Die Leitzinspolitik der EZB

Kredit ist nicht gefragt

Die Europäische Zentralbank verbilligt mit ihrer Leitzinspolitik das Geld immer weiter, verfehlt aber alle Wachstumszielen.

Fast scheint es, als wäre Silvio Gesell, dem Autodidakten, notorischen Außenseiter unter den Ökonomen und Erfinder der sogenannten Freigeldtheorie, über 84 Jahre nach seinem Tod endlich ein kleiner Durchbruch in der Politik gelungen, der ihm nicht nur zu Lebzeiten stets verwehrt geblieben war. Denn erstmalig in der Geschichte verfügte mit der Europäischen Zentralbank (EZB) in der vergangenen Woche eine große Notenbank einen negativen Einlagezins für Banken. 0,1 Prozent an Zinsen müssen Banken zukünftig auf ihr bei der EZB geparktes Geld an diese bezahlen. Schon zuvor lag der Einlagezins nur bei null, vor der Krise hatte er noch bei über drei Prozent gelegen. Nicht investiertes Geld verliert also zukünftig für die Banken an Wert – ein Novum in der Wirtschaftsgeschichte der großen Nationalökonomien.
Gesell, Anhänger der Eugenik, hatte stets das »Unnatürliche« des Zinses hervorgehoben und den Wertverlust gesparten Geldes sowie das Zinsverbot zu den zentralen Forderungen seiner (Geld-)Theorie erhoben. »Nur wenn dem Verkauf Zug um Zug ein neuer Kauf folgt«, könne eine dauerhafte Stabilität des Wirtschaftens und ein kräftiges Wachstum gewährleistet werden, schrieb Gesell in seinem Hauptwerk »Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld«, das erstmals 1916 erschien. Um die Marktteilnehmer vom Sparen abzuhalten, müsse gehortetes Geld sukzessive an Kaufkraft einbüßen. Wertstabiles Geld dagegen »bedingt den Kapitalismus, den Zins, die Massenarmut, die Revolte und schließlich den Bürgerkrieg, der zur Barbarei zurückführt«, heißt es bei Gesell weiter.

Dass Mario Draghi, Vorsitzender der EZB, die Angst vor der Barbarei angetrieben hat, ist hingegen unwahrscheinlich. An die Vorgabe Gesells, »den Zins in einem Meer von Kapital zu ersäufen«, hat er sich aber gehalten. Denn auch der Leitzinssatz, zu dem Banken sich Geld von der EZB leihen können, wurde nochmals von 0,25 auf 0,15 Prozent reduziert. Zudem sollen den europäischen Banken weitere 400 Milliarden Euro an Krediten zur Verfügung gestellt werden, die vor allem für Investitionen durch Unternehmen in europäischen Krisenstaaten gedacht sind. Zudem hofft die EZB vor allem auf ein Anstieg der In­flationsrate des Euro auf die längst zum Ziel erhobenen zwei Prozent. Zuletzt war diese allerdings nochmals von 0,7 auf 0,5 Prozent gesunken und könnte ohne ein Gegensteuern, zumindest den Prognosen der Citibank zufolge, demnächst auf 0,3 Prozent abrutschen, was Exporte europäischer Unternehmen weiter verteuern und damit deren Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern würde. Das sieht man bei der EZB nicht gerne. Und so will Draghi, sollten die beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichen, zukünftig auch den ­»Ankauf von Wertpapieren auf breiter Grundlage« nach dem Muster der Politik des quantitative easing der US-Notenbank (Fed) nicht mehr ausschließen, wie er auf der Pressekonferenz nach dem EZB-Beschluss mitteilte.
Das Problem ist nur, dass kaum jemand das billige Geld haben will. In seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick hat bereits der Internationale Währungsfonds (IWF) auf einen globalen »Kollaps der Nachfrage nach Kapital« hingewiesen. So das immer weiter sinkende Zinsniveau – hierzulande immer öffentlichkeitswirksam als »Enteignung der Sparer« tituliert – eine logische Folge dieser Investitionsmüdigkeit, die allerdings entgegen den vermeintlichen volkswirtschaftlichen Gewissheiten auch kaum geholfen hätte, die Nachfrage zu erhöhen. Denn selbst die immer neuen historischen Tiefststände der Leitzinsen rufen keine nennenswerte Nachfrage nach Kapital her­vor. Auch den Protagonisten der Währungspolitik bleibt dies nicht länger verborgen. So musste etwa Jürgen Stark, der ehemalige Chefvolkswirt der EZB, vor dem EZB-Beschluss in der FAZ resigniert eingestehen, dass der Zins »bereits seine Signal- und Steuerfunktion verloren« habe.
Insgesamt beträgt den Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge der Anteil der Investitionen an der Wirtschaftsleistung der OECD-Staaten nur noch rund 20 Prozent. 1980 waren es noch fünf Prozentpunkte mehr, während die Quoten in der Nachkriegszeit zumeist deutlich über 30 oder gar 40 Prozent lagen. Die Überkapazitäten in fast allen Segmenten des produzierenden Gewerbes lassen neue Investitionen auch nicht gerade als attraktiv erscheinen. Der Berater der weltweit größten Investmentgesellschaft Pimco, der New Yorker Wirtschaftswissenschaftler Richard Clarida, hatte zu Beginn des Jahres nach Untersuchungen in den Kernbereichen der globalen Industrieproduktion darauf hingewiesen. Es sei »nicht möglich, mit herkömmlichen Mitteln genug Nachfrage zu erzeugen, um die globalen Produktionskapazitäten auszulasten«, so Clarida.

Wenn überhaupt investiert wird, dann können die Unternehmen dies zudem häufig genug mit ihren eigenen Rücklagen bewerkstelligen. Der Konzern BMW etwa hatte im vergangenen Jahr seine Investitionen um 20 Prozent auf sieben Milliarden Euro gesteigert, um die Produktionsstätten in Leipzig und Landshut zu modernisieren und ein Motorenwerk in China aufzubauen. Kredite hat der Konzern dafür nicht gebraucht, sondern dies aus Eigenkapital finanziert. Und BMW steht nicht allein da. Der nichtinvestierte Gesamtüberschuss deutscher Unternehmen soll nach Angaben der Bundesbank allein im vergangenen Jahr 13,2 Milliarden Euro betragen haben. Der US-Konzern Apple soll gar über 150 Milliarden Euro verfügen. »Die Unternehmen sitzen auf Bergen von Geld«, hatte zuletzt David Milleker, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft Union Investment, konstatiert. Wenn schon die Rücklagen der Global Player ganz offensichtlich nicht mehr profitabel investiert werden können, kann das fehlende Bedürfnis nach Kredit kaum überraschen.
Vor allem ist diese »Krise der Profitabilität« (Robert Brenner) und die daraus resultierende Überakkumulation von Kapital keineswegs nur derzeit ein Problem, sondern schlägt sich in seit Jahrzehnten sinkenden Wachstumsraten der Weltwirtschaft nieder. Daten der Weltbank zufolge betrug das Wachstum im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in den Ländern der Euro-Zone durchschnittlich 1,2 Prozent – nur noch halb so viel wie in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten und nur noch ein Drittel beziehungsweise etwas mehr als eine Viertel im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor. In den anderen großen Nati­onalökonomien verlief die Entwicklung ähnlich. In Japan wies das vergangene Jahrzehnt gar nur ein Zehntel des Wachstums der sechziger Jahre auf und auch in den USA sank es konstant von Dekade zu Dekade. Längst hat der Pessimismus auch die Herrschenden befallen. Die EU-Kommission verlautbarte, dass für das kommende Jahr ein Wachstum von 1,1 Prozent bereits ein Erfolg wäre. Und jüngst urteilte der ehemalige Chefökonom der Weltbank und wirtschaftspolitische Berater von US-Präsident Barack Obama, Larry Summers, gemeinsam mit einer Gruppe namhafter Wirtschaftswissenschaftler, dass man sich auf eine »lang anhaltende Phase der wirtschaftlichen Stagnation« einrichten solle, die, wenn überhaupt, nur durch eine intensive staatliche Nachfragepolitik gestoppt werden könne.

Angesichts der gigantischen Staatsverschuldungen und der Beobachtung, dass trotz der größten Konjunkturpakete der Geschichte die Wirtschaftsleistung erst im vergangenen Jahr überhaupt wieder das Vorkrisenniveau erreicht hat, ist dies keine ermunternde Perspektive. Noch weniger haben die verschiedenen Maßnahmen der »Politik des billigen Geldes« daran etwas ändern können. Die lockere Politik der EZB, der Bank of Japan und der Fed haben in den jeweiligen Ländern keine Trendwende einleiten können. Nicht einmal eine erhöhte Inflation konnte durch die Kreditschwemmen hervorgerufen werden, weil Kredite in zu geringem Maße nachgefragt wurden.
Wenn die Handlungsfähigkeit so gering ist, werden auch bisher randständige Ideen gelegentlich aufgegriffen – wie aktuell die Schwundgeldkonzeption Gesells (siehe auch Seite 15). Ganz neu ist das nicht. Bereits in den dreißiger Jahren hatte der US-Ökonom Irving Fisher, einer der bedeutendsten Volkswirte seiner Zeit und laut eigener Aussage »bescheidener Schüler des Kaufmanns Gesell«, der US-Regierung unter Franklin D. Roosevelt einen Negativzins als Begleitprogramm des New Deal vorgeschlagen. Im Herbst 2008 entdeckten auch Greg Mankiw und Brad DeLong – die bis dato als Mainstream-Ökonomen galten – von den Eliteuniversitäten Harvard und Berkeley Gesells Ideen wieder und propagierten allgemein gültige negative Zinsen.
Erstmalig – sieht man von einigen Regionalwährungen in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz ab – experimentierte nach der Krise gar eine Regierung mit negativen Einlagezinsen. Mitte 2012 senkte die dänische Zentralbank die Zinsen für kurzfristige Einlagen unter null. Allerdings stieg auch dadurch die Kreditvergabe keineswegs an, sie sank sogar weiter. Eine vom Brüsseler Think Tank Bruegel in Auftrag gegebene und von den Wirtschaftswissenschaftlern Pia Hüttl und Zsolt Darvas erstellte Studie verweist darauf, dass das Geld, ganz im Gegensatz zu Gesells Intentionen, sogar von den Zentralbankkonten in spekulative Bereiche transferiert worden sei. Auf ähnliche Aussichten hat nun auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, in Bezug auf die EZB-Politik hingewiesen. Die Maßnahmen würden »weder die Kreditvergabe in den Krisenländern maßgeblich verbessern, noch das Deflations­risiko deutlich mindern«, teilte Fratzscher mit. Niedrigere Zinsen könnten eher die Blasenbildung verstärken. Das Warten auf die große Entwertung des überschüssigen Kapitals geht also weiter. Auch die kleine Gesell-Renaissance wird da letztlich nur Episodencharakter haben.