Frankreichs Politik in Mali und Nigeria

Hauptsache mitmischen

Mali und Nigeria kommen nicht zur Ruhe. Die Interventionspolitik Frankreichs in der Sahelzone ist umstritten.

Wer hat die Bezeichnung Terrorist verdient? Der Streit ist alt, unter anderem, weil der Begriff oft zur Stigmatisierung von Gegnern der jeweiligen Machthaber benutzt wird. Umgekehrt werden Terroristen oft als Freiheitskämpfer stilisiert, um berechtigte Kritik an bewaffneten Gruppen abzuwehren, die tatsächlich nicht nur die Regierenden bekämpfen, sondern auch die Bevölkerung terrorisieren.
In der afrikanischen Sahelzone mangelt es derzeit nicht an bewaffneten Verbänden und Gruppierungen. Auch nicht an solchen ausgesprochen zweifelhafter Art. Was die jihadistische Sekte Boko Haram in Nigeria betrifft, so steht das Urteil der sogenannten internationalen Gemeinschaft fest: Die Vereinigung wurde am Donnerstag voriger Woche auf die »Terrorliste« der Vereinten Nationen gesetzt. Auch sonst dürften am Wesen Boko Harams kaum Zweifel bestehen. Verschiedene Großmächte versuchen zugleich, politischen Einfluss in der Region zu nehmen – zumindest vordergründig, um die schwerbewaffnete Sekte zu bekämpfen. Vor allem seit diese sich am 5. Mai offiziell zur Entführung von über 200 Schülerinnen in der Nacht vom 14. zum 15. April in der Stadt Chibok bekannt hatte (Jungle World 20/2014).

In Frankreich berief Präsident François Hollande am 16. Mai einen Sondergipfel »zur Sicherheit in Afrika« ein, der überwiegend dem Problem Boko Haram gewidmet war. Dazu lud er Nigerias Prä­sidenten Goodluck Jonathan sowie die Staatsoberhäupter der vier Nachbarländer, Kamerun, Tschad, Niger und Benin, nach Paris ein. Diese ließen verlautbaren, die Befreiung der entführten Mädchen habe oberste Priorität in der Region. Bisher hatte zumindest Kameruns Präsident Paul Biya, ein Freund Frankreichs in der Region, nicht gerade aktiv zur Bekämpfung der mörderischen Sekte beigetragen. Seit 1982 steht er einem autoritären Regime vor. Hartnäckig hält sich das Gerücht, die verschleppten Mädchen könnten sich im Norden Kameruns befinden, wo Boko Haram seit langem eine Basis hat. Im November 2013 entführten die Jihadisten dort den französischen Priester Georges Vandenbeusch. Er wurde nach anderthalb Monaten freigelassen. Vermutet wird, örtliche Behörden in Kamerun drückten ein Auge zu und erhielten dafür finanzielle Gegenleistungen.
Der Gipfel in Paris endete mit einer Erklärung, in der ein Austausch von Erkenntnissen und die Einrichtung einer gemeinsamen Geheimdienstplattform in Nigerias Bundeshauptstadt Abuja angekündigt werden. Dazu wird Frankreich beitragen, aber auch die USA, Israel sowie China haben ihre Mitwirkung angekündigt. Luftaufnahmen, die Näheres über die schätzungsweise rund 200 Camps von Boko Haram im Nordosten Nigerias und Nordwesten Kameruns verraten sollen, werden sowohl von US-amerikanischen Drohnen als auch von französischen Kampfflugzeugen, die demnächst von Militärbasen im Tschad aus starten könnten, zur Verfügung gestellt.
Die militärische Offensive vor Ort soll aus­schließ­lich von nigerianischen Streitkräften getragen werden. Diese sind allerdings nach verbreiteter Auffassung Teil des Problems (Jungle World 20/2014). Amnesty International warf der nigerianischen Armee am 9. Mai vor, sie sei vor der Geiselnahme in Chibok gewarnt worden und habe nichts dagegen unternommen. Nun wird ihr weiteres Vorgehen sicherlich unter in­ternationaler Beobachtung stehen. An ihrem eben­so korrupten wie brutalen Charakter wird dies nichts ändern.

Einige Beobachter kritisieren zudem, Frankreich habe die Gunst der Stunde genutzt, um seinen Einfluss auf die frühere britische Kolonie Nigeria zu gewinnen. Es ist nicht das erste Mal, dass Frankreich Anläufe dazu unternimmt. Angesichts eines Staatsbesuchs in Nigeria unterbreitete der damalige französische Premierminister François Fillon (UMP) am 24. Mai 2009 den dortigen Behörden das Angebot, militärische Hilfe zu leisten. Damals ging es nicht um bewaffnete Jihadisten, sondern um Rebellen im Nigerdelta, der wichtigsten Ölförderregion Nigerias, deren Bevölkerung trotz des Ressourcenreichtums unter extremer Armut und Umweltzerstörung leidet. Die nigerianische Seite ging allerdings nicht auf das Angebot ein.
Größeren Zuspruch hatte Frankreich in Mali erfahren, wo es seit Januar vergangenen Jahres gegen bewaffnete Jihadisten vorging. Rund 1 000 französische Soldaten stehen nach wie vor in Mali. Es war einige Monate lang still geworden um den dortigen Konflikt, was keinesfalls bedeutet, dass die Kämpfe im Norden beendet wären oder sich beruhigt hätten. Insbesondere in Kidal im äußersten Nordosten Malis standen sich bewaffnete Bürgerkriegsparteien unversöhnlich gegenüber. Die sezessionistische, überwiegend von Angehörigen der Tuareg-Minderheit getragene »Nationale Befreiungsfront von Azawad« (MNLA) hatte infolge des Abkommens von Ouagadougou vom Juni 2013, das einen Waffenstillstand einleitete und die Abhaltung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der zweiten Jahreshälfte ermöglichte, ihre Waffen behalten. Dem Abkommen zufolge hätte sie sich allerdings in spezielle Kasernen zurückziehen müssen, während die malische Staatsmacht mit Armee, Gouverneur und Zivilverwaltung nach anderthalbjähriger Abwesenheit aus Kidal dort wieder Einzug halten sollte. Doch es lief genau andersherum: Die Staatsmacht hatte sich auf wenige Gebäude zurückgezogen, während die MNLA-Kombattanten weite Teile der Stadt beherrschten. Französische Truppen standen als Puffertruppe dazwischen und kontrollierten den Flughafen der Stadt.

Am 17. Mai zerbrach nun die prekäre Waffenruhe. Der seit Anfang April amtierende neue Premierminister Malis, Moussa Mara, beschloss, an diesem Tag Kidal zu besuchen. Sein Besuch war vorher angekündigt worden und Mara berief sich darauf, dass im Süden wie im Nordosten Malis »jeder Mali gleichermaßen zu Hause« sei. Der Besuch sei deswegen keineswegs als politische Provokation zu werten, wie der MNLA behauptete, sondern habe eine »rein administrative Funktion«.
Es kam dennoch zu Kämpfen, wobei ungeklärt ist, was genau diese ausgelöst hat. Der MNLA behauptet, es habe zunächst eine zivile Demons­tration gegebenen und dabei hätten »die Malier« – die Bewegung betrachtet die Streitkräfte als die eines fremden Landes – »das Feuer auf Frauen und Kinder eröffnet«. Die malischen Behörden sprechen dagegen von Attacken bewaffneter Freischärler auf den Regierungskonvoi. Die Angreifer seien nicht nur MNLA-Kombattanten, sondern auch Mitglieder des »Hohen Rats für die Einheit von Azawad« (HCUA), einer zivilen Vorfeldorganisation der bewaffneten islamistischen Gruppe Ansar Dine, und Jihadisten gewesen. Nur letztere werden von der französischen Armee sowie der UN-Truppe Minusma als Terroristen eingestuft. Die malische Regierung beklagt, dass eine ebensolche Einstufung des MNLA von beiden verweigert werde. Die französische Regierung und das Militär haben nach wie vor Kontakt zu Instanzen des MNLA, die teilweise in Paris angesiedelt sind.
Mara beklagt zudem, die UN-Truppe und die französische Interventionstruppe Serval hätten sich geweigert, sich zwischen ihn und seine Angreifer zu stellen und die Fortführung seines Besuchs zu ermöglichen. Die vorläufige Bilanz nach mehrtägigen bewaffneten Zusammenstößen, die am 17. Mai und erneut am Mittwoch vergangener Woche aufflammten, liegt laut Angaben der malischen Regierung bei 49 getöteten Regierungssoldaten. Anfänglich wurden von den bewaffneten Verbänden des MNLA und seiner Verbündeten auch 36 Geiseln genommen, darunter der stellvertretende Gouverneur, die aber am folgenden Tag freigelassen wurden. Der MNLA nahm daraufhin mehrere offizielle Gebäude ein, darunter den Gouverneurssitz, und kontrollierte am Freitag voriger Woche auch weitere Städte wie Aguelhok, Tessalit und Ménaka. In Aguelhok hatte im Januar 2012 jene Offensive begonnen, die für ein gutes Jahr zur Spaltung des Landes in einen Nord- und Südteil geführt hatte.
Damit schien erneut eine Eskalation wie im Januar vor zwei Jahren erreicht. Die malische Regierung forderte Verstärkung bei Serval an, die ihre Truppen mit französischen Soldaten aus Abidjan kurzfristig auf 1 600 bis 1 700 Mann aufstockte. Allerdings behält Frankreich seine am­bivalente Politik bei. Es hält sowohl zur malischen Regierung als auch zum MNLA Kontakt, weswegen es in Bamako am Donnerstag voriger Woche bei einer Demonstration gegen die französische Politik eines doppelten Spiels verdächtigt wurde. Die französischen Parlamentarier François Lon­cle (PS) und Pierre Lellouche (UMP), als Vertreter von Regierung und Opposition, erklärten an jenem Donnerstag in Bamako, Frankreich habe »den Terrorismus zu bekämpfen, aber nicht in einem Bürgerkrieg« mitzumischen. Terroristen sind demzufolge nur die Islamisten, nicht jedoch der MNLA.
Am vergangenen Samstag endeten die Auseinandersetzungen vorläufig mit einem Waffenstillstand zwischen malischer Regierungsarmee, MNLA und HCUA in Kidal. Nach wie vor bleibt die Lage aber höchst angespannt.