Cannabis kann auch schädlich sein

Ein böser Trip

THC kann eine beachtliche psychoaktive Wirkung entfalten, die nicht immer als entspannend oder allgemein als Genuss wahrgenommen wird.

Jugendsünden werden gemeinhin nicht als Sünden biblischen Ausmaßes angesehen, zumal sie den Delinquenten selbst im Nachhinein bereits unangenehm genug sind: »Denk nicht an meine Jugendsünden und meine Frevel!« (Psalm 25,7: Die Bitte um Vergebung und Leitung) Manchmal bereut der junge Sünder seine kühnen Taten allerdings schon währenddessen, da sie mit teuflischen Visionen, diabolischen Ängsten und einem satanischen Brand einhergehen und einfach kein Wässerchen das Inferno zu löschen vermag. In einen solchen Höllenzustand beförderte ich mich als Teenager mit der gemeingefährlichen Kraft des Haschisch.
Das Jahr ging zur Neige und ich entschied mich, meinen langjährigen Kumpel F. an Silvester zu einem Sportwettkampf in die Stadt zu begleiten und anschließend zu einer Privatparty in der sturmfreien Bude einer ebenso sportlichen Mitstreiterin, die ich nicht kannte. Überhaupt kannte ich auf der Feier niemanden außer F., beste Voraussetzungen für Drogenexperimente also – dachten wir zumindest. F. war ein begabter und fleißiger Schwimmer, dessen Trainingsdisziplin nur vom entspannten Abhängen mit den Kifferfreunden unterbrochen wurde. Er verfügte über sehr gute Voraussetzungen für zweierlei Laufbahnen, zwischen denen er sich noch nicht endgültig entschieden hatte: Eine veritable Karriere als Leistungssportler zeichnete sich am Horizont ab, und eine veritable Karriere als Dauerkiffer schien ebenso erfolgversprechend. So fand ich mich an diesem Silvesterabend wieder in einer Ansammlung frisch geduschter, durchtrainierter, freundlich-toleranter Sportskanonen in einer fremden Vorstadtsiedlung – ich, der 18jährige Rastamann mit dem putzigen Ziegenbart, der nicht zuletzt aufgrund seiner protestantischen Erziehung noch nie eine Zigarette geraucht und nur zwei-, dreimal an Joints gezogen hatte, ohne dass es einen starken Effekt gezeitigt hätte.

Doch dies sollte eine besondere Nacht werden, unsere Freundschaft auf eine neue Ebene heben, das war unser euphorischer Plan. Während die anderen Gäste mit ihren alkoholischen Getränken im Wohnzimmer die Anlage aufdrehten, zog ich mich mit F. in die Küche zurück. Er hatte ein paar Gramm Pot dabei und erhitzte es mit dem Feuerzeug, während ich auf dem Herd einen kleinen Topf Milch erwärmte. Gekonnt bröselte er die kleinen Stückchen hinein und ich gab ein paar Löffel Kakaopulver hinzu, das wir zur Sicherheit gleich selbst mitgebracht hatten. Beiderlei braune Krümel lösten sich mehr oder weniger auf und schon warteten auf dem Küchentisch zwei Tassen mit warmem Kakao auf uns.
Ein Makel an F.s bemerkenswert konsequenter, kontrollierter Attitüde war das Bedürfnis, dass seine Freunde bitteschön genauso bekifft sein sollten wie er selbst, das hatte ich schon des Öfteren bemerkt. Diese Haltung war durchaus nachvollziehbar, nicht nur aus jugendlicher Unsicherheit, sondern mehr noch da der provinzielle Alltag für uns ja von klein auf die Gewöhnung an einen autoritären Geist beinhaltete: »Einen Schnaps trinkst du ja wohl noch mit!« Was hier – von Vereinsfesten und familiären Geburtstagsfeiern bekannt – nicht als Frage formuliert ist, war auch nie als Frage gemeint, sondern diente vielmehr der gegenseitigen Einübung in Befehlston und Gruppenzwang. Unter den eigentlich so betont dissidenten Dorfkiffern war ebenfalls ein gewisses Mitläufertum verbreitet und erwünscht, ohne dass man sich dies freilich jemals eingestanden hätte.
Ich bekam also die Tasse, in der noch deutlich sichtbare Bröckchen schwammen, und nahm sie gern an. F. hatte mich vorher gebrieft, dass es bei Kakao eine geraume Zeit dauern werde, bis die Wirkung einsetzt. Wir gingen also rüber zu den Anderen und F. stellte mich der Clique der Gastgeberin vor. Ich versuchte mich sogleich interessant zu machen mit dem Partythema Politik und Nazis. Mäßig interessiert wurde mir mitgeteilt, dass in der Nachbarschaft leider auch eine regionale Nazigröße wohne … Und sonst so? Ich zu F.: »Merkst Du schon was?« »Nee, und Du?« »Auch noch nicht.« Während F. sich in weitere Gespräche vertiefte, beobachtete ich aus der Ecke die Szenerie. Was waren das alles wohl für Menschen? Warum konnten die nur so gut schwimmen? Worüber sprachen sie allesamt so angeregt? Und was zum Teufel machte ich hier überhaupt? Außerdem: Warum klang die mittelprächtige Rockmusik plötzlich so intensiv? Und warum saß die Gastgeberin nun auf F.s Schoß? Das hatte ich nicht kommen sehen, und irgendwie fühlte ich mich unwohl. »Ich glaube, es geht los.« »Ja, super, oder!?« »Hm, geht so. Das ist mir alles zu viel.« Reizüberflutung, das Gefühl, beobachtet zu werden, Schweißausbruch. »Kannst Du mir bitte die Autoschlüssel geben, ich glaub, ich muss hier mal kurz raus!« »Okay Micha, wenn Du meinst.«
Frische Luft, Ruhe, Abkühlung. Das Auto als Zufluchtsort, Hort von Sicherheit und Geborgenheit. Ich suchte an F.s Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel, steckte den ersten, den zweiten, den dritten ins Schloss, die Tür öffnete sich nicht. Das konnte nicht sein, ich hatte doch alle ausprobiert, und es war das richtige Auto, so viel konnte ich noch erkennen. Panik, der Versuch auf der Beifahrerseite zu öffnen, wieder ohne Erfolg. »Ich gehe eine Runde um den Block. Vielleicht mache ich irgendwas falsch, vielleicht muss ich mich einfach besinnen, wieder nüchtern werden.« Ich ging also eine Runde um den Block, um nach zehn Minuten wieder vor F.s. Auto zu stehen: Nochmal, der erste, der zweite, der dritte, nichts. »Autoschlüssel haben immer eine Plastikummantelung, es muss doch einer von ihnen sein. Na gut, dann mal den nackten Haustürschlüssel versuchen.« Und die Autotür öffnete sich, endlich. Tür zu, Radio an, auf andere Gedanken kommen. Krass, diese Musik – Radio lieber wieder aus.
Jetzt überkam mich ein wahnsinniger Durst, mein Mund war so trocken, aber wir hatten keine Wasserflasche im Auto gelassen. Zurück auf die Party zu gehen, um etwas zu trinken, war undenkbar. Ich hatte es schließlich gerade erst mit größter Mühe ins Auto geschafft. Im Handschuhfach befand sich lediglich eine Packung Kinder-Em-eukal. »Vielleicht hilft mir der Geschmack des süßen Hustenbonbons im Mund ja beim Klarkommen.« Mein Gaumen war nun nicht mehr nur trocken, sondern unerträglich klebrig und zuckrig, alles zog sich zusammen und meine Lippen fühlten sich zugleich an wie eine ausgepresste Zitrone. Ich nahm das halbgelutschte Bonbon aus dem Mund und klebte es unter den Beifahrersitz. »Vielleicht hilft es, mich hinzulegen und die Augen zu schließen.« Ich wechselte auf die Rückbank und versuchte, mich bei geschlossenen Lidern zu beruhigen. Seltsame Farbgrafiken tauchten vor meinem inneren Auge auf, die mich diffus an meine Kindheit erinnerten. Aber es fühlte sich nicht gut an, ganz im Gegenteil. »Verdammter Haschisch-Kakao, werde ich jemals wieder normal sein können? Wie lange dauert das noch?«

Nach einer halben Ewigkeit, die vermutlich bloß eine Stunde umfasste, kam F. zum Auto. »Hey Micha, willst du nicht wieder mit hoch kommen?« »Neinnein, ich bleib lieber noch ein bisschen hier.« »Es ist eh bald zwölf, dann kommst du aber aus dem Auto!?« Wenig später holte er mich tatsächlich heraus, auf dass ich mit anstoßen könne. Widerwillig trank ich ein Glas Sekt mit, immerhin ein wenig Flüssigkeit im Mund. Und los ging die Böllerei. Raketen düsten gen Himmel, Vulkane feuerten rote und grüne Punkte in die Luft, links und rechts knallte es immer wieder, viel zu laut. Und die Menschen in meiner Nähe wedelten mit leuchtenden Zauberstäben herum, die glitzernd Pirouetten drehten. Wie ich dort unter einem Baum an den Maschendrahtzaun angelehnt stand, bekam auch ich eine Wunderkerze in die Hand gedrückt. Doch irgendetwas stimmte nicht, das spürte ich bereits seit Minuten, im Hintergrund gab es etwas ungemein Bedrohliches, ich hatte nur noch nicht die Kraft gefunden, genauer darauf zu achten. Jetzt trat es aber mit Wucht in mein Bewusstsein. Während wir hier so ausgelassen feierten, schallten von einem nahegelegenen Hinterhof ohne Unterlass die mächtigen Sprechchöre: »Rudolf Heß, Rudolf Heß!« Das Nazipack der ganzen Region schien in direkter Nachbarschaft gefeiert zu haben und war nun bereit, seinen Hass auf die Straße zu tragen. »Rudolf Heß, Rudolf Heß!« Aber wieso reagierte niemand der anderen darauf? Selbst F. tänzelte weiterhin mit Luftschlangen um den Hals und zwei Wunderkerzen in der Hand den Bürgersteig entlang. Sie müssen es doch auch alle hören. Ich presste mich mit dem Rücken an den Zaun und versuchte, ruhig zu bleiben. Nachdem das aggressive Gegröhle minutenlang weitergegangen war, wurde mir langsam bewusst, dass es sich gar nicht um mehrere Stimmen handelte. Nein, es war nur eine einzelne, nämlich das verzweifelte Gebell eines großen Hundes, vermutlich eines Schäferhundes – ob belgisch oder deutsch konnte ich dem plötzlich völlig klaren Klang nicht entnehmen. Was für eine Erleichterung, wenigstens würde mir in dieser Nacht nicht eine Bande angesoffener Vorstadt-Faschisten die Fresse polieren. Gleichzeitig: »Was zur Hölle passiert mit meinem Gehirn, dass es mir solche Streiche spielt? Und warum scheint F. derweil einen herrlichen Abend zu haben?«
Der Freundschaft mit F. tat dieser scheußliche Start ins neue Jahr, dieses selbstverantwortete drogeninduzierte Purgatorium zwar keinen Abbruch, wir redeten aber nie darüber, wie es zu diesem persönlichen Desaster hatte kommen können. Er entschied sich im Übrigen tatsächlich vorrangig für die Sportlaufbahn, aber als Amateur, einen positiven Dopingtest auf THC inklusive, während ich erst ein paar Jahre später schlau genug war, ein für alle Mal die Finger von den Rauschmitteln zu lassen, die mir so offensichtlich nicht gut taten. Vor Hunden habe ich zum Glück nach wie vor keine Angst, nur manchmal, wenn mich ein großer, freundlicher Hund schwanzwedelnd mit seinen treuen Augen anschaut, weil er gestreichelt werden möchte, frage ich vorher lieber nochmal vorsichtig bei ihm nach: »Rudolf Heß?«