Das neue Album von Datashock

Kraut in der Wüste

Von der deutschsprachigen Kritik werden Datashock ignoriert. Mit ihrem neuen Doppelalbum »Keine Oase in Sicht« beweist die saarländische Instrumentalband abermals, dass das Popfeuilleton keine Ahnung hat, was es da verpasst.

Eine zarte Synthesizer-Melodie dringt schimmernd ans Ohr, ein Gong, verhalten geschlagen, tritt hinzu, Glöckchen klingeln im zaghaft sich entfaltenden Zusammenspiel mit nicht näher identifizierbaren elektronischen Signalen. Ein Becken scheppert ungeduldig, eine Geige spielt sich suchend in den Vordergrund, während eine Trommel rücksichtsvoll, aber bestimmt beginnt, die Richtung vorzugeben. Stimmen werden laut und Schreie verhallen, als schließlich, im Augenblick vermeintlicher Orientierungslosigkeit, zwei Gitarren und ein Schlagzeug die musikalischen Träumen nachhängende Meute aufscheuchen und vor sich hertreiben. Vorwärts!
Ganz so klingt der gut viertelstündige Auftakt des neuen Doppelalbums von Datashock nicht – er klingt viel besser. Die Band, die eigentlich keine ist, hat kürzlich auf dem Hamburger Label Dekorder ihr Album »Keine Oase in Sicht« veröffentlicht. Nach dem vor drei Jahren erschienenen Album »Pyramiden von Gießen« liegt jetzt ein weiteres psychedelisch-verspieltes, instrumentales Doppelalbum des saarländischen Kollektivs vor, das während seiner über zehnjährigen Geschichte eher außerhalb der Grenzen von Krautrockland wahrgenommen worden ist.
Gegründet wurde Datashock 2003, im selben Jahr, als der britische Musikjournalist David Keenan das sogenannte »New Weird America« aus der Taufe hob, eine musikalische Bewegung, die hierzulande zumeist auf versponnenes Singer-Songwritertum im Stil des Psychedelic-Sängers Devendra Banhart reduziert wurde, darüber hinaus aber musizierende »Horden« (Diedrich Diederichsen) wie Sunburned Hand Of The Man, die No-Neck Blues Band, Jackie-O Motherfucker oder Wooden Wand & The Vanishing Voice wichtig werden ließ. Projekte, die sich durch experimentelle Spielweisen und offene Bandstrukturen auszeichneten, wurden in der deutschen Rezeption von Popmusik allerdings wenig bis gar nicht wahrgenommen. Daran hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen zehn Jahren auch nicht viel geändert. Die überbordenden psychedelischen Improvisationen und oftmals mehr als eine Viertelstunde vor sich hin mäandernden Instrumentalstücke sind wohl immer noch zu sperrig, um auch jenseits esoterisch anmutender Zirkel Eingeweihter wahrgenommen zu werden.
Dabei ist die Musik von Datashock wie die ihrer internationalen Weggefährten alles andere als unzugänglich; der Referenzrahmen ist allerdings anders und weiter gefasst, als es das seit 1977 am (Post-)Punk geschulte Gehör gewohnt ist. Auf Anhieb erinnert der Sound von Datashock an psychedelische Vorbilder vor dem Punk  – von den frühen Pink Floyd über Amon Düül, Ash Ra Tempel oder Agitation Free bis hin zur Third Ear Band oder Yahowa 13. Inzwischen ist es, vor allem mit Hinweis auf Simon Reynolds These von der grassierenden »Retromania«, üblich, als Reaktion auf die Musik des saarländischen Kollektivs die mehr oder weniger kanonisierte Krautrock-Geschichte herunterzubeten. Wo immer in der jüngeren Vergangenheit eine aktuelle Veröffentlichung auf erfahrene Hörer trifft, lassen kluge bis klugscheißerische Kommentare nicht lange auf sich warten. Das ist auch soweit in Ordnung und kein Grund zur Aufregung – aber auch kein Grund, Datashock als Haufen ewiggestriger Hippies oder zu spät geborener Kommunarden abzustempeln.
Die mehrköpfige »Horde«, die derzeit aus Ruth-Maria Adam, Ronnie Oliveras, Pascal Hector, Jan Werner, Sebastian Haas, Christian Berghoff und Jan Stütz besteht, ist in popkulturell linken Milieus sozialisiert und hat selbstverwaltete Jugendzentren nicht nur bespielt, sondern auch mitgegründet. Die Gruppe hat schon aufgrund der höchst unterschiedlichen persönlichen Vorlieben und der musikalisch eigenständigen Nebenprojekte ihrer Mitglieder (etwa Pretty Lightning, Kolter, Flamingo Creatures und Schrein) kein Interesse an der perfekten Kopie irgendeines Sounds aus der Vergangenheit. Kein einziger Ton auf dem neuen Album klingt nach »Malesch«, »Meddle« oder »Tanz der Lemminge« – auch wenn das britische Musikmagazin Wire etwas anderes behauptet und den Spirit der frühen Siebziger auf »Keine Oase in Sicht« entdeckt zu haben glaubt. Das ist ein hübsches Missverständnis, aber Sorgen machen muss man sich nicht um die Band, sondern eher um die britischen Kritiker, die der Oberflächenästhetik von Datashock auf den Leim gegangen sind. Eine etwas genauere Beschäftigung lässt nostalgische Anwandlungen allerdings nicht zu. Anderes Equipment, andere Aufnahmeverfahren, andere Erfahrungen, andere Zeiten, kurz: Die Gegenwart des immer noch währenden Spätkapitalismus funkt Datashock dazwischen – und das ist hörbar.
Vielleicht muss es einmal so deutlich gesagt werden: Datashock leben in und von der Gegenwart. In der Auseinandersetzung mit dem, was im Augenblick passiert, gewinnt der Sound seine Konturen. Sowohl im direkten wie im übertragenen Sinne sind Datashock Ausdruck gemeinsam unternommener Anstrengungen: Die Musik entsteht stets spontan in kollektiven Improvisationen. Zu diesem Zweck trifft sich die Band, die eben deshalb keine ist, weil sie auf der Grundlage jahrzehntelanger Freundschaft und über weite räumliche Entfernungen hinweg besteht, in unregelmäßigen Abständen zu Aufnahmen, Konzerten oder Tourneen. Und je nachdem, wie gerade der Stand der Dinge ist, können Aufnahmen und einzelne Konzerte scheitern, landen Mitschnitte im Mülleimer, hinterlassen Auftritte lange Gesichter im Publikum. Das kann vorkommen, immer wieder mal, warum auch nicht? Zumeist aber gelingt das Kunststück freier Improvisation. Konzerte, wie kürzlich der Auftritt im Berliner »Bei Ruth«, beginnen verhalten und sind geprägt von der gegenseitigen Aufmerksamkeit der Musiker füreinander, um in blindem Verständnis und sich überschlagenden Crescendi zu enden – begleitet von frenetischem Johlen und euphorischem Applaus aus dem Publikum.
»Keine Oase in Sicht« ist eine Momentaufnahme. Als Resultat einer zweitägigen Aufnahme-Session liegt das Doppelalbum seit Mai vor, aber die Session liegt auch schon wieder Monate zurück und – um endlich eine Wüstenmetapher zu bemühen – die Karawane Datashock ist längst wieder weitergezogen. Der Titel des neuen Doppelalbums kann auch als lakonischer Kommentar zur Rezeptionswüste in Deutschland verstanden werden: Wird dies Album hierzulande mehr Aufmerksamkeit erfahren als die Vorgängerplatten der Formation aus Saarbrücken? Das Album »Keine Oase in Sicht« bietet auf jeden Fall eine gute Gelegenheit, an weithin unbeachtete musikalische Traditionen zu erinnern, die von der Avantgardeband Hirsche nicht aufs Sofa über die Stuttgarter Metabolismus bis zu Datashock reichen: Germany’s Hidden Reverse, gewissermaßen. Die Wüste lebt.

Datashock: Keine Oase in Sicht (2LP). Dekorder.