Die katastrophale Lage im Irak

Sieg ohne Widerstand

Jihadisten haben große Teile des Irak übernommen. Es droht ein neuer Krieg.

Was sich in den vergangenen Tagen im Irak abspielte, kann nur als worst-case-Szenario bezeichnet werden: Einheiten des »Islamischen Staates im Irak und Syrien« (Isis) eroberten de facto kampflos große Teile des Nordwestirak und des sogenannten sunnitischen Dreiecks unter ihre Kontrolle brachten, die irakische Armee floh und hinterließ den Jihadisten Hunderte von Panzern und anderes schweres Militärgerät. Der Nachfolger al-Qaidas kontrolliert nun ein Gebiet, das von den Vororten Aleppos bis zu denen Bagdads reicht und große Teile der sunnitisch besiedelten Gebiete Syriens und des Irak umfasst. Noch nie waren die Kriegskassen einer jihadistischen Terrororganisation so gut gefüllt, allein in Mossul soll Isis 470 Millionen US-Dollar erbeutet haben. Reguläre irakische Armeeeinheiten existieren nicht mehr zwischen der türkischen Grenze und Samara, einer Stadt nördlich von Bagdad, in der der Vormarsch von Isis zumindest vorläufig von schi­itischen Milizen beendet wurde. In allen Gebieten des Nordirak, auf die sowohl die irakische Zentral- wie die kurdische Autonomieregierung Anspruch erheben, rückten kurdische Peshmerga-Einheiten ein und übernahmen die militärische Kontrolle.
Sofort eilte der Iran seinem Verbündeten, dem irakischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki, zu Hilfe, entsendete mit General Qasem Soleimani, dem Anführer der al-Quds-Brigaden und Initi­ator unzähliger Terroranschläge im Nahen Osten, seinen besten Mann nach Bagdad und leistete auch weiteren logistischen und militärischen Beistand. Die irakische Regierung wiederum mobilisierte ihre schiitischen Milizen. Der oberste Geistliche der Shia im Irak, Ayatollah Ali al-Sistani, rief in einer Fatwa die Massen zum Kampf gegen Isis auf, derweil dieser mit der Durchsetzung islamischen Rechts in den von ihr kontrollierten Gebieten begann.

Überrascht von Situation zeigten sich die Regierungen der USA und der EU, Präsident Barack Obama erbat sich einige Tage Bedenkzeit , schloss militärische Maßnahmen nicht aus und ließ den Flugzeugträger George W. Bush an den Golf verlegen. Obgleich das US-Außenministerium in seinen Berichten den Iran und Syrien als zwei der größten staatlichen Unterstützer des Terrorismus führt, erklärte ein Sprecher John Kerrys, er hoffe, der Iran verhalte sich nun im Irak »konstruktiv«, man wolle außerdem mit dem Iran in einen ­Dialog zur Lage im Irak eintreten. US-Senator John McCain von den Republikanern forderte hingegen, dass, bevor gegen Isis militärisch vorgegangen werde, erst das gesamte Beraterteam Obamas entlassen werden müsse, da dessen Politik im Irak und Sy­rien so offensichtlich versagt habe. In letzter Zeit wird die zögerliche Haltung der USA im Syrien-Konflikt stärker kritisiert. So warf der ehemalige Botschafter der USA in Syrien, Robert Ford, der Regierung vor, die nichtjihadistischen syrischen Rebellen nicht nur im Stich gelassen, sondern durch Untätigkeit das Wiedererstarken von Isis gefördert zu haben. Al-Qaida im Irak war, nachdem das US-Militär unter General David Petraeus eine groß angelegte Antiterrorkampagne in den Jahren 2007 bis 2010 durchgeführt hatte, zwar nicht völlig geschlagen, aber sehr geschwächt, das sunnitische Dreieck im Westirak galt als befriedet. Als die US-Truppen 2011 aus dem Irak abzogen, ein Schritt, vor dem US-Generäle eindringlich gewarnt hatten, ließen sie unzählige ungelöste Konflikte zurück. Dies geschah in einer Zeit, als der Nahe Osten von den Ereignissen des »arabischen Frühlings« in seinen Grundfesten erschüttert wurde.
Auch überall im Irak kam es damals monatelang zu Protesten gegen die Regierung al-Maliki, vor allem im Westen des Landes. Die Regierung griff mit äußerster Härte durch und begann, nur Tage nachdem die letzten GIs das Land verlassen hatten, vor allem gegen die sunnitische Minderheit im Land vorzugehen. Gestützt auf den Iran, verwandelte al-Maliki innerhalb kürzester Zeit staatliche Institutionen und die Sicherheitskräfte in schiitische Interessenverbände.
Dem wachsenden iranischen Einfluss, der ab 2012 so weit ging, dass der Irak nicht nur als Transitland für militärischen Nachschub an das Regime Bashar al-Assads fungierte, sondern Tausende schiitischer Milizionäre ins Nachbarland entsandt wurden, setzten die USA nichts entgegen. Beschwerden von Sunniten und Kurden wurden von der US-Regierung weitgehend überhört, sie baute vor allem auf al-Maliki, der im Gegenzug versprach, für Stabilität zu sorgen. De facto verlor seine Regierung im Norden des Landes aber immer mehr an Einfluss. Al-Maliki suchte die Konfrontation mit der kurdischen Regionalregierung – zeitweise standen sich irakische und kurdische Einheiten kampfbereit gegenüber – und verlor zugleich jeden Rückhalt in den sunnitischen Gebieten, wo die irakische Armee immer mehr als schiitische Okkupationstruppe wahrgenommen wurde, die sich durch willkürliche Verhaftungen und ihr brachiales Auftreten unbeliebt machte. Die Jihadisten des »Islamischen Staats Irak« waren damals zwar geschwächt, aber nicht völlig geschlagen. Auch Überreste der alten Ba’ath-Partei existierten weiter im sunnitischen Dreieck und vor allem in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak.

Nach 2003 hatten die Nachbarländer des Irak den bewaffneten Kampf gegen die USA und ihre Verbündeten großzügig unterstützt. Sie alle fürchteten, die versprochene Demokratisierung des Irak, sollte sie gelingen, würde ihre eigene diktatorische Herrschaft bedrohen. Iran, Syrien, Saudi-Arabien und die Türkei finanzierten alle eine Widerstandsorganisation, wobei der Großteil der internationalen Jihadisten, die zum heiligen Krieg in den Irak eilten, über Syrien ins Land geschleust wurden. Die syrische Regierung gewährte nicht nur Anhängern des alten Regimes Saddam Husseins großzügig Asyl, sondern half al-Qaida auch aktiv beim Grenzübertritt in den Irak. In dieser Zeit entwickelte sich Mossul, das nahe der syrischen Grenze liegt, zum Zentrum der Gegner der neuen Regierung. Schon damals arbeiteten und kämpften ehemalige Offiziere und hochrangige Mitglieder der gestürzten Ba’ath-Partei Seite an Seite mit radikalen Islamisten. Beide eint der Hass auf den Iran, Schiiten, US-Amerikaner und alle Versuche, den Irak zu demokratisieren.
Dennoch erklärte Obama unverständlicherweise immer wieder, al-Qaida sei faktisch besiegt. Dabei kontrollierte Isis, seit die Organisation Ende 2012 in Syrien als maßgeblicher Akteur auftauchte, bald große Teile des Nordostens, wo es die Provinzhauptstadt Raqqa von Rebellen eroberte und in das Zentrum seiner jihadistischen Herrschaft verwandelte. Während die Gruppe dem syrischen Militär weitgehend aus dem Weg ging und sich auf den Kampf gegen andere Rebellen und kurdische Milizen konzentrierte, wurde sie zum Anziehungspunkt für internationale Jihadisten, die, meist geduldet von der Türkei, zuhauf in das neue »Kalifat« zogen. Zehntausende sollen es nach Angaben europäischer Geheimdienste sein.
Bald schon begann Isis, den Aktionsradius wieder in den Irak auszudehnen, auch um die Niederlage gegen die US-Armee zu rächen. In den vergangenen Monaten infiltrierte die Organisation große Teile des sunnitischen Dreiecks und stürmte im Januar die Städte Falluja und Ramadi. Es kam zu heftigen Gefechten mit der irakischen Armee, militärische Erfolge hatte diese dabei nicht zu verzeichnen. Wie zwischen 2005 und 2008 entglitt der gesamte Westirak erneut der Kontrolle der irakischen Regierung, neben Kämpfern von Isis tauchten schon im Frühjahr vermehrt Anhänger Saddam Husseins auf. Von einer »irakischen Revolution« war dabei die Rede, man wolle sich der Regierung al-Maliki entledigen, die nur ein Vasall des verhassten Iran sei. So sind es denn dieser Tage auch ehemalige Generäle Saddam Husseins und ehemalige Ba’ath-Funktionäre, die mit Isis gegen die irakischen Truppen kämpfen und sogar behaupten, die eigentlichen Organisatoren des Angriffs zu sein. Wie lange dieses Bündnis zwischen Jihadisten und Ba’athisten hält, ist fraglich.
Irakische Armeeeinheiten flohen in der Regel Hals über Kopf, kaum dass die Isis-Kämpfer am Horizont auftauchten. Tausende Menschen fielen in die Hände der Jihadisten, die sie medienwirksam in Massen exekutierten. Weshalb die irakische Armee sich angesichts von ein paar tausend Milizionären de facto auflöste und ihre Stellungen kampflos räumte, wird ein Rätsel bleiben. Schon kursieren im Irak die krudesten Verschwörungstheorien darüber, wie es zu dem Desaster kommen konnte.
Die Katastrophe, vor deren Eintreten im Nahen Osten seit Jahren gewarnt wurde, sollte sich an der Lage nichts grundlegend ändern, ist nun da. Sie hat viele Ursachen, die im völligen Versagen irakischer Politiker ebenso zu suchen sind wie in der verfehlten Politik der USA gegenüber Syrien und dem Iran, der kurzsichtigen und destruktiven türkischen Politik, den Versuchen des Iran, die regionale Vorherrschaft zu erringen, sowie in der Unterstützung von Isis durch Spender aus Saudi-Arabien und Katar.
Was weiter droht, ist eigentlich klar: ein unkontrollierbarer Krieg zwischen Sunniten und Schiiten, angeheizt vom Iran auf der einen und den von Saudi-Arabien geführten Golfstaaten auf der anderen Seite. Die US-Regierung könnte sich wie in Syrien entscheiden, mehr oder weniger nichts zu tun und damit dem Iran das Feld im vermeintlichen Antiterrorkampf überlassen, den dieser zu gerne mit internationaler Rückendeckung im Irak und Syrien mit seinen Alliierten führen würde. Dann gerieten der Westirak und Ostsyrien endgültig zum Schlachtfeld eines innerislamischen Krieges, die Kurden nutzten die Gunst der Stunde, um sich vom Rest des Landes loszusagen, während Isis die Freiwilligen aus allen Ländern nur so zuströmten.
Halbherzige Luftschläge gegen Isis an der Seite der irakischen Regierung hätten fatalerweise dieselbe Wirkung: Ob gewollt oder nicht, die sunnitische Welt sähe die USA trotzdem im Bündnis mit dem verhassten Iran. Die einzig Alternative wäre, den Nahen Osten gemeinsam mit all jenen Akteuren, die für eine Zukunft ohne Kalifate, Theokratien und Diktaturen eintreten, langfristig zu verändern und zu befrieden, ohne dass die USA und Europa dafür weiter im Namen illusorischer Stabilität Diktatoren und Autokraten unterstützen. Das aber würde Geld kosten und langfristiges Engagement erfordern, vor allem gegen den Iran. Doch dessen Regierung wird fatalerweise gerade als Alliierte im Kampf gegen den Terrorismus umworben, wovor die israelische Regierung eindringlich warnt.
Solange Bagdad nicht auch in die Hände von Isis fällt und die kurdischen Gebiete ruhig bleiben, besteht aber durchaus die Möglichkeit, dass nach diesem Desaster im Irak wieder Kräfte erstarken, die für eine andere Zukunft stehen, als die, die Isis und schiitische Milizionäre anzubieten haben.