Jonathan Spyer im Gespräch über die Zukunft des Irak

»Isis ist ein Pseudo-Staat«

Jonathan Spyer, Nahost-Experte und Forscher des Global Research in International Affairs Center (www.gloria-center.org), im Gespräch über den Zerfall staatlicher Institutionen im Irak, die Rolle des Iran und des Westens und mögliche Auswege aus der Irak-Krise.

Muss man das von Isis verfolgte Projekt eines »islamischen Staats« inzwischen ernst nehmen, oder handelt es sich einfach um eine Terrororganisation?
Es ist wichtig zu verstehen, dass »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« nicht länger nur ein Ziel ist, sondern eine Tatsache bezeichnet. Wir müssen Isis als Pseudostaat betrachten. Das Territorium, über das Isis absolute Regierungsgewalt ausübt, erstreckt sich von Mossul bis zur syrisch-türkischen Grenze. Die ostsyrische Stadt ar-Raqqa in der gleichnamigen Provinz ist die einzige Provinzhauptstadt, die nicht vom syrischen Regime kontrolliert wird. Sie wird seit über einem Jahr vollständig von Isis regiert, auf sehr primi­tive und grausame Weise, aber sie haben dort die Macht.
Was kann man aufgrund dieser einjährigen »Regierungszeit« über Isis sagen?
Isis geht grausam vor, mit einer Brutalität, die man in der Region noch nie gesehen hat. Dort gab es schon viel Gewalt, aber Enthauptungen, Amputationen und Kreuzigungen hatte man zumindest von Seiten einer Regierung nicht gesehen. Weiter zeigt das Beispiel von ar-Raqqa, dass diese Brutalität nicht automatisch zu Machtverlust führt. Isis ist dort militärisch und politisch stark, und seine Herrschaft ist derzeit nicht gefährdet. Ohne Intervention von außen, seitens Assads oder einer anderen Macht, ist der Islamische Staat dort eine Tatsache.
Wie eigenständig ist Isis Ihrer Meinung nach? Wird die Organisation womöglich von anderen Instanzen kontrolliert?
Ich glaube nicht, dass Isis von außen kontrolliert wird. Ich kenne die Argumente der sunnitischen Rebellen, die Isis als Marionette des Assad-Regimes oder des Iran darstellen, aber ich finde sie nicht überzeugend. Dieses Argument ist eine typische Denkweise über die Verhältnisse im Nahen Osten, aber niemand fühlt sich dabei verpflichtet, sie empirisch zu beweisen. Ich verlange lieber überprüfbare Fakten. Argumentiert wird etwa, das Assad-Regime habe Jihadisten, die heute bei Isis aktiv sind, zu Beginn des Aufstandes aus dem Gefängnis freigelassen. Das stimmt zwar, aber mit der gleichen Argumentation könnte man auch beweisen, dass die wichtigsten Rebellen-Organisationen wie die Islamische Front auch mit dem Regime zusammenarbeiten, denn wichtige Mitglieder wie Zahran Alloush wurden ebenfalls freigelassen. Für mich gibt es hier einfach zu wenig Beweise, und das gilt auch für die gegenteilige Argumentation, wonach Isis eine Marionette Saudi-Arabiens oder von Geheimdiensten aus den Golfstaaten sei. Ich glaube, das Geld kommt aus privaten Quellen aus dem Golf und nun natürlich aus der Bank von Mossul, aus der Isis 480 Millionen Dollar erbeutete. Die or­ganisatorische Stärke erwächst aus dem jihadistischen Modell, dem Isis folgt, angeführt von ernst zu nehmenden Kräften wie Abu Bakr al-Baghdadi.
Kann es sein, dass es vielen Isis-Kämpfern eher darum geht, Beute zu machen, als ihre Ideologie durchzusetzen?
Das kann gut sein, zumindest, was die einfachen Mitglieder und Unterstützer angeht. Aber das sagt nicht unbedingt etwas über die Anführer aus. Diese können sehr schlau sein. Das Problem von Isis ist nicht so sehr die Existenz von kriminellen Elementen, ihre größten Schwächen sind vielmehr die ideologische Inflexibilität und die Unfähigkeit, mit anderen Kräften zu kooperieren, die nicht vollständig ihre Ideologie teilen. Das hat es den US-Kräften 2006 bis 2007 leicht gemacht, erfolgreich gegen Jihadisten vorzugehen, denn diese hatten es sich mit den sunnitischen Stämmen im Westirak verdorben. Ähnliches könnte sich heute wiederholen, es gibt bereits Berichte über Zusammenstöße mit anderen sunnitischen Aufständischen wie der Naqshbandi-Armee im Westirak, die Isis zuerst gegen die Maliki-Regierung unterstützt haben.
Sie haben in einem Artikel geschrieben, dass der Irak eine Front in einem sektiererischen sunnitisch-schiitischen Krieg darstellt. Ist das wirklich der Hauptkonflikt?
In Syrien und dem Irak haben wir den Zusammenbruch staatlicher Strukturen erlebt, und in solchen Situationen ziehen sich Menschen in ihre ursprünglichen Gemeinschaften zurück. Das kennt man auch außerhalb des Nahen Ostens, etwa im postsowjetischen Ostblock der neunziger Jahre. Das wird dadurch verstärkt, dass Staaten im Nahen Osten mit Terror und Gewalt geherrscht und nicht um die Loyalität ihrer Bevölkerung geworben haben. Der Rückzug in religiöse Gemeinschaften wird noch durch die geopolitische Rivalität zwischen der Islamischen Republik Iran und dem Königreich Saudi-Arabien verstärkt. Deshalb wird die sunnitisch-schiitische Rivalität tatsächlich zum Hauptkonflikt oder zum grund­legenden Gedankenmodell in den Teilen des Nahen Ostens, in denen es sunnitische und schiitische Araber gibt. Nicht in Ägypten oder in Nordafrika, aber in der Levante, in Mesopotamien und am Golf.
Sehen Sie noch eine Chance für einen geeinten und funktionierenden irakischen Staat?
Ich kann mir das nicht vorstellen, es gibt dort viele Interessen, die in Richtung Fragmentierung des Staats tendieren. Zuerst die kurdische Regierung im Norden, dann der sunnitische Quasi-Staat von Isis im Westen, und dann haben wir noch die gleiche Situation wie in Syrien, wo eine angebliche Zentralmacht in Wirklichkeit nur eine sektiererische Macht in der Hauptstadt und einigen anderen Gebieten ist, in diesem Fall in Bagdad und dem schiitischen Süden. Ich sehe kein Arrangement, das alle drei Teile befriedigen könnte, besonders wenn in Bagdad schiitische Sektierer wie Maliki oder ein möglicher Nachfolger sitzen.
Der Druck auf Maliki wächst, vom schiitischen Ayatollah Ali al-Sistani bis US-Außenminister John Kerry wird er zum Rücktritt gedrängt.
Vielleicht wird er nicht Ministerpräsident bleiben, vielleicht werden ihn die Leute um ihn herum opfern, um größere militärische Unterstützung durch die USA für den Kampf gegen Isis zu erhalten. Aber wenn Maliki durch einen anderen schiitischen Sektierer ersetzt wird, bei dem es gut möglich ist, dass er Teheran noch näher steht, ist nichts erreicht. Maliki ist ein Symptom, nicht die Ursache der Probleme.
Wenn man die Brutalität von Isis betrachtet, ist es nicht zumindest plausibel, von gemeinsamen Interessen des Westens mit dem Iran zu sprechen?
Ich denke nein. Die iranischen Revolutionsgarden sind auch grausam, in der Islamischen Republik werden auch 16jährige Mädchen aufgehängt, deren Verbrechen darin bestand, vergewaltigt worden zu sein, in den kurdischen Gebieten des Iran werden kurdische Aktivisten massenweise hingerichtet. Die Islamische Republik kann nicht in Anspruch nehmen, dem Westen oder einem moralischen Anspruch näher zu sein als Isis, auch wenn sie vielleicht besser organisiert ist. In vielerlei Hinsicht sind die iranischen Revolutionsgarden der weit gefährlichere Zusammenschluss von Islamisten.
Haben die Kurden im Irak nicht ein relativ gutes Staatswesen zustande gebracht, das mehr Unterstützung erfahren sollte?
Wir sollten die Kurden unterstützen, denn ihre derzeitige Bewaffnung würde es Isis erlauben, bei einer Offensive gegen die Kurden Gebiete zu gewinnen. Isis hat gerade große Mengen brandneuer amerikanischer Waffen aus Mossul erbeutet, und viele Isis-Mitglieder sind ehemalige irakische Soldaten, die damit auch umgehen können. Die Kurden sind im Irak und in Syrien eine stabile prowestliche Kraft, es sind genau die Leute, die der Westen unterstützen sollte. Ich verstehe nicht, warum die USA und die Europäer an der völlig anachronistischen Idee der territorialen Integrität der gescheiterten Staaten Syrien und Irak festhalten.
Was ist die israelische Sicht auf den Konflikt im Iran?
Israel ist sehr besorgt über den Aufstieg von Isis, aber auch über die die regionalen Ambitionen des Iran. Benjamin Netanyahu sagte am Montag, dass man einen Weg finden müsse, beide Seiten zu schwächen, und nicht eine gegen die andere zu unterstützen. Es ist eine falsche Vorstellung, dass der Iran eine rationale, stabilisierende Kraft gegen Isis sei. Für genauso falsch und gefährlich halte ich die in rechten amerikanischen Kreisen verbreitete Vorstellung, dass die sunnitischen Islamisten unterstützt werden sollten, weil alles gut ist, was dem Iran schadet.
Gibt es die Gefahr, dass der Iran als gestärkte Kraft aus dem gegenwärtigen Konflikt hervorgehen könnte, weil er angesichts von Isis vielen im Westen als gar nicht mehr so gefährlich erscheint?
Diese Gefahr besteht, und wir müssen uns sehr darum bemühen, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Iran eine Quelle der Instabilität in der Region ist und dass sein Ziel ist, den Westen aus dem Nahen Osten zu verdrängen und anschließend Staaten zu bedrängen und zu zerstören, die derzeit mit dem Westen verbündet sind. Im Westen gibt es leider große Sympathien für die völlig fehlgeleitete Idee, dass der Iran durch Konzessionen in einen verantwortungsvollen und freundlichen Akteur in der Region verwandelt werden könnte.