die womöglich von Russland gesteuert werden, und der Masse der Protestierenden, die sich gar nicht so begierig Russland anschließen will. Die Meinungen gehen weit auseinander: In der Ukraine bleiben? In einer förderalisierten Ukraine bleiben? Oder sich Russland anschließen?
Die Frage ist jetzt: Gibt es eine Möglichkeit, die progressiven Teile der Maidan- sowie der Anti-Maidan-Bewegung zu vereinen? Um eine gemeinsame Plattform für soziale Gerechtigkeit zu schaffen – ungeachtet ideologischer Differenzen und regionaler Identitäten. Für linke Kräfte wäre dies viel einfacher als für rechtsextreme Kräfte – wenn wir denn eine starke Linke hätten.
Wie steht es um die ukrainische Linke?
Die ukrainische Linke spielt keinerlei signifikante Rolle. Derzeit gibt es nur die sogenannte – angeblich – ›linke‹ Parlamentspartei: die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU). Die jedoch war jahrelang mehr an Identitäts- und Erinnerungspolitik interessiert als an sozialökonomischen Themen. Zudem ist sie sehr konservativ: Sie erlaubt rassistische Inhalte in ihren Zeitungen, ist homophob und votierte am 16. Januar einstimmig für das Paket repressiver Gesetze, das unter anderem Presse- und Versammlungsfreiheit beschnitt. Nun betrachtet man sie als Teil des alten Regimes und in der radikalen Linken nicht einmal mehr als links. Die radikale Linke wiederum ist sehr schwach. Einige versuchten, an der Maidan-Bewegung zu partizipieren, doch ohne Erfolg. Es gelang nur sehr unregelmäßig und sehr lokal, wirklich linke Inhalte zu propagieren. Spannend ist, dass ein Teil dieser neuen Linken nun an den Gemeinderatswahlen in Kiew teilnimmt, auf einer gemeinsamen Liste linker und linksliberaler Aktivisten. Das ist ein spannendes Experiment mit Liquid Democracy, aber ehrlich gesagt sehe ich keine reellen Chancen für sie.
Droht also ein Rollback, wegen der Schwäche der Progressiven?
Der Maidan war keine Revolution. Wir sehen keinerlei Anzeichen für eine Chance auf fundamentalen Wandel, nicht einmal in so spezifischen Bereichen wie der Korruptionsbekämpfung. Es gibt einfach keine Kräfte, die fähig wären, beständig für eine solche Agenda einzu­treten. Was man derzeit hört, ist Propaganda, Rhetorik, kein aufrichtiges Programm. Weder der linke noch der liberale Teil der Maidan-Bewegung ist organisiert genug, um entscheidend für den Ruf nach Demokratie einzutreten.
Ein Teil der deutschen Linken verteidigt die russische Politik. Wie könnte demgegenüber eine progressive Ukraine-Politik aussehen?
Auf makropolitischer Ebene gibt es notwendige Dinge, für die sich Progressive in Europa einsetzen müssen: Wir müssen mit Auslandsschulden anders umgehen. Es bräuchte einen Schuldenschnitt. Und finanzielle Unterstützung – nicht um Schulden zu bedienen, sondern um ernsthafte Infrastrukturinvestitionen durchzuführen und so weiter. Natürlich ist diese Unterstützung an Konditionen geknüpft. Aber die Austeritätsmaßnahmen sind nur eine Bürde auf den Schultern der Armen.
Natürlich ist das utopisch, aber wir müssen dafür kämpfen – auch in einem globalen Kontext: Warum die Unterstützung nicht an einen demokratischen Wandel knüpfen? An die Bekämpfung von Korruption, die Förderung von Basisökonomie und basisdemokratischer Organe? Und wir brauchen eine starke Position westlicher Regierungen gegen eine Beteiligung der extremen Rechten an der Regierung. Sie sind derzeit nicht dominant, doch die anderen Regierungen müssen verhindern, dass sie finanziell unterstützt werden. Auch eine Reform des Visasystems könnte helfen. Eine visafreie Einreise in die EU würde ­separatistischen Gefühlen entgegenwirken.