Die »Quantified Self«-Bewegung

Meine Quantitäten

Von Enno Park

Selftracker sind Menschen, die messen, wie viele Schritte sie täglich zurücklegen, wieviel Sport sie treiben, was sie essen und wie sie schlafen. Ist das ein Schritt zur Selbsterkenntnis oder nur Selbstoptimierung? Und wo bleibt der Datenschutz?

Hässlich ist es ja, dieses Armband, das ich seit ein paar Tagen trage. Das »Jawbone Up«, so heißt es, zählt meine Schritte und überträgt die so gewonnenen Daten an mein Telefon. Von dort aus wandern sie direkt auf den Server des Herstellers und werden zu hübschen Statistiken aufbereitet. So erfahre ich nicht nur, dass ich regelmäßig nur ungefähr 5 000 Schritte am Tag gehe, obwohl gesundheitlich 10 000 angebracht wären, sondern kann meine Ergebnisse in der App auch mit denen anderer Leute vergleichen, mit denen ich mich zuvor, ähnlich wie bei Facebook, »befreundet« habe.
Das macht durchaus Spaß, obwohl das Armband ansonsten nur noch erfasst, wann und wie ich schlafe, und das noch nicht mal so ganz automatisch: Wenn ich mich hinlege, muss ich das dem Armband per Knopfdruck mitteilen. Dafür hat es aber einen Schlafphasenwecker, der mich mit einer sanften Vibration an meinem Handgelenk weckt, wenn mein Schlaf gerade leicht ist, was ich doch sehr angenehm finde. Viele andere Daten – wie viel Sport ich mache oder was ich so esse – muss ich manuell in die App eintragen. Praktisch ist das nicht.
»Quantified Self« – die digitale Selbstvermessung mittels verschiedener elektronischen Devices wie Armbanduhren oder Apps für Smartphones ist längst ein Milliardenmarkt. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden allein in Deutschland 2,4 Millionen Geräte verschiedener Hersteller verkauft – angeführt von »Fitbit«, einem kleinen Schrittzähler, den es in der einfachsten Version für deutlich unter 100 Euro zu kaufen gibt. »Quan­tified Self« ist eine richtige Community, die aus dem gleichnamigen Blog der US-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly hervorgegangen ist. Mittlerweile gibt es weltweit mehr als 150 »Quantified Self«-Gruppen, die in verschiedenen Städten ihre »Meet-ups« zum Erfahrungsaustausch organisieren, auch in Deutschland. Das sind längst nicht nur Nerds und IT-Leute – vom Banker bis zum Arbeitslosen sind alle sozialen Gruppen vertreten.
Vielen geht es vermutlich wie mir: Sie schaffen es kaum, ihre Geräte langfristig und regelmäßig zu benutzen. Was in erster Linie an den Geräten liegt. Manche werden kaum getragen, weil die angebotenen Modelle einfach hässlich sind. Außerdem führt die ständige Bluetooth-Verbindung zum Telefon dazu, dass dessen Akku nicht mehr den ganzen Tag durchhält. Jawbone und Co. bleiben nach einiger Zeit immer häufiger in der Schublade und überhaupt: Kann ein Smartphone nicht genauso gut als Schrittzähler dienen? Für mich jedenfalls nicht. Denn viel zu oft lege ich mein Telefon bewusst beiseite, um ungestört zu sein – oder weil es aufgeladen werden muss. Wenn ich mit »Quantified Self« weitermachen möchte, komme ich wohl um einen separaten Schrittzähler als Armband oder Clip nicht herum.
Vielleicht werden die Gadgets ja eines Tages so klein, dass man sie als Ohrring oder Piercing kaufen kann. Und vielleicht können sie dann auch mehr, denn mich interessiert mein Puls, mein Blutdruck, mein Zuckerspiegel, eigentlich ­alles, was mein Körper so an Daten produziert. Warum ich das wissen will? In erster Linie bin ich einfach neugierig. Mich interessiert, wie die Welt funktioniert – auch mein Körper.

Eigentlich ist »Quantified Self« auch gar nicht so neu: Zwei der wichtigsten Anwendungen gibt es schon ewig: Den Menstruationskalender und das klassische Kalorienzählen. Früher hat man mühsam Buch geführt und die Kalorien in Tabellen eingetragen, später kam Excel, heute erledigt man das per App auf dem Smartphone oder Tablet. Praktischer geworden ist das Kalorienzählen dadurch kaum und oft ginge es mit Bleistift und Papier schneller, als sich umständlich die Nahrungsmittel in einer App zusammenzusuchen. Der Traum wäre eine App, bei der es reicht, ein Foto vom Teller zu machen, um detaillierte Angaben über das Essen zu erhalten. Das ist technisch so nicht möglich, gibt es aber immerhin in Form von sozialen Netzwerken, bei denen die Teilnehmer ihre Essensbilder untereinander begutachten. Es gibt sogar ein Start-up-Unternehmen, das eine schwarmbasierte Traumdeutung per App anbietet – wer mitmacht, muss morgens nur noch seine Trauminhalte eintippen und hochladen. Die Ergebnisse dieser Schwarmintel­ligenz sind dementsprechend mit Vorsicht zu genießen, ähnlich wie beim Publikum-Joker bei »Wer wird Millionär«.
Bei Technologieskeptikern stößt »Quantified Self« oft auf Unverständnis. Ein häufig genanntes Argument lautet: Wir sollten wieder einfach mehr auf unseren Körper hören. Dabei ist es doch genau das, was Selftracker versuchen. Denn auf unsere Intuition und unser Körpergefühl können wir uns nur bedingt verlassen – biologisch scheinen wir immer noch Steinzeitmenschen zu sein, die den Verlockungen des modernen Lebens erliegen. Statt uns zu warnen, wenn wir uns zu wenig bewegen oder schlecht ernähren, überschüttet uns unserer Körper mit Botenstoffen, die Glücksgefühle auslösen. Die Selbstvermessung via App kann ein Weg sein, damit umzugehen.

Spannend bei vielen »Quantified Self«-Apps sind die sozialen Verbindungen, bei denen die Teilnehmer untereinander ihre Zahlen vergleichen. Spannend und nicht ganz unproblematisch, denn das mündet schnell in einen Wettbewerb um die meisten Schritte und die gesündeste Lebensweise. Bei einigen Usern soll dieses Verhalten bereits suchtähnliche Züge angenommen haben. Nach Sexsucht, Computerspielsucht und Internetsucht könnte also bald eine neue Modediagnose durch die Medien geistern.
Wichtiger ist die Kritik, es handele sich bei der neuen Technik um eine Form der Selbstoptimierung. Wie die Controller in der Buchhaltung beobachten wir Zahlenwerte und steuern gegen, wenn sie aus dem Ruder laufen. Für Unternehmen ist so etwas lebenswichtig, Menschen allerdings sollten sich fragen, welche Kennzahlen es sind, anhand derer sie sich optimieren möchten. Der Verdacht, dass eine solche Optimierung am Ende nur der besseren Anpassung am Beziehungs- und Arbeitsmarkt und der ökonomischen Ausbeutung der Menschen dienen könnte, ist nicht so ganz leicht zu entkräften. Wann immer beim Selbstvermessen ein Wert herauskommt, der als nicht »normal« gilt, bekommt der Selftracker automatisch den Impuls, etwas am Verhalten zu ändern, um sich der Norm wieder anzugleichen. Im schlechtesten Falle führt es also dazu, dass Menschen an Individualität und Vielfalt verlieren. Das muss nicht so sein, aber wer sich auf »Quantified Self« einlässt, sollte sich dieser Impulse bewusst sein, Gruppendruck widerstehen können und dabei nie vergessen, dass es bei all den schönen Auswertungen um Big Data und Statistik geht – also um Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen, aber nicht immer um Kausalzusammenhänge. Ändere ich mein Verhalten, kann es dazu führen, dass ich länger und gesünder lebe, eine Garantie dafür gibt es aber nicht.
Sei es drum: Mich interessieren diese Daten trotzdem, für den Erkenntnisgewinn und ohne so genau zu wissen, was ich mit ihnen anstellen werde. Überhaupt Daten! Die entstehen doch massenhaft, wenn wir intime Details unseres Lebens aufzeichnen. Wo bleibt denn da der Datenschutz? Widerspricht »Quantified Self« nicht in jeder Hinsicht der Datensparsamkeit? Ja, tut es, aber das ist nicht der Punkt. Solange wir breite Datenspuren im Netz hinterlassen, Bewegungsprofile anhand unserer Telefone erstellt werden können, jeder Einkauf irgendwo registriert wird – so lange ist es geradezu absurd, ausgerechnet mit jenen Daten sparsam umgehen zu wollen, die wir für uns selbst erheben, um mehr über uns selbst herauszufinden. Das hält mich nicht vom Selftracking ab – sondern nur meine Faulheit. Wie beim Tagebuchschreiben. Aber dafür gibts ja Twitter.