Streiks und soziale Proteste in Frankreich

Alle Räder und Kassen stehen still

In Frankreich wird bei der Bahn und im Kulturbereich gestreikt. Die sozialdemokratische Regierung will die Forderungen der Streikenden nicht erfüllen.

Der Ton wird rauer und den Beteiligten der laufenden Arbeitskämpfe in Frankreich bläst ein eiskalter Wind entgegen. Besonders hart trifft es die Streikenden bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, die seit Dienstag voriger Woche im Ausstand sind und damit gegen eine Bahn­reform protestieren. Daneben erfahren die intermittents du spectacle, die prekär Beschäftigten des Kulturbetriebs, die ebenfalls zu Streiks und Demonstrationen aufriefen, vergleichsweise wenig mediale und politische Aufmerksamkeit. Die seit zwei Jahren amtierende sozialdemokratische Regierung in Frankreich, die derzeit ihre allererste »soziale Kraftprobe« durchläuft, setzt alles daran, die Streikenden zu isolieren, zu diffamieren und in die Defensive zu treiben.
Dabei scheinen das Kabinett und Präsident François Hollande umso aggressiver vorzugehen, je deutlicher wird, dass ihre Politik Tiefstwerte an Popularität erreicht. Eine Anfang des Monats publizierte Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass nur drei Prozent der Wahlberechtigten wünschen, dass Hollande noch einmal als Präsident kandidiert. Vor diesem Hintergrund fürchten die Regierenden, Schwäche zu zeigen und den Forderungen der Arbeitskämpfe nachzukommen, da sie sonst angesichts der wachsenden Zahl an Forderungen und schärferer Kritik rasch die Kontrolle verlieren könnten.

Der französische Premierminister Manuel Valls bezeichnete den Streik bei SNCF am Montag als »nutzlos« und »verantwortungslos« und fügte hinzu, die Franzosen verstünden ihn nicht. Hollande hatte bereits am Freitag vergangener Woche gegen die Streikenden gewettert und sie dazu aufgefordert, »das Allgemeininteresse nicht aus den Augen zu verlieren«. Auch frühere konservative Regierungen bezogen zwar gegen Streikende immer wieder Stellung, wie bei den Transportstreiks 1995 und 2003, aber nicht bereits am dritten Tag in dieser Schärfe.
Die Medien in Frankreich bleiben dahinter nicht zurück. Die Boulevardzeitung Le Parisien – die in der Vergangenheit mitunter, auch aus Rücksicht auf ihre teilweise ärmere Leserschaft, über manche Streiks eher wohlwollend berichtete – agitiert seit Tagen gegen den Arbeitskampf. Mehrfach hintereinander sprach sie auf der Titelseite von einem »schwarzen Tag«. Am Dienstag ging es mit einem wahren medialen Trommelfeuer weiter. Das allgemeine Informationen verbreitende Webportal Orange.fr, das der französischen Telekom gehört und von Millionen Internetabonnenten genutzt wird, titelte: »Die Franzosen haben genug!« Dazu wurde eine Umfrage verbreitet, der zufolge sich 76 Prozent gegen die Fortsetzung des Bahnstreiks wenden. Eine andere Befragung ergab ebenfalls am Dienstag, dass angeblich zwei Drittel auch eine Einschränkung des Streikrechts in den öffentlichen Verkehrsbetrieben befürworten würden.
Natürlich kommt es immer darauf an, wie die Fragen gestellt werden. Anders formulierte Fragen finden nämlich auch andere Antworten: Am Montag veröffentlichte die konservative Tageszeitung Le Figaro eine Umfrage, der zufolge 53 Prozent der Französinnen und Franzosen sich grundsätzlich vorstellen können, »in naher Zukunft selbst an einer sozialen Bewegung teilzunehmen«, gemeint sind Arbeitskämpfe. Dieser Wert variiert im Laufe der Jahre nur relativ wenig, in den vergangenen Jahren lag er etwa bei 48 oder 50 Prozent. Verglichen mit den vergangenen fünf Jahren ist er im Moment am höchsten.
Trotzdem hinterlässt die mediale Agitation gegen den derzeitigen Streik ihre Spuren. Am Pariser Bahnhof Gare de Lyon kam es etwa am Montag zu tumultartigen Szenen auf den Bahnsteigen. Die wichtigsten Medien greifen diese Konflikte auf, indem sie überwiegend unzufriedene Fahrgäste und kaum Streikende und Gewerkschafter zu Wort kommen lassen, mit Ausnahme von Qualitätsmedien wie der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde.

Zwei recht unterschiedliche Arbeitskämpfe flossen seit vergangener Woche zusammen, und vielerorts bemühen sich die Eisenbahner und die Kulturprekären auch aktiv um deren Verknüpfung. In Marseille demonstrierten sie etwa am Montag gemeinsam. Die intermittents du spectacle versuchen, durch eine vorige Woche begonnene Ausweitung ihrer Proteste die ministerielle Unterschrift unter das Abkommen zur Arbeitslosenversicherung vom 22. März zu verhindern, das viele von ihnen in ihrer Existenz bedroht (Jungle World 13/2014). Das Abkommen der »Sozialpartner« war vom Unternehmerverband Medef, der auf Sparmaßnahmen bei der Arbeitslosenkasse pocht, und mehreren Gewerkschaften unterschrieben worden.
Die Regelung zur neuen Arbeitslosenversicherung kann aber nur in Kraft treten, wenn Arbeits- und Sozialminister François Rebsamen sie formal zulässt, da der Staat eine Aufsicht über die Sozialkassen führt. Seit der Absage einer Oper in Montpellier Anfang vergangener Woche nimmt die Zahl annullierter Kulturveranstaltungen zu. Andernorts konnten die protestierenden Kulturprekären durchsetzen, dass Festivals und Aufführungen zwar weiterhin stattfinden, aber ohne Eintrittsgelder, was einen Einnahmenausfall für die veranstaltenden Unternehmen und Kommunen bedeutet. In Toulouse etwa sorgten die intermittents dafür, dass das Schauspielfestival »Printemps des comédiens« ausschließlich mit freiem Eintritt stattfindet. Parallel dazu besetzten viele Kulturprekäre bei einem Aktionstag am Freitag voriger Woche ein halbes Dutzend Filialen der Arbeitslosenkasse in verschiedenen Städten Frankreichs, unter anderem in Paris. Und am Montag demonstrierten allein in der Hauptstadt über 10 000 von ihnen vor dem Kulturministerium. Nunmehr sind alle großen Festivals im Hochsommer, wie das Anfang Juli beginnende Theaterfestival in Avignon, gefährdet, und der Unmut bei den von Finanzausfällen bedrohten Städten steigt.
Kulturministerin Aurélie Filippetti setzt sich inzwischen von der Regierungslinie zum Thema ab und kritisiert das Abkommen vom 22. März, während der fachlich zuständige Minister Rebsamen bislang stur bleibt: Das Abkommen sei von mehreren Gewerkschaften unterzeichnet worden und müsse deswegen als legitim betrachtet werden. Am 28. Juni wird sich entscheiden, ob es in Kraft tritt oder nicht.

Die bei der Bahn Beschäftigten protestieren gegen eine Bahnreform. Dabei geht es insbesondere um die betriebswirtschaftliche Aufspaltung der französischen Bahn in mehrere Dutzend Spartenunternehmen, die nur noch formal durch eine Holding an der Spitze zusammengehalten würden. Dies würde etwa bei Lohnverhandlungen die Arbeitgeberseite stärken, da die Bahn dann nicht mehr mit 150 000 Beschäftigten verhandeln müsste, sondern nur noch mit jeweils einigen Hundert oder Tausend. Zudem soll die Reform Teilprivatisierungen einzelner Strecken begünstigen, wenn ab 2019 die durch die EU beförderte Öffnung des Bahnsektors für private Konkurrenzunternehmen erfolgt.
Vor allem die beiden eher linken Gewerkschaften CGT und SUD laufen dagegen Sturm, wobei die CGT gespalten ist: Ihre Führung plante ursprünglich einen symbolischen Streik von zwei oder drei Tagen, wurde dann aber von der sich radikalisierenden Basis überrannt. Die CGT schwankte in den vergangenen Tagen und wollte sich mit einer Verschiebung der an diesem Dienstag begonnen Parlamentsdebatte zur Bahnreform begnügen, während die linke Basisgewerkschaft SUD diese Reform verhindern möchte. Die Regierung möchte weder das eine noch das andere hinnehmen.