Joachim Gauck, Deutschland und die Welt

Mann Gottes, Präsident des Krieges

Darf man Joachim Gauck einen »widerlichen Kriegstreiber« und »Gotteskrieger« nennen? Über die politische und religiöse Ideologie des Bundespräsidenten und die rhetorische Notwehr mit drastischen Worten.

Dass Bundespräsident Joachim Gauck mit seiner unermüdlichen Werbung für einen verstärkten, dezidiert auch militärischen Einsatz Deutschlands in der Welt nicht nur auf Zustimmung stößt, ist bekannt. Und beim gegenwärtigen Stand der Dinge verwundert es auch nicht, dass die Mainstream-Medien bis in das hinein, was man einst ein »linksliberales Milieu« nannte, einen rhetorischen Schutz- und Trutzkordon um ihn und seine doch so »interessante Botschaft« (Frankfurter Rundschau) schließen. Ihn einen »Kriegstreiber« zu nennen, sei »abwegig«, befindet die Welt. »Bizarr« erscheint es der Frankfurter Rundschau, der angesichts einer Fotomontage, die Gauck als Djihadisten zeigt, noch nicht einmal der übliche Vergleich mit dem Stürmer zu blöde ist. Gauck habe recht, konstatiert der Tagesspiegel. Es bedurfte freilich noch eines Anlasses, die Sache nach üblicher Dramaturgie zu skandalisieren, und bei so etwas kommt ein Linker wie der brandenburgische Landtagsabgeordnete Norbert Müller (Linkspartei) gerade recht. Einer, von dessen Anwurf vom »widerlichen Kriegstreiber« sich die eigene Partei nur »halbherzig« distanziere, wie der Spiegel meldet.

Darf man also Bundespräsident Gauck einen »widerlichen Kriegstreiber« und »Gotteskrieger« nennen? Diese Frage muss man, um ihre Beantwortung nicht von einer reinen Bauch- und Trotzreaktion abhängig zu machen, in verschiedene Unterfragen aufteilen. Der Empörungsstrategie der Mainstream-Medien, die offensichtlich gern den Tatbestand der Majestätsbeleidigung wieder einführen möchten, sollte man sich jedenfalls, mit Rücksicht auf geistige und moralische Gesundheit, nicht anschließen: Gerade hat dieser Bundespräsident sehr zu Recht gerichtlich die Erlaubnis erhalten, sich auch mit einer gewissen Drastik über als solche erkannte politische Gegner zu äußern, da wird er schon selbst zum Objekt ebenfalls drastischer verbaler Attacken. Genießt er eine andere Art von Freiheit als seine Kritiker?
Das Wort »widerlich« wäre zunächst einmal wegzulassen, da es sich dabei um ein subjektives, emotionales und abwertendes Adjektiv handelt, das im Wortschatz des gebildeten und reflektierten Menschen nur für den äußersten Notfall ­reserviert sein sollte. Stattdessen soll der Begriff »Kriegstreiber« näher betrachtet werden. Man muss dabei vielleicht zu dem anderen Kern der Gauckschen Rhetorik, zur Rede von der »Freiheit« zurückkehren.
Joachim Gauck hat einen Begriff von Freiheit, den man als fühlender Mensch nicht teilen mag und als denkender Mensch nicht teilen kann. Erinnert sei aber an die Vorstellung der Urgroßväter der Demokratie im alten Griechenland: Für sie war »Freiheit« das Attribut für einen Menschen – politisch gesehen galten damals nur Männer als Menschen; niemand hat behauptet, dass die ­alten Griechen nur kluge Philosophen und keine Sexisten waren –, der keinem anderen Menschen Untertan war und somit über Politik und Geschmack mit Ebenbürtigen diskutierte. Freiheit ist demnach ohne gerechte Menschen so wenig zu haben wie ohne gerechte Verhältnisse. Freiheit als Privileg, das die Geschichte vielleicht mehr bestimmte denn Freiheit als würdevollste und menschlichste Lebensweise, prägt den deutschen Diskurs, der nicht zufällig kürzlich in Aachen in Gaucks Eloge auf Karl den Großen zu sich kam und in dem »Freiheit« der Schlüssel zu einem ebenso imperialen wie weltanschaulichen Gebilde zu sein scheint.
Dazu passt, dass dieser Präsident der Inszenierung der Macht und dem großen Auftritt wesentlich stärker zugetan ist als die meisten seiner Vorgänger, eine kleine Film- und Bildanalyse seiner öffentlichen Auftritte kann da sehr hilfreich sein. Gauck sieht sich – und auch die Öffentlichkeit sieht ihn – offensichtlich als Protagonisten einer deutschen Mission, die angesichts des zu­gehörigen Großmachtempfindens an ein idealisiertes Karolingertum und eine protestantische Ethik anknüpft. Wenn man verstehen will, wie sich Deutschlands Funktion in der Welt ändern soll, offensichtlich mit Zustimmung großer Teile der Politik und der medialen Öffentlichkeit, dann muss man Angela Merkels pragmatisch-rücksichtslosen Neomerkantilismus und Joachim Gaucks militarisierten Traum von einer protestantisch-imperialen Großmacht Deutschland zusammendenken.

Joachim Gauck spricht weniger im Namen einer philosophischen Überzeugung in der Tradition von Humanismus und Aufklärung als im Namen einer politischen und, genauer betrachtet, religi­ösen Ideologie. Er übersieht konsequent die Ebenbürtigkeit als Voraussetzung für Freiheit. Wie bei Angela Merkel überrascht bei diesem Präsidenten die Asozialität; es geht ihm selten um das Leiden der Menschen, aber immer um Prinzipien. Nun müssen wir das durchaus Missionarische in seinen Freiheitspredigten im Zusammenhang mit seiner offensichtlich ebenfalls als missionarisch empfundenen Überzeugung sehen, notfalls, aber stets mit betonter Bereitschaft, mit militärischen Mitteln an nur selten konkret bezeichneten Brennpunkten der Welt einzugreifen.
Nennen wir Joachim Gauck also vorläufig einen Kriegsbefürworter. Allerdings ist er nicht nur einer, der den Krieg befürworten würde, wenn man ihn vor die Wahl stellte, sondern er befürwortet den Krieg prophylaktisch. Nennen wir ihn also erstens: einen offensiven vorauseilenden Kriegsbefürworter. Nennen wir ihn zweitens: einen Kriegsbefürworter, der seine Kriegsbefürwortung in Ansprachen und, nun ja, Predigten einfließen lässt. Er möchte also seine Kriegsbefürwortung keineswegs als eine persönliche und private Angelegenheit erscheinen lassen, sondern als ein politisches Programm, dem er sich so verpflichtet fühlt, dass er seine Zuhörer immer wieder dafür zu gewinnen und zu begeistern versucht. In einem anderen Zusammenhang und mit einem anderen Protagonisten würden wir wohl ohne Zögern von Propaganda sprechen.
Diese Propaganda für eine allgemeine offensive Kriegsbefürwortung der deutschen Gesellschaft wird nun im Rahmen einer Ideologie betrieben, die auf Gerechtigkeit, Ebenbürtigkeit und Respekt viel weniger Rücksicht nimmt als auf die abstrakte Idee einer Freiheit mit unzweifelhaft religiöser Grundierung. Menschen an anderen Orten dieser Welt, die furchtbaren Ergebnisse der militärischen Eingriffe vor Augen, müssen angesichts der Gauckschen Kriegs- und Sonntagspredigten durchaus fürchten, dieser deutsche Präsident wolle ihnen die Freiheit nicht anders bringen als die Missionare einst das Himmelreich – mit Flamme und Schwert sowie der einen oder anderen Mutter Teresa als moralische Ergänzung.

Man kann innerhalb des mehr oder weniger geschlossenen Weltbildes des Bundespräsidenten leben – und das trifft vermutlich auf keinen geringen Teil des deutschen Staatsvolks und vor allem auf die Mehrheit der deutschen Zeitungsjournalisten zu –, und alles ist richtig und logisch. »Wir« sind eben wieder wer, der letzte Weltkrieg ist lang her, und Deutschland darf sich seiner »Verantwortung« nicht entziehen. Man kann allerdings, als kritische Minderheit immerhin, auch außerhalb dieses Weltbildes leben. Dies ist ein moralisches und politisches Recht und wohl selbst von Gaucks Begriff der Freiheit gedeckt. Und es ist die diskursive Pflicht, die Funktion des Bundespräsidenten selbst in diesem bellizistisch-moralischen Weltbild zu beschreiben, nämlich als die eines offensiven Kriegsbefürworters, der seine Forderung nach der Bereitschaft zum militärischen Eingriff auch jenseits des durch das Grundgesetz bestimmten Auftrags der Bundeswehr mit religiös-moralischen Ideogrammen bekräftigt. Übersetzen wir diese etwas sperrige, aber offensichtlich logische und evidente Beschreibung in das, was Politiker bei sich bietenden Gelegenheiten so gern benutzen, nämlich die angebliche »Sprache des Volkes«, dann kommt wahlweise ein »geiler Kriegspräsident, der es den Kaffern schon zeigen wird« heraus, oder aber ein »widerlicher Kriegstreiber«.
Auch wenn eine solche Aussage über einen Bundespräsidenten als sachlich richtig beschrieben werden kann, und auch wenn ein Kritiker des Bundespräsidenten sich ebenso wie dieser selbst auf ein Grundrecht der Meinungsfreiheit auch dort berufen kann, wo es weh tut, macht das diese Aussage noch nicht zu einer formal akzeptablen Äußerung innerhalb einer politischen Sphäre, die ohnehin beständig in Gefahr steht, die Reste von Würde und Anstand preiszugeben. Interessant dürfte nur sein, welche Aussagen sich diese politische Sphäre und die ihr verbundene Presse von rechts gefallen lässt und welche Empörung inszeniert wird, wenn eine Aussage von links kommt.

Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer hat auf seiner Facebook-Seite eine Fotomontage veröffentlicht, die Gauck mit Turban, Bart und Kalaschnikow als »überdrehten Gotteskrieger« und »Sprachrohr der Rüstungsindustrie« attackiert. Darf er das? Und wenn ja, ist es nicht billige Klamaukpropaganda?
Auch hier gilt es vielleicht, einen diskursiven Kern aus einer in der Tat nicht sonderlich subtilen Aussage zu schälen. Bekannt ist mittlerweile, auch dank religionswissenschaftlicher Unter­suchungen, wie der politische Islam, hierzulande reduziert auf den islamistischen Terror, auch entstanden ist, nämlich durch Umdeutung einer Gottesvorstellung. Aus einem Friedensgott wurde ein Kriegsgott, und ein Kriegsgott verlangt von den Gläubigen sowohl das Töten als auch das Selbstopfer. Selbstverständlich gibt es für die Umdeutung einer Gottesvorstellung Ursachen, und es gibt vor allem Techniken der Rhetorik, der Predigt, des Ritus und der Bilder. Die Erzeugung von Kriegsgöttern selbst in Religionen, die gemeinhin als eher tolerant, weise oder mystisch angesehen werden, ist eines jener kulturgeschichtlichen Phänomene, deren Untersuchung tunlichst klein gehalten wird, weil sie immer auch tief ins Herz der eigenen Geschichte reicht. Die mit Mühe zum Frieden erzogenen Götter mögen es gar nicht, wenn man sie an ihre Abspaltung oder Vergangenheit als Kriegsgötter erinnert.
Die Umdeutung des christlichen Gottes zu einem Wesen, das einem Kriegsgott zumindest ähnelt, hat nicht nur in der Vergangenheit mit unschöner Regelmäßigkeit stattgefunden. Und es gibt derzeit offensichtlich eine Tendenz, nicht nur bei den berüchtigten Evangelikalen, dem christlichen Gott die verlorene politische und militärische »Härte« zurückzugeben.
Wir können die These wagen, und zwar nicht als Unterstellung, sondern anhand der Aussagen des Protagonisten selbst, dass Joachim Gaucks Gott weder ein besonders liebender noch ein besonders humorvoller ist. Was also, wenn sich nun das Christliche und das Politische in Joachim Gauck zum Projekt einer Umformung und Erfindung eines Kriegsgottes im Namen der »Freiheit« träfen? Vielleicht nicht direkt, nicht unkontrolliert und keineswegs im primitiven Fanatismus der Djihadisten, eher rhetorisch kühl, hartnäckig und, nun ja, gewissenhaft. Dann freilich wäre der despektierliche Begriff eines »Gotteskriegers« nicht gar so weit hergeholt. Es ist ein kleiner Schritt von einem Präsidenten, der als Christ den Krieg befürwortet, zur Vorstellung eines christ­lichen Krieges.

Selbst bei einer so offensiven Kriegsbefürwortung kommt es darauf an, welche Worte man wählt. In dem mittlerweile notorischen Interview mit dem Deutschlandfunk hat Joachim Gauck nicht etwa gesagt, man müsse im Fall der größten Bedrohung von Freiheit und Menschenrecht eine »militärische Option« prüfen, wie es im üblichen Politiksprech heißt, sondern er hat gesagt, es sei dann nötig, »zu den Waffen zu greifen«. Dieses »zu den Waffen greifen« ist ein überaus vorbelastetes Mythem, das weit über eine »militärische Option« hinausgeht. Es handelt sich um einen rituellen Akt, der durch das Volk gehen soll – eine ideologisch-mystische Suggestion aus allerfurchtbarstem Geist. Als hätte das Zu-den-Waffen-Greifen der Deutschen die Welt nicht schon genügend zerstört, nimmt dieser Bundespräsident eine Rhetorik wieder auf, die überwunden schien, und macht sie durch eine ethisch-religiöse Grundierung vielleicht noch mehrheitsfähig. So erscheint es vollkommen logisch, dass Gauck neben dem Kampf auch das Selbstopfer predigt, wenn er erklärt, »dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz fordert, Aufmerksamkeit, Mut, und eben manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben.«
Joachim Gauck als »widerlichen Kriegstreiber« oder »Gotteskrieger« zu beschimpfen, ist mög­licherweise schlechter rhetorischer Stil. Dieser macht es der Inszenierung der Empörung und der Rekonstruktion der Majestätsbeleidigung »in diesen harten Zeiten« allzu leicht und einigt die konformistische deutsche Presse, die nicht den Rückgriff auf die nationalistische Kriegsrhetorik, sondern die Kritik daran »bizarr« findet. Man sollte vielleicht wirklich genauer, sauberer argumentieren. Und doch kann man solche gegen den Bundespräsidenten gerichteten Injurien auch als Ausdruck einer rhetorischen Notwehr ansehen. Es ist möglicherweise eine politische und moralische Notwendigkeit, dem Konstrukt eines neuen militarisierten und imperialisierten sowie antisolidarischen, postdemokratischen und neomerkantilistischen Deutschland zu widersprechen. Wenn es sein muss, auch mit drastischen Worten.