Wiederentdeckte Erzählungen aus dem ersten Weltkrieg

Ein treuer Kamerad

1917 erschien »Menschen im Krieg« von Andreas Latzko, eine Sammlung von Prosaskizzen aus dem Ersten Weltkrieg, deren Lektüre Karl Kraus seinen Lesern als »Pflicht« antrug. Der Wiener Milena-Verlag hat das Buch neu herausgebracht.

Andreas Latzko (1876–1943) wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Der Vater war Ungar, die Mutter Wienerin. Nach der Matura absolvierte er das Einjährig-Freiwilligen-Jahr in der k. u. k.-Armee. Neben verschiedenen Studien begann er für eine ungarische Zeitung zu schreiben, übersetzte für das Theater aus dem Deutschen und verfasste selbst Theaterstücke. 1901 übersiedelte Latzko nach Berlin und schrieb fortan hauptsächlich in seiner »Mutter«-Sprache Deutsch. Es gelang ihm, als Schriftsteller und Journalist im Deutschen Reich Fuß zu fassen. Vor dem Ersten Weltkrieg machte er mehrere Reisen nach Ägypten und in südasiatische Länder. Nach Kriegsbeginn folgte er der Einberufung zum Militär und wurde als Reserveoffizier an der Isonzo-Front gegen Italien eingesetzt. Dort erlitt er einen schweren Nervenzusammenbruch. Nach Aufenthalten in mehreren Lazaretten wurde er zur Kur in die Schweiz entlassen.
Dort verarbeitete er seine Kriegserfahrungen in Erzählungen, die zunächst in verschiedenen schweizerischen Zeitungen anonym veröffentlicht wurden, 1917 dann unter dem Titel »Menschen im Krieg« als Buch. In den kriegführenden Staaten wurde »Menschen im Krieg« wegen seiner pazifistischen Tendenz verboten, Karl Kraus dagegen lobte Latzkos Buch in der Fackel als eine Ausnahme innerhalb der von Heroismus und Kriegsbegeisterung beherrschten Literatur über den Ersten Weltkrieg, zu der fast die gesamte ästhetische Avantgarde, von den Expressionisten bis zu den Vertretern des Futurismus, beigetragen hatte.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kehrte Latzko nach München zurück, wo er auf der Seite Kurt Eisners beim Kampf um die Errichtung einer Räterepublik beteiligt war. Auf das Scheitern der Revoluti­on folgte seine Ausweisung aus Bayern. Nach schnell wechselnden Aufenthalten in verschiedenen Städten ließ Latzko sich 1920 in Salzburg nieder und lebte hauptsächlich von journalistischer Tätigkeit und Lesungen. 1943 starb er in Amsterdam, wo er auch begraben ist.
»Menschen im Krieg« ist seit seinem Erscheinen als Dokument eines für seine Zeit seltenen Humanismus in verschiedene Sprachen übersetzt worden, im deutschsprachigen Raum blieb das Buch bis heute unbekannt.

Auch mir hat der Weltkrieg einen Kameraden beschert. Einen bessern findst du nit.
Es sind nun genau vierzehn Monate her, daß ich in einem Wäldchen, hart an der Görzer Straße, seine Bekanntschaft gemacht. Für keinen Augenblick ist er seither von meiner Seite gewichen! Viele hundert Nächte haben wir schon zusammen durchwacht und immer noch marschiert er unentwegt neben mir her, wie’s im Liede heißt: in gleichem Schritt und Tritt.
Nicht daß er etwa zudringlich wäre! Im Gegenteil. Die Distanz, die ihn, als Gemeinen, von dem Offizier trennt, den er in mir verehren muß, hält er gewissenhaft inne. Stets bleibt er mir drei Schritt vom Leibe, genau nach dem Reglement. Respektvoll in eine Ecke, oder hinter eine Säule gepreßt, ist es nur sein Blick, den er mir schüchtern nachzuschicken wagt.
Er will eben nur zugegen sein. Verlangt nicht mehr, als daß ich ihn in meiner Nähe dulde – immer und überall! Wenn ich zuweilen die Augen schließe, um wieder einmal allein zu sein, für einige Minuten nur ganz allein mit mir selbst, wie früher, vor dem Kriege, dann fixiert er mich aus seiner Ecke, mit einer zähen, vorwurfsvollen Beharrlichkeit so fest und durchdringend, daß sein Blick mich im Rücken brennt, sich unter meinen Augenlidern einnistet, mich so sehr mit seinem Bilde durchtränkt, daß ich mich fragend nach ihm umschaue, wenn er mich eine Weile nicht an seine Anwesenheit gemahnt.
Er hat sich in mich hineingefressen, sich häuslich in mir niedergelassen; er sitzt in mir, wie der geheimnisvolle Zauberer der Lichtspieltheater in dem schwarzen Kasten, über den Köpfen der Zuschauer an der Kurbel hockt, und wirft sein Bild, durch meine Augen, auf jede Mauer, jeden Vorhang, jede Fläche, die meine Blicke auffängt.
Aber auch wo kein Hintergrund für sein Bild sich findet, auch wenn ich aus dem Fenster krampfhaft in die Ferne starre, um ihn los zu werden für kurze Zeit, auch dann ist er da, schwebt vor mir her, als wäre sein Bild auf die unsichtbare Stange meiner Blicke gespießt, wie eine Kirchenfahne, schwankend vor der Prozession. Gäbe es X-Strahlen, die durch die Schädeldecke dringen, man fände sein Bild, leicht verschwommen – wie die Figuren alter Gobelins – in mein Gehirn eingewoben.
Ich entsinne mich einer Reise in Friedenszeiten, von München nach Wien, im Orient-Expreß, an der herbstlichen Milde der bayerischen Seen vorbei – durch die goldene Glut des welkenden Wiener Waldes. Und über all’ die Herrlichkeiten, die ich, bequem gelagert, in wollüstiger Zufriedenheit eingesogen, lief unentwegt ein häßlicher, schwarzer Punkt: eine Luftblase in der Fensterscheibe meines Abteils. So huscht auch mein hartnäckiger Kriegskamerad über Wälder und Mauern, bleibt stehen, wenn ich stehen bleibe, tanzt über das Gesicht eines Vorübergehenden, über den regenfeuchten Asphalt, über alles, was mein Auge streift; schiebt sich zwischen mich und die Welt, wie jene Luftblase alles vor mir zu ihrem eigenen Hintergrunde degradierte.
Die Ärzte, freilich, wissen es anders. Sie glauben nicht, daß Er in mir wohnt und mir die Treue hält. Wissenschaftlich betrachtet läge es nur an mir, Ihn nicht länger hinter mir herzuziehen, Ihm die Kameradschaft zu künden, so etwa, wie ich auf jener Reise, das Fenster mit der lästigen Blase zornig in die Tiefe gefeuert. Die Ärzte glauben’s nicht, daß ein Mensch sich dem andern im Tode vermählen, sein Leben im andern mit zäher Unerbittlichkeit weiter leben könne. Sie meinen: wer am Fenster steht, müsse das gegenüberliegende Haus sehen; niemals aber die Zimmerwand, die hinter seinem Rücken lauert.
Die Ärzte glauben nur an Dinge, die sind. Daß man Tote in sich tragen, vor sich hinzustellen vermag, so daß sie ein Bild verdecken, das hinter ihnen liegt – solcher Aberglauben reicht an die Herren Ärzte nicht heran. In ihrem Leben spielt ja der Tod keine Rolle, denn ein Kranker, der stirbt, hört eben auf krank zu sein. Und was weiß der Tag von der Nacht, die ihn doch auch ewig ablöst?
Ich aber weiß, daß nicht ich den toten Kameraden gewaltsam durch mein Leben schleife. Ich weiß, daß der Tote stärker in mir lebt als ich selbst! Mag sein, daß Gestalten, die über Tapeten huschen, in Ecken kauern, vom finsteren Balkon aus ins erleuchtete Zimmer stieren und ans Fenster pochen, so laut, daß man die Scheibe klirren hört, nur Visionen sind, und nichts weiter. Wo kommen sie her … ? Mein Hirn liefert das Bild, meine Augen besorgen die Projektion, an der Kurbel aber sitzt der Tote! Er ist der Filmarrangeur; die Vorstellung beginnt, wenn’s Ihm so paßt und hört nicht auf, so lange Er die Kurbel dreht. Wie könnte ich nicht sehen, was Er mir zeigt? Schließe ich die Augen, so fällt das Bild eben auf die Innenwand meiner Augenlider, und das Drama spielt in mir, statt weit weg über Türe und Tapete zu tanzen.
Ich sollte der Stärkere sein, heißt es? Einen Toten kann man doch nicht umbringen, das sollten die Herren Ärzte doch wissen!
Hängen nicht die Bilder Titians und Michel-angelos immer noch in den Museen, nach Jahrhunderten noch? Und die Bilder, die ein Sterbender mit der ungeheuerlichen Kraft seines letzten Ringens vor vierzehn Monaten in mein Gehirn gemeißelt, sollten verschwinden, nur weil jener, der sie schuf, in seinem Soldatengrabe liegt … ? Wer sieht denn nicht, wenn er das Wort »Wald« liest oder hört, irgendeinen Wald, den er irgendmal, irgendwo durchwandert, aus dem Kupeefenster oder auf der Bühne gesehen? Wem erscheint nicht, wenn er von seinem verstorbenen Vater spricht, das längst vermoderte Antlitz, bald streng, bald milde, bald in der steinernen Starrheit des letzten Abschieds? Was wäre unser ganzes Sein, ohne die Bilder, die – jedes auf sein Stichwort –, wie im Lichtkegel des Scheinwerfers, für Augenblicke aus der Vergessenheit steigen?

Krankheit … ? Gewiß! Die Welt ist wund, und duldet kein anderes Stichwort, kein Bild, das nicht den Massengräbern gilt. Für keinen Augenblick kann der Kamerad in mir zu den Toten sich legen, weil alles, was geschieht, ein Blitzlicht ist, das ihn streift. Das erste Zeitungsblatt am Morgen: versenkte Schiffe – abgeschlagene Angriffe. Und schon wirbelt der Film keuchende, ringende Menschen – gekrümmte Finger, die aus Wellenbergen noch einmal nach dem Leben greifen –, von Tollwut und Schmerzen entstellte Gesichter durcheinander. Jedes Gespräch, das man erhascht, jedes Schaufenster, jeder Atemzug: ein Stichwort! Ein Stichwort auch der stille Frieden der Nacht! Oder tickt nicht jeder Sprung des Sekundenzeigers das letzte Röcheln von Tausenden? Genügt nicht das Wissen von abgerissenen Kinnbacken, durchschnittenen Kehlen, von ineinander verbissenen Leichen, um die Hölle zu hören, die jenseits der dicken Luftmauer tobt?
Wer da mit Sicherheit wüßte, daß im Nachbarhause eben einer gemordet wird, während er behaglich in den Kissen liegt – und aufspränge mit fliegenden Pulsen, wäre krank? Kann man denn anders als benachbart sein mit den Orten, wo Tausende in rasender Not sich ducken, die Erde zerfetzte Glieder in den Himmel speit und der Himmel mit eisernen Fäusten auf die Erde hämmert? Kann man wirklich entfernt leben von seinem eigenen, gekreuzigten Ich, wenn die ganze Welt von Stichworten widerhallt … ?
Nein!
Krank sind die andern. Krank sind jene, die mit strahlenden Augen Siegesnachrichten lesen und eroberte Quadratkilometer leuchtend über Leichenberge aufsteigen sehen, jene, die zwischen sich und ihre Menschlichkeit eine Wand aus buntem Fahnentuch gespannt, um nicht zu wissen, was in dem Jenseits, das sie »Die Front« nennen, an ihresgleichen verbrochen wird. Krank ist jeder, der noch denken, sprechen, streiten, schlafen kann, wissend, daß andere, mit den eigenen Eingeweiden in den Händen, wie halbzertretene Würmer über Ackerschollen kriechen, um auf halbem Wege zum Verbandplatz wie ein Tier zu verenden, während weit, irgendwo, ein Weib mit heißem Leibe neben einem leeren Bette träumt. Krank sind alle, die das Stöhnen, Knirschen, Heulen, Krachen, Bersten, das Jammern, Fluchen und Verrecken überhören können, weil rings um sie der Alltag murmelt, oder selige Nachtruhe liegt.
Krank sind die Tauben und Blinden, nicht ich!
Krank sind die Stumpfen, deren Seele nicht Mitleid und nicht den eigenen Zorn singt; sind die vielen, die, wie ein saitenloser Geigenkasten, nur Echo sind jedem Dröhnen. Oder ist etwa der Gedächtnisschwache, der wie eine überlichtete Platte kein Bild mehr aufnimmt, der gesunde Mensch … ? Ist nicht gerade Erinnerung der höchste Inhalt jedes Menschendaseins? Der Reichtum, den nur Tiere nicht kennen, weil sie Geschehenes nicht in sich weitertragen, nicht neu aus sich erstehen lassen können.
Soll ich von meinem Gedächtnis geheilt werden, wie von einem Leiden? Und wäre doch ohne mein Gedächtnis nicht mehr ich selbst, weil jeder Mensch aus seinen Erinnerungen gebaut ist und nur lebt, solange er wie eine geladene Kamera durchs Leben geht. Könnte ich nicht sagen: wo ich meine Jugend verlebt, wie die Haarfarbe meines Vaters, die Augen meiner Mutter gewesen; könnte ich nicht, um Rede zu stehen, jeden Augenblick mein Gedächtnis durchblättern und das betreffende Bild aufschlagen, wie schnell wäre die Diagnose: »senil« oder »schwachsinnig« bei der Hand! Ja, muß man denn, um als »geistig normal« zu gelten, sein Gehirn wie Schwamm und Schiefertafel handhaben, Bilder, die gräßlichste Not in die Seele gebrannt, auf Kommando wegwerfen können, wie man Seiten aus einem Photographiealbum reißt … ?
Einer ist vor meinen Augen gestorben; schwer und hart; nach grausamem Kampfe entzweigerissen von den Titanen: Leben und Tod. Und weil ich alle Phasen seines Ringens – wie ­Momentaufnahmen in meinem Gehirn aufbewahrt – neu erleben muß, so lange alles Geschehen unerbittlich diese Serie aufschlägt, wäre ich krank … ? Ich krank? Und die anderen, die über das Zerfetzen, Zerfleischen, Zerstampfen ihrer Brüder, über das langsame Verzappeln von Menschen im Stacheldrahte hinwegblättern können, wie über weiße Seiten, die sind gesund … ?
Ja, wo soll ich denn mit dem Vergessen anfangen, meine Herrn Doktoren?
Soll ich vergessen, daß ich im Kriege gewesen? Vergessen den Augenblick, da, in der verrauchten Bahnhofshalle, käseweiß, mit zusammengekniffenen Lippen, mein Junge neben seiner Mutter stand, und ich aus dem Waggonfenster, mit schlecht gemimter Heiterkeit, von Wiedersehen schwätzte, während meine Augen gierig die Gesichtszüge von Frau und Kind durchwühlten, ich ihr Bild in meine Seele einsog, wie nach tagelangen Märschen die brennende Kehle das rasend ersehnte Wasser schlürft? Vergessen das gallenbittere Würgen, als der Bahnhofsrachen langsam zuschnappte und Kind, Weib und Welt verschlang?
Soll ich die ganze Fahrt in den Tod, als Einzelreisender in einem Zuge, überfüllt mit Fami­lienvätern, die über Sonntag in die Sommerfrische fuhren, mir aus der Erinnerung reißen, wie einen lästigen Wisch? Soll ich vergessen, wie mir’s war, als es mit jeder Station stiller um mich wurde, gleichsam das Leben von mir abbröckelte; bis, gegen Mitternacht, nur mehr ein, zwei schlafende Soldaten im Abteil saßen und ein käseweißes, schmerzverzerrtes Kindergesicht um das flackernde Öllicht schwebte? Muß man wirklich krank sein, um diesen Abschied von Heim und Wärme, dieses Losfahren, mit Haß und Gefahr als Reiseziel, wie einen unheilbaren Riß in sich zu tragen? Was wäre schwerer zu fassen, wann hätten Menschen je Rasenderes getan, als dieses: mit 6o Kilometer Geschwindigkeit durch die Nacht fahren, allem Lieben, aller Sicherheit entfliehen, den Zug verlassen und in einen andern steigen, weil dieser, und nur dieser, dorthin fährt, wo unsichtbare Maschinen glühende Eisenstücke schleudern, der Tod ein engmaschiges Netz aus Stahl und Blei zum Fang auswirft? Wer reißt mir das Bild der kleinen, schmutzigen Station, der fröstelnden, schlaftrunkenen Soldaten, die ohne Rausch, ohne Musik im Blute, dem Zivilistenzuge nachblickten, wie er sich mit hellen Fenstern, fröhlich pfeifend, in die Büsche schlug; wer reißt mir dieses Umsteigen in den Tod, im fahlen Zwielicht, jemals wieder aus der Seele?
Und wenn ich diese erste, endlose Nacht auch durchstreichen könnte, wie eine erledigte Angelegenheit – bliebe mir nicht doch der Morgen, da der Zug, auf freier Strecke, mitten in einer weiten taufrischen Wiese, vor einer Weiche hielt und den Neugierigen der Bescheid ward, daß wir Lazarettzüge passieren lassen müßten? Wie soll ich sie je verscheuchen, die Erinnerung an die Wolke von Lysol und Blutgeruch, von Drachennüstern auf die fröhliche Wiese geblasen? Werde ich nicht ewig die endlosen Schlangen sehen, wie sie so träge herankrochen, als wären sie übersättigt mit zersetztem Menschenfleisch? Aus hundert Fenstern blitzten weiße Verbände, stierten verglaste, stumpfe Augen; liegend, hockend, aufeinander gepfercht, Leib an Leib, hingen sie, wie blutige Dolden, noch auf den Trittbrettern, als überquellender Reichtum an Schmerz und Not. Und diese jämmerlichen Reste von Kraft und Jugend, diese geschundenen, zertrümmerten Menschen sahen mitleidig, jawohl: mitleidig! auf unseren Zug. Bin ich wirklich krank, weil mir diese Blicke warmen Mitgefühls, von blutenden Krüppeln auf gesunde, stramme Burschen geworfen, unauslöschlich auf der Seele brennen? Und diese Ahnung, die damals fröstelnd den ganzen Zug durchlief, von einer Hölle, der man lieber in blutige Tücher gehüllt entflieht, als ihr unversehrt entgegen zu fahren – dieser Schauder sollte zum Wissen, zum Erlebnis, zur Erinnerung geworden, einfach abzuschütteln sein, solange immer noch, Tag für Tag, solche Züge sich begegnen … ? Ein hingeworfenes Wort über Truppenverschiebungen, jede Nachricht von neuen Kämpfen, läßt unfehlbar, wie das Anschlagen einer Taste einen bestimmten Ton erklingen macht, diese erste, leibhaftige Begegnung mit dem Kriege aus der Versenkung auftauchen, und ich sehe: auf dem freigewordenen Geleise, auf Steinen und Schwellen, die Blutstropfen im jungen Sommertag glitzern, als Wegweiser zur Front.
»Zur Front!«
Bin wirklich ich der Kranke, weil ich dies Wort nicht aussprechen oder niederschreiben kann, ohne daß inbrünstiger Haß mir die Zunge pelzig machte? Sind nicht die andern toll, die mit einem Gemisch von Andacht, romantischer Sehnsucht und scheuer Sympathie, wie hypnotisiert, auf diese Krüppel- und Leichenfabrik mit Maschinenbetrieb starren? Wär’s nicht klüger, mal diese andern auf ihren Geisteszustand zu untersuchen? Muß ich es den Herren Ärzten, die mich so mitleidig bewachen, verraten, daß ein paar Worte, die man wie tolle Hunde auf die Menschheit losgelassen, das ganze Unheil angerichtet haben?
»Front« – »Feind« – »Heldentod« – »Sieg« – mit hängender Zunge und rollenden Augen rasen die Köter durch die Welt. Millionen, die man vorsorglich gegen Typhus, Pocken und Cholera geimpft, hetzt ihr bis in Raserei! Millionen werden in Züge gepfercht – hüben und drüben –, fahren singend einander entgegen und hacken, stechen, schießen aufeinander los, sprengen sich gegenseitig in die Luft, geben ihr Fleisch und ihre Knochen her für den blu­tigen Brei, aus dem der Friedenskuchen gebacken werden soll für jene Glücklichen, die ihre Kalbs- und Rindshäute gegen hundert Prozent Nutzen dem Vaterlande opfern, statt die eigene Haut auf den Markt zu tragen, für dreißig Heller täglich … ! Man denke einmal: das Wort »Krieg« wäre noch nicht erfunden; noch nicht durch tausendjährigen Gebrauch geheiligt, wie eine ungeheure Attrappe in raschelnde Buntheit gewickelt. Wer würde es wagen, das mangelnde Wort »Kriegserklärung« durch folgende Rede zu ersetzen:
»Nach langen, fruchtlosen Verhandlungen ist unser Vertreter beim Nachbarstaate heute von dort abgereist. Er hat aus dem Fenster seines Salonwagens zum letztenmal den Zylinder gelüftet vor den Herren, die ihm das Geleite gegeben, und wird ihnen nicht wieder freundlich ­lächelnd entgegentreten, ehe ihr nicht viele hunderttausend Männer des Nachbarstaates zu Leichen gemacht. Auf also! Hinein in eure Güterwagen für 6 Pferde oder 28 Mann! Fahrt ihnen entgegen, diesen anderen! Schlagt sie tot, sägt ihnen die Gurgeln ab, haust wie wilde Tiere in feuchten Erdhöhlen, verkommt, verwildert, verlaust, bis wir den Zeitpunkt für gekommen erachten, uns wieder in den Salonwagen zu setzen, wieder die Zylinder zu lüften, um in prunkvollen Räumen, vornehm und manierlich über den Nutzen zu streiten, der unseren Fabrikherrn und Großkaufleuten aus dem Gemetzel zu ­erwachsen hat. Dann dürft ihr, soweit ihr noch nicht unter der Erde fault, oder als Bettler von Türe zu Türe humpelt, wieder nach Hause, zu euren halbverhungerten Familien, und dürft – nein: müßt! – mit doppeltem Eifer an die Arbeit, unermüdlicher und doch anspruchsloser als vorher, damit ihr die Schuhe, die ihr in hundert Todesmärschen zerfetzt, die Kleider, die an eurem Leibe verschimmelt, mit Schweiß und Entbehrung bezahlen könnt … !«
Ein Narr, wer mit solchen Worten um Gefolgschaft buhlte! Und keine Narren die Opfer, die draußen frieren, hungern, töten, und sich töten lassen, nur weil sie glauben gelernt: dies ginge nicht anders, wenn der tolle Köter Krieg mal seine Ketten gesprengt und den Erdball gebissen?

Waren so die Kriege, die uns das Wort »Krieg« überliefert? Waren »Krieg« und »Beute« nicht gegenseitig bedingt? Führte den Landsknecht nicht Hoffnung auf zügelloses Leben, Hoffnung auf Weiber und Dukaten und goldgezäumte Hengste? Ist dieses Kauern in eiserner Zucht, dieses Kopfhinhalten, dieses passive Vabanque-Spielen mit Ungeheuern, die aus blauer Ferne ihre Höllenkessel schleudern – noch »Krieg«? Krieg war das Aufeinanderprallen der überschüssigen Kräfte – der Raufbolde aller Nationen. Jugend, der das Städtchen zu klein, das Wams zu eng wurde, zog hinaus, vom Spiel der eigenen Muskeln berauscht. Und nun soll das gleiche Wort herhalten, wenn Männer, schon in Haus und Heim verankert, losgerissen, hinausgepeitscht, vor den Feind hingelegt werden, um in stumpfer Resignation, wehrlos, als Statisten auszuharren in diesem Duell der Munitionsindustrien … ?
Ist es erlaubt, das Wort »Krieg« als Standarte zu mißbrauchen, wenn statt Mut und Kraft – Streukegel und Tragweite kämpfen, und der Fleiß von Weibern und Kindern im Granatendrehen? Wer wagt es: die Tyrannen finsterer Zeiten, die ohnmächtige Menschen vor Löwen und Tiger warfen, heute noch ohne Ehrfurcht zu nennen, wenn er sie an jenen mißt, die diesen Kampf zwischen Mensch und Maschine, wie ein Marionettenspiel am Telegraphendraht dirigieren, von der schönen Hoffnung beseelt, daß unser Vorrat an Menschenfleisch den Stahl und Eisenbestand der Gegner überdauern werde?
Nein! Alle Worte, die geprägt waren, ehe dieses Schlachten begann, sind zu schön und ­zu ehrlich; wie das Wort »Front«, das ich hassen gelernt! Bietet man Geschützen, die hinter Bergen verkrochen, den Tod tagereisenweit über Land schicken, oder Sappen, die zehn Meter unter der Erde unsichtbar herankriechen, die »Stirne«? Eine Kopfstation ist eure »Front«; ein zerschossenes Häuschen, hinter welchem die Schienen aufgerissen sind, weil die Züge da kehrt machen, ihre Ladung an frischen, braungebrannten Männern löschen, um sie nachher, wenn sie aus der Maschine kommen, mit blutigen Gliedern und grünspanüberzogenem Gesicht wieder aufzunehmen.
Als ich, gegen Abend, ausstieg an dieser Kopfstation, saß auf der Erde, gegen das Eisengitter der Perronsperre gelehnt, ein bärtiger Soldat, den rechten Arm in der Binde. Und als er mich blitzblank vorbeigehen sah, da streichelte er mit der linken Hand zärtlich seine zertrümmerte Rechte, warf mir einen häßlichen, gehässigen Blick ins Gesicht, und rief mit gefletschten Zähnen:
»Ja, ja, Herr Leutnant! Hier gibt’s an Menschensalat!«
Sollt’ ich’s vergessen, dieses hämische Grinsen, das den schmerzumzuckten Mund in die Breite zog? Bin ich krank, weil ich das Wort »Front« nicht mehr hören kann, ohne daß mir ein unvermeidliches Echo »Menschensalat« in die Ohren krächzte? Oder sind doch die andern krank, wenn sie, statt »Menschensalat » zu hören, gierig das feige Gewäsch jener zeitgenössischen Kriegsbarden verschlingen, die wie Weinreisende für die Marke »Weltkrieg« emsig in Reklame machen, weil sie dafür, wie kommandierende Generäle, in Autos herumgondeln dürfen, statt, von einem Gefreiten beherrscht, in lehmigen Gräben dem Tode gegenüber zu liegen.
Gibt es wirklich Menschen aus Fleisch und Blut, die noch eine Zeitung in die Hand nehmen können, ohne daß ihnen der Schaum vor dem Mund stände? Kann man wirklich das Bild von angeschossenen Zweifüßlern, die unter strömendem Regen, auf einer schlammigen Wiese, langsam, stumpfsinnig verbluten, im Gehirn tragen, und doch ruhig die Schurkereien über lückenlosen Samariterdienst, federnde Krankenwagen und nobel tapezierte Schützengräben lesen, mit welchen diese Kerle sich militärfrei dichten?
Menschen kehren heim mit stillen, staunenden Augen, in denen der Tod sich noch spiegelt; gehen scheu, wie Traumwandler durch funkelnde Straßen. In ihren Ohren hallt noch das tierische Wutgeheul, das sie selbst in den Orkan des Trommelfeuers hineingebrüllt, um nicht bersten zu müssen vor innerer Not. Mit Grauen bepackt, wie ein Maultier, kommen sie an, den erstaunten Blick erstochener, erschlagener Feinde im Gewissen – und wagen den Mund nicht zu öffnen, da alles ringsum, da Weib und Kind selbst, mit geschwätziger Neugier von Granaten, Gasbomben und Bajonettangriffen drehorgelt. So perlen die Urlaubstage an ihnen ab, und die Rückfahrt in den Tod ist Erlösung von der Scham: ein verkappter Feigling gewesen zu sein unter den Daheimgebliebenen, für die Sterben und Töten Gemeinplätze ohne Schauer geworden.
So mag’s denn so sein, meine Herren Doktoren! Es ist ehrenvoll, der Tobsucht bezichtigt zu werden diesen Halunken gegenüber, die um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, die Menschheit so herrlich abgehärtet, das Mitleiden abgeschafft und den Stolz auf fremdes Leid eingebürgert haben, statt – als einzige Mittler zwischen Not und Macht – das Gewissen der Welt zu wecken; statt mit einem Sprachrohr bewaffnet auf den belebtesten Plätzen so ­lange »Men-schen-sa-lat!« zu brüllen, bis allen, deren Väter, Männer, Brüder, Söhne zur Leichenfabrik gezogen, die Haare zu Berge stehen, und alle Kehlen der Welt ein Echo werden!

Vorabdruck mit freundlicher ­Genehmigung des Verlags aus: ­Andreas Latzko: Menschen im Krieg. Mit einem Nachwort von Hans Weichselbaum. Milena-­Verlag, Wien 2014, 192 Seiten, 20,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.