FN, Ukip und die Folgen für Europa

Die neue europäische Trennlinie

Der Wahlsieg rechter Parteien in Frankreich und Großbritannien stellt eine ­Veränderung der politischen Situation in Europa dar. Wie geht man damit um?

Was verbindet die britische United Kingdom Independence Party (Ukip) und den französischen Front National, die deutlichen Sieger dieser Europawahlen? Beide Parteien kombinieren eine tief sitzende Feindseligkeit gegenüber Immigration mit einer verbitterten Ablehnung der EU, einen virulenten Nationalismus mit zutiefst konservativen Ansichten bezüglich gesellschaftlichen Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe und Frauenrechte. Diese abscheulichen Ansichten sind aber nicht das einzige Problem, das solche Parteien für das Establishment darstellen. Ihr Erfolg verändert die politische Situation in Europa auf eine Art, die die traditionellen politischen Parteien oft nicht verstehen.
Nehmen wir die Ukip. Weil sie im Wahlkampf sowohl für die Labour-Partei als auch für die ­Tories gefährlich geworden war, wurde sie von Politikern jeder Couleur sowie von den Medien stark angefeindet. Etwa mit der Enthüllung, dass der Parteivorsitzende Nigel Farage sich aus einem illegalen EU-Fonds bedient hat. Die rassistischen, sexistischen und schlichtweg schwachsinnigen Ansichten zahlreicher Ukip-Mitglieder, Stadträte und Abgeordneter sind öffentlich skandalisiert worden. Gemäß den alten Regeln der Politik hätten solche heftigen Angriffe die Wahlaussichten der Partei negativ beeinflusst. Das war aber nicht so. Die Kritik der Medien, die politische Häme und die öffentlichen Bloßstellungen haben Farages Popularität wenig geschadet. Eher das Gegenteil ist geschehen.
Parteien wie die Ukip und der FN stellen eine neue Trennlinie auf der politischen Landkarte Europas dar. Das traditionelle Parteiensystem der Nachkriegszeit, das auf der Unterscheidung zwischen Sozialdemokraten und Konservativen beruhte, ist demontiert worden. Dieser Umstand hat dem Populismus den Weg bereitet und den politischen Handlungsspielraum grundlegend verändert. Im postideologischen Zeitalter wurde die Politik immer mehr zu einer Frage des technokratischen Managements und immer weniger eine der sozialen Transformation. Die etablierten Parteien haben sich von ihren ideologischen Bindungen und ihrer traditionellen Wählerschaft gelöst, so dass große Teile der Öffentlichkeit sich vom politischen Prozess entfernt haben. Das ist der Grund, warum viele Populisten und rechtsextreme Gruppen sich erfolgreich als »antipolitische« Parteien profilieren konnten.
Die neue politische Trennlinie in Europa scheidet nicht rechts von links, Sozialdemokraten und Konservative, sondern jene, die sich im postideologischen, postpolitischen Zeitalter zu Hause fühlen – oder zumindest sich daran anpassen können –, und jene, die sich aussortiert, enteignet und ohne Stimme fühlen. Diese Spaltung hat zwar immer schon existiert. In der Vergangenheit aber konnte das Gefühl der Enteignung und Einflusslosigkeit politisch durch die Organisationen der Linken und der Arbeiterbewegung aufgefangen werden. Das war einmal.
Die Wirtschaftskrise; der Kollaps der Fertigungsindustrie; die Atomisierung der Gesellschaft; die Neutralisierung der Gewerkschaften; die gesellschaftliche Verachtung gegenüber allem, was man als Klassenpolitik bezeichnen kann – all das hat zur Auflösung von Solidaritätsbündnissen geführt, die politische Stimme der Arbeiterklasse wurde immer marginaler.
Britische Kommentatoren wie David Goodhart und Akademiker wie Matthew Goodwin und Rob Ford sprechen von der »zurückgelassenen Arbeiterklasse«, während der französische Urbanist Christophe Guilluy diese Entwicklung mit dem Begriff des »peripheren Frankreich« beschreibt (Jungle World 18/2013). In seinen Büchern »Fractures Françaises« und »Atlas des nouvelles fractures sociales en France« schildert er, wie bestimmte Bevölkerungsteile »infolge der Deindustrialisierung und der Gentrifizierung aus den urbanen Zentren vertrieben wurden«, weit weg von den Orten, »an denen ökonomische und politische Entscheidungen getroffen werden« und »in einem Zustand der sozialen und kulturellen Nicht-Integration« leben.
Die europäischen Gesellschaften sind sozial atomisiert und von Identitätspolitik zerrissen. Die Atomisierung hat der entwurzelten Mittelschicht in die Hände gespielt. Identitätspolitik hat die Entstehung von Communities befördert, die sich durch Glaube, Ethnizität oder Kultur definieren. Die »Zurückgelassenen« waren zwar ­Opfer bestimmter ökonomischer und politischer Transformationen, nehmen ihre Marginalisierung jedoch vor allem als kulturellen Verlust wahr und artikulieren ihre Unzufriedenheit immer mehr durch die Sprache der Identitätspolitik. Weil diese Unzufriedenheit in kulturellen und nicht in politischen Kategorien zum Ausdruck kommt, wird sie vor allem durch die Ablehnung von Immigration transportiert. Klassenzugehörigkeit ist zum kulturellen Attribut geworden und so werden diejenigen, die als kulturell verschieden gelten, zur Bedrohung. Immigration wurde so zur allgemeinen Erklärung für unzumutbare soziale Veränderungen und zum Symbol für das Scheitern des liberalen politischen Establishments.
Der Front National war ursprünglich eine ras­sistische, rechtsextreme Organisation, bis Marine Le Pen sie als profranzösische, antieuropäische Partei profilierte. Die Ukip war hingegen ursprünglich eine antieuropäische Partei, die sich später durch die Ablehnung von Immigration neu positionierte. Beide Parteien präsentieren sich als die Außenseiter und Vertreter der Interessen der Marginalisierten und Machtlosen gegenüber den Eliten. Nigel Farage ist Sohn eines Börsenmaklers, er hat am Dulwich College, einer der exklusivsten britischen Privatschulen, studiert und sein Geld als Bankier in der Londoner City verdient. Dass so jemand als die Stimme »des Volkes« angesehen wird, sagt weniger etwas über die Ukip aus als über die Verachtung der britischen Wähler für die politische Klasse.
Was die Angriffe der Mainstream-Politiker gegen Ukip und FN besonders wirkungslos macht, ist der Umstand, dass sie diese Parteien für ihren Rassismus kritisieren, aber gleichzeitig selbst Ängste vor Immigration schüren und eine entsprechende Gesetzgebung vorantreiben.

Wie geht man nun mit den Populisten um? Erstens muss man aufhören, mit dem Finger auf Politiker und Parteien zu zeigen, und sich stattdessen mit den Themen auseinandersetzen, die so viele Wähler dazu gebracht haben, diese Parteien zu unterstützen. Ja, vieles an der Politik von Ukip und FN ist abscheulich und viele ihrer Führungspersonen vertreten widerwärtige, sexistische, rassistische und homophobe Ansichten. Viele FN- und Ukip-Wähler sind Hardcore-Rassisten. Andere fühlen sich aber aus ganz anderen Gründen von diesen Parteien angezogen, nämlich, weil sie in diesen Organisationen die einzigen ­sehen, die ihre Unzufriedenheit gegenüber der etablierten Politik zum Ausdruck bringen. Politiker der Ukip und des FN nur als Rassisten an den Pranger zu stellen, wird ihrer Popularität wenig schaden. Eine solche Kritik ist nicht falsch, sie ist aber zwecklos, wenn sie zur einzigen Strategie im Umgang mit diesen Parteien wird.
Sich mit den Sorgen potentieller Ukip- oder FN-Wähler zu beschäftigen, bedeutet nicht, bei reaktionären Argumenten nachsichtig zu sein. Es bedeutet ganz im Gegenteil, diese Argumente öffentlich und entschieden herauszufordern. Die Idee demontieren, zum Beispiel, dass Immigration für fehlende Jobs und Wohnungen verantwortlich sei; dass weniger Immigration niedrigere Kriminalitätsraten bedeuten würde, oder dass Muslime ein Problem für den Westen darstellen. Es bedeutet aber auch, nicht nur die Ukip und den FN ins Visier zu nehmen, sondern auch die Tories, die Labour-Partei und Liberaldemokraten sowie den Parti Socialiste, die UMP und den Nouveau Centre zu kritisieren. Denn es ist die migrantenfeindliche Rhetorik der etablierten Parteien, die Menschen für die migrantenfeindliche Rhetorik der Populisten empfänglich macht.
Schließlich müssen wir neue soziale Mechanismen etablieren, die es ermöglichen, liberale Ideen über Immigration und individuelle Rechte mit progressiven ökonomischen Argumenten und mit dem Glauben an community und Kollektivität zu verbinden. Diejenigen, die heute teilweise zurecht den Zerfall von kollektiven Bewegungen und Community-Organisationen beklagen, machen oft auch »zu viel Immigration« dafür verantwortlich. Diejenigen, die liberale Ansichten über Immigration und andere sozialen Fragen vertreten, sind oft glücklicher in dieser atomisierten, individualisierten Gesellschaft. Um die Populisten wirksam zu bekämpfen, sollten diese Elemente einer progressiven Anschauung in einer sozialen Bewegung zusammenkommen.

Gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Textes »Europe’s new faultline«, erschienen auf: kenanmalik.wordpress.com

Aus dem Englischen von Federica Matteoni