Der Schauspieler Udo Kier

Überdosis Kier

Das 32. Filmfest München ehrt den deutschen Schauspieler Udo Kier als herausragende Persönlichkeit des internationalen Films mit dem Cine Merit Award.

Die Karriere von Udo Kier, erzählt von Udo Kier, klingt wie eine spektakuläre Aneinanderreihung glücklicher Begegnungen und schöner Zufälle. Der deutsche Schauspieler, der auf dem Münchner Filmfest mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet wurde, sitzt beim Publikumsgespräch in der Black Box im Gasteig und ­rattert auch nach unzähligen Interviews eine Geschichte nach der anderen herunter: Fassbinder in einer Kölner Arbeiterkneipe am Neumarkt getroffen, mit dem Rainer dann eine Cola getrunken und eine Frikadelle gegessen. In London auf der Straße entdeckt worden. Von heute auf morgen »The New Face« geworden. Zufällig neben Paul Morrissey im Flugzeug gesessen, der seine Telefonnummer im Reisepass hinterließ und ihn dann in Andy Warhols »Dracula« und »Frankenstein« besetzte. Christoph Schlingensief und Tilda Swinton unterm Tisch einer Kneipe kennengelernt, vier Wochen später mit ihnen »Egomania – Insel ohne Hoffnung« gedreht. Für Gus van Sants »My Private Idaho« (1991) nach Hollywood gegangen und so weiter.
Auch mit bald 70 Jahren hat Udo Kier nichts von seiner energetischen Ausstrahlung verloren, er ist ein guter Alleinunterhalter, hat eine schöne Stimme, die er auch gerne in verschiedenen Tonlagen und Timbres einsetzt, und er ist auf eine selbstironische Weise eitel, was immer angenehmer ist, als wenn jemand einfach nur eitel ist. Seine Preise, erzählt er, stelle er bei sich zu Hause immer auf dem Klo auf – so kann jeder Gast sie erstens sehen, zweitens sehen, dass er es so ernst damit nicht meint. Im Grunde ist Kier ein Networker. Namen jeder Sorte – Starnamen, Künstlernamen, berühmte, bekannte, weniger bekannte – fallen im Minu­tentakt: Polanski, Madonna, Beuys, Michael Buthe, Pamela Anderson, Madonna, Nicole Kidman, Rosemarie Trockel, Guy Maddin, Robert Mapplethorpe, Helmut Berger, Patti Smith, Lauren Bacall, Keanu Reeves, Luchino Visconti, Raymond Pettibon.
Kier ist eine richtige Arbeitsbiene, außerdem ist er ein Allesfresser: Von über 200 Filmen, in denen er mitspielte, seien 100 Schrott, 50 mittelmäßig und 50 gut, sagt er. Kier hat seit seinem Debüt in dem Kurzfilm »La route de St.Tropez« (1966) so ziemlich alles gemacht, in Experimentalfilmen gespielt, in Arthouse-Produktionen, Blockbustern, guten B-Movies und richtig schlechtem Mist, außerdem hatte er Rollen in Fernsehproduktionen, von »Tatort« über »Polizeiruf 110« bis zu »Borgia«, oft war er dabei in Schurkenrollen zu sehen oder zumindest als dubioser, sonderbarer, verhaltensgestörter oder sonstwie abweichender Charakter. Selbst ein Auftritt in einer Til-Schweiger-Komödie (»1 1/2 Ritter«) färbt auf ihn nicht ab, es ist eher umgekehrt: Kier ist inzwischen ein Siegel, das man überall draufpappen kann zur stilistischen Aufwertung.
Oft sind seine Auftritte wie eine Pointe und umso witziger, je kleiner und scheinbar nebensächlicher die Rolle ausfällt. In Lars von Triers »Melancholia« (2011) spielt er einen nervlich angespannten Hochzeitsplaner, in »Nymphomanic« (2013) hat er nur eine kleine Szene als Kellner, der für das Sexspiel eines Paars ahnungslos Löffelnachschub holt. Kiers Filmfi­guren heißen auffallend häufig Hans, auch Klaus, Heinrich oder Max, einmal auch Wolfgang Kortzfleisch (»Iron Sky«, 2012). Das Provinzielle, beflissen Unterwürfige, das den meisten deutschen Schauspielern anhaftet, die es in Hollywood »schaffen« möchten, findet man bei Kier tatsächlich nicht, er verbindet Weltläufigkeit mit einer Popversion teutonischer Ausstrahlung. Nur so kann er Adolf Hitler spielen, ohne dabei wie Bruno Ganz auszusehen.
Dass Kier aber eben auch nur so gut ist wie die Filme, in denen er auftritt, zeigt sich in Hermann Vaskes »Arteholic«, einen Film über die Kunstbesessenheit des Schauspielers. Die Dokumentation feierte beim Filmfest in München ihre Premiere und wird demnächst in deutschen Kinos gezeigt. »Sucht. Gier. Besitzen. Abhängigkeit. Arteholic«, so raunt Kier gleich am Anfang des Films. Kunst sei eine Sucht, teurer als Kokain, dafür aber gesünder. Der Regisseur schickte Kier auf eine Tour durch europäische Museen und Städte, von Bonn und Köln über Paris, Frankfurt, Kopenhagen bis nach Berlin. Das Museum dient dem Schauspieler dabei als Bühne für eigene Einfälle: Mal vollführt er mit einem Künstlerfreund eine kleine Choreographie zwischen Stehtischen, mal steht er vor einem Kunstwerk von Yves Klein und rezitiert einen Text. Mit seiner guten alten Freundin, der Kölner Künstlerin Rosemarie Trockel – die einzige Frau in dem Männerclub aus Museumsdirektoren und Künstlern wie ­Tobias Rehberger, Jonathan Meese und Marc Brandenburg –, unterhält er sich ausführlich über Hunde. Von Marcel Odenbach lässt er sich durch dessen Ausstellung führen, mit Philipp Kaiser, dem damaligen Direktor des Museum Ludwig in Köln, plaudert er über Warhol und Preispolitik, in der Pariser Galerie Thaddaeus Ropac kann er seine Mapplethorpe-Geschichte unterbringen, Lars von Trier mag gerade nicht reden, zusammen lesen sie schweigend in der Zeitung. Manchmal gerät er auch ins freie Assoziieren: »Elizabeth Taylor … Basel … Dinner …  Fischli/Weiss … Rose … Tischdekoration … Rose in die Hand nehmen … aufstehen … zu Elizabeth Taylor gehen … sie sitzt neben Valentino … Rose … Rose … und Kuss.« In einer Szene bekennt Kier, wie sehr er bildende Künstler ­beneide, da sie aus allem Kunst machen könnten, er als Schauspieler sei immer abhängig von Regisseuren, Kameraleuten, Setdesignern und so weiter. Zur Demonstration manscht er beim Mittagessen mit der Soße seines Sauerbratens, Kartoffelklößen und Salatblättern ein Gesicht auf seiner Serviette zurecht.
So eifrig Vaske darum bemüht ist, Udo Kier als schillerndes Kunstwerk in Szene zu setzen, so wenig findet er für dessen Darbietungen und für die im Museum gezeigte Kunst eine angemessene visuelle Sprache. Gemälde und Skulpturen werden ebenso öde und spießig abgefilmt wie in jeder beliebigen Kulturreportage, und auch Kier wirkt eher wie eine Kulturbetriebsfigur denn wie ein Maniac – auch wenn er am Ende mit einer Kunstüberdosis ins Krankenhaus abtransportiert wird.
Zu den interessanteren Episoden des Films zählt da noch Kiers Engagement gegen den Abriss der Kölner Kunsthalle im Jahr 2002. Der Schauspieler hatte damals im Rahmen einer Aktion von Rosemarie Trockel mit Anglermütze und Megaphon ein Protestschreiben vor der versammelten rheinischen Kunstszene vorgelesen. Das ist aber auch schon alles, was im Film an Dissidenz zu spüren ist. Ansonsten sieht »Arteholic« überwiegend wie ein Werbefilm für staatliche Museen aus, und dass hier kein einziger Kunstraum außerhalb des ins­titutionalisierten Betriebs vorkommt, lässt auch Kier, der seinen Kultstatus schließlich auf seine guten Verbindungen zum Underground aufgebaut hat, seltsam etabliert und museal aussehen.