Das Buch »Die Ökologie der Anderen« des Ethnologen Philippe Descola

Im Dschungel der Theorie

Natur oder Kultur? In seinem jüngsten Buch »Die Ökologie der Anderen« löst der französische Ethnologe Philippe Descola den Gegensatz einfach auf.

Als der französische Schriftsteller und bildende Künstler Henri Michaux 1928 als junger Mann nach Ecuador reiste, kapitulierte er vor den Weiten Amazoniens. »Die Größe des Amazonas war dergestalt, dass er sich vor dem 20. Jahrhundert nicht überblicken ließ«, notierte Michaux in seinem Reisetagebuch. Ein Flugzeug hätte er gebraucht, um den Amazonas wirklich zu sehen. Weil Michaux aber kein Flugzeug zur Verfügung stand, spricht er auch nicht weiter vom Amazonas. Der Bericht von seiner Bootsfahrt über den rechts und links vom Wald eingeschlossenen Fluß macht in seinem auf Deutsch unter dem Titel »Ein Barbar auf Reisen« erschienenem Tagebuch gerade mal eine Seite aus.
Michaux ist damit in der langen Reihe der entdeckenden Amazonasreisenden der erste, der sich nicht von der Gewalt der Natur des Regenwaldes erdrücken lässt und die Flucht ins Er­habene antritt. Dafür brachte er aber eine Anekdote mit: »Eine junge Frau, die mit uns an Bord war und aus Manaus kam«, schreibt er, »seufzte heute morgen, als sie die Stadt betrat und durch den übrigens schön bepflanzten Großen Park ging, vor Wohlbehagen auf. ›Ach! Endlich Natur‹, sagte sie. Dabei kam sie aus dem Wald … «
Man kann Michaux mit seiner Erfahrung, dass der Amazonas zu groß für ihn war, als dass er ihn beschreibend hätte fassen können, und der Anekdote vom gepflegten Park als Natur an den Anfang einer Reihe von Denkern setzen, die besonders in der französichen Ethnologie an der Kritik eines Naturbegriffs arbeiten, der dem Amazonasgebiet buchstäblich nicht gewachsen ist. Von Claude Lévi-Strauss über Pierre Clastres bis zu Philippe Descola – um nur die Bekanntesten zu nennen – reicht die Reihe jener Forscher, die durch ihre Arbeit in Amazonien versuchen, mit dem Verständnis der Indigenen dieser Region eine Vorstellung des »Anderen« in die rationalistischen Diskurse einzuführen.

Ihre ethnologische Forschung liefert mit ihren Feldstudien vor allem bei den schrift- und staatenlosen Gesellschaften Amazoniens Einblicke in das »Andere«, weil sie den europäischen Rationalismus nicht durch einen Diskurs der Irrationalität in Frage stellt. Indem die genannten Ethnologen ganze Kulturen vorstellen, die andere Grenzen ziehen und andere Akzente setzen, die aber trotz aller Einseitigkeit der abendländischen Rationalität nachvollziehbar sind, öffnen sie Horizonte, die gerade durch die Darstellung des »Anderen« helfen, auch das Eigene neu zu sehen.
Philippe Descolas in diesem Jahr auf Deutsch erschienenes kleines Werk »Die Ökologie der Anderen« fasst schon im Titel die Aktualität dieser Ethnologie zusammen. Wobei Descola nicht wegen des Erscheinungsdatums die aktuellste Version der Beschreibung des »anderen« Lebens liefert. Seine teilnehmende Beobachtung des Lebens der indigenen Gesellschaften bringt ihn oft auch körperlich an die Grenzen der abendländischen Denkform.
Als er zum Beispiel einmal auf die Idee kam, allein jagen zu gehen, verirrte er sich so orientierungslos im Dschungel, dass seine Rettung nur darin bestehen konnte, von einem Indigenen kurz vor Sonnenuntergang wiedergefunden zu werden. Von allein hätte er den Weg aus dem Wald in das Dorf, in dem er lebte, niemals gefunden. Denn der Wald war kein europäischer Forst, sondern der Urwald Amazoniens. Ein Urwald, in den die in ihm lebenden Angehörigen der indigenen Gruppen niemals alleine gehen.
Ein Umstand, der Descola schon aufgefallen war, bevor er sich allein verirrte. Aber irgendwie wird seine Prägung durch eine anderen Welt wieder durchgebrochen sein. In Frankreich, wo Descola geboren wurde und aufgewachsen ist, lernt jeder in der Schule jene Maxime René Descartes’, wonach man, wenn man sich im Wald verlaufen hat, nur lange genug stur geradeaus laufen muss, um wieder herauszufinden. Was in Frankreich aber funktioniert und nicht nur die Metapher eines der Begründer des modernen abendländischen Rationalismus ist, ist in den Wäldern Amazoniens ohne Bedeutung. Der Dschungel Amazoniens steht anschaulich – und, wenn man sich in ihm verlaufen hat, auch drastisch – für die Grenzen des abendländischen Rationalismus. Eines Rationalismus, der deshalb natürlich keine universale Gültigkeit beanspruchen kann, auch wenn er es nach wie vor wie selbstverständlich tut.

Die Feststellung der begrenzten Reichweite des abendländischen Rationalismus und die daraus folgenden Kosmologie sind einige der zentralen Gegenstände von Descolas »Ökologie der Anderen«. Es geht ihm in seinem sehr konzentrierten, aber immer gut lesbaren Durchgang durch die Geschichte der westlichen Wissenschaften um die Aufhebung des Gegensatzes von Natur und Kultur, wie ihn Philosophie und Wissenschaft in der Nachfolge Descartes konstituiert haben. Die Natur ist für ihn kein vom sozialen Leben völlig getrennter Bereich mehr. Sie ist kein Bereich mehr, den die Menschen zu verstehen und zu kontrollieren suchten und dessen Launen sie zuweilen ausgesetzt seien, der jedoch ein Feld autonomer Regeln bilde, in dem Werte, Konventionen und Ideologien keinen Platz hätten.
»Wo hört die Natur auf, wo fängt die Kultur an, bei der Klimaerwärmung, bei der Verringerung der Ozonschicht, bei der Herstellung spezialisierter Zellen aus omnipotenten Zellen?« fragt Descola rhetorisch. Die Frage hat keinen Sinn mehr. Die Angewohnheit der westlichen Welt, das Natürliche im Menschen und seiner Umwelt deutlich vom Künstlichen zu unterscheiden, ist an ihrem Ende angekommen. Die Praxis machte schon auf anderen Kontinenten, beispielsweise in China und in Japan, keinen Sinn. Dort ist der Begriff der Natur unbekannt und der menschliche Körper wird nicht als Zeichen der Seele und Nachbildung eines trans­zendentalen Modells – früher als göttliche Schöpfung, heute als Genotyp – verstanden.
Auch deshalb sei es, wenn es darum geht, die Veränderung der Idee der Natur und die wissenschaftlichen Entdeckungen zu verstehen, notwendig, den Blick über das europäische Denken und seine Geschichte hinaus zu richten, meint Descola.
Descola hat an der École Normale Supérieure in Paris, der Eliteuniversität für französische Intellektuelle, Philosophie studiert, bis er zum Schüler des Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss wurde. Heute ist er Lévi-Strauss’ Nachfolger auf dem Lehrstuhl für »Anthropologie der Natur« am Collège de France. Wie Lévi-Strauss suchte und fand Descola seine erste Erfahrungen als Ethnologe unter den Völkern Amazoniens. In einem völlig unerforschten Gebiet im Grenzbereich zwischen Ecuador und Peru im amazonischen Regenwald lebte er drei jahre unter den Achuar-Indianern und schrieb mit.

Wie es dazu kam, kann man in der Einleitung seines Forschungsberichts »Leben und Sterben in Amazonien« nachlesen, sein Hauptwerk ist »Jenseits von Natur und Kultur«. Das Großartige an Descolas Denken und Schreiben ist, dass er um die Ausweglosigkeit der indigenen Gesellschaften im Kampf mit den sogenannten entwickelten Zivilisationen weiß und trotzdem ohne jeden apokalyptischen Furor auskommt. Mit seinem Abtauchen in den Dschungel und in das Leben der Achuar-Indianer wird in jeder Einzelheit klar: Es gibt keine Dialektik von Natur und Kultur. Die verbreitete Vorstellung der Dialektik von Natur und Kultur ist selbst ein Teil des Problems.
Den Regenwald und seine Bewohner rettet man nicht, indem man sie zum Schutzgebiet erklärt und sie damit aus der Kampfzone nimmt. Genauso wenig wie man den Wald rettet, wenn man ihn zur Zone der wirtschaftlichen Nutzung macht. In beiden Fällen würde man ihn vernichten, wenn auch auf verschiedene Weisen, und nachwachsen wird er nicht, weil man den Regenwald aus tausend wissenschaftlich beschriebenen Gründen nicht zum Forst umfunktionieren kann.
Die Lösung kann nur darin bestehen, die westlichen Vorstellungen von Natur und Kultur auf- und abzulösen, damit »die Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die technischen Verfahren nicht mehr einfach als ein Umfeld aufgefasst werden, als Ressourcen, als einschränkende Faktoren oder als Arbeitsmittel, sondern wirklich als Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen interagieren« (Descola).