Die Debatte über Pränataldiagnostik

Diagnose Mensch

Im Jungle World-Dossier »Die Angst vor der Norm« (25/2014) kritisierte Carsta Langner den Artikel »Das genormte Wunschkind« aus dem Sammelband »The Mamas and the Papas«. Eine Erwiderung.

Carsta Langner kritisiert in ihrem Dossier eine Debatte über Pränataldiagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID), die kaum noch ­jemand führt. Langner ist der Meinung, dass in »feministischen Kreisen« mehrheitlich eine »alarmistische Kritik« an Reproduktionstechnologien vorherrsche, als Beispiel dafür muss unser Artikel aus dem Sammelband »The Mamas and the Papas« herhalten. Vermutlich deshalb, weil in Wirklichkeit in der feministischen Debatte von Alice Schwarzer bis zu linksradikalen Feministinnen die Kritik an PND und PID die Ausnahme ist.
Eine relevante Bewegung gegen Gen- und Reproduktionstechnologien gab es nur in den achtziger Jahren. Heute gibt es unseres Wissens neben Einzelpersonen nur noch das »Gen-ethische Netzwerk« und das »Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik«, die eine Kritik an diesen Techniken äußern. Stattdessen entsprechen die meisten feministischen Positionen der Stoßrichtung des Jungle World-Dossiers: PND sei eine tolle Errungenschaft, die Frauen Selbstbestimmung ermögliche, jede Frau müsse selbst entscheiden können, ob sie ein behindertes Kind austrägt oder nicht. Als 2009 Ärzte dazu verpflichtet wurden, eine Beratung zu Spätabtreibungen durchzuführen, und eine Drei-Tage-Frist zwischen Diagnose der Behinderung und Abtreibung eingeführt wurde, war der Aufschrei in feministischen Kreisen groß, da diese Beratung das Selbstbestimmungsrecht der Frauen aushebele – ein absurder Vorwurf, da die Beratung nicht verpflichtend ist. Die Tatsache, dass es sich bei Spätabtreibungen, also bei Abtreibungen nach der 14. Woche, oftmals um die Abtreibung von Föten mit Behinderungen handelt, dass also eine Selektion stattfindet, wurde nicht skandalisiert.

Carsta Langner sieht in der Anwendung der PND die Möglichkeit,dass sich Frauen »frei« für ein behindertes Kind entscheiden können – dies ist logisch banal. In ihrer Verteidigung medizinischer Techniken spielt es für sie keinerlei Rolle, dass 90 Prozent der als behindert diagnostizierten Föten abgetrieben werden.
Im Gegensatz zur Unterstellung von Carsta Langner ging es uns nicht darum, den Frauen die Schuld oder gar die Verantwortung für die problematische gesellschaftliche Praxis aufzubürden, behinderte Kinder gar nicht erst auf die Welt kommen zu lassen. Auch wurden diejenigen Frauen nicht verurteilt, die es sich nicht vorstellen können, die Verantwortung für ein behindertes Kind zu übernehmen. Vielmehr wurde ein gesellschaftlicher Zwangszusammenhang aufgezeigt, der dazu führt, dass dieses gesellschaftlich erwünschte Ergebnis sich immer wieder herstellt: In Zeiten, in denen die »Hausfrauenehe« weder finanziell möglich noch politisch oder in­dividuell erwünscht ist, müssen sich zwei arbeitende Menschen oder muss sich eventuell sogar nur einer darum kümmern, ihr oder sein Leben mit den Bedürfnissen eines Kindes in Einklang zu bringen, das über Jahre hinweg eine Betreuung rund um die Uhr braucht. Dies verstärkt den Wunsch nach einem pflegeleichten Kind und die Möglichkeit, die Geburt eines behinderten Kindes zu vermeiden, erscheint somit rational. Darum nehmen die Frauen in der Regel das Angebot der PND liebend gern in Anspruch.
Verunsicherung und psychischer Druck gehören zu der Prozedur von Anfang an dazu. Sie entstehen, weil die Schwangeren als Risikogebärende klassifiziert werden, was heute bei etwa zwei Dritteln der Schwangerschaften der Fall ist, wobei die überwegende Zahl der Diagnosen falsch-positiv ist. Neben Frauen ab 35 Jahren werden vor allem Frauen, bei denen es beim Ultraschall oder bei Blutuntersuchen zu statistischen Unregelmäßigkeiten kommt, als Risikogebärende eingestuft.

Viele Frauen wollen nur das Beste für ihr Kind und in einer Situation, in der man ohnehin verunsichert ist, greift man nach jedem Strohhalm, der etwas mehr Sicherheit verspricht. Viele Frauen, aber auch Männer, beschreiben es als Stress, in einer kurzen Zeit sehr viele Entscheidungen über die verschiedensten Untersuchungen treffen zu müssen, deren Bedeutung sie kaum einschätzen können. Wenn dann die Diagnose »behindertes Kind« auftaucht, sind viele schockiert und wollen das »Monster« in ihrem Bauch loswerden. In diesem Moment ist man kaum in der Lage, rational über ein mögliches Leben mit einem behinderten Kind nachzudenken.
Der Praena-Test, der heute noch unerschwinglich teuer ist, ermöglicht eine Diagnose bereits in einer frühen Schwangerschaftswoche. Da ihn sich aber kaum jemand leisten kann, sind die Abtreibungen von behinderten Föten oftmals Spätabtreibungen. Es handelt sich nicht mehr um Ausschabungen, sondern um eingeleitete Geburten, die sich über Tage hinziehen können und nach denen die Babys teilweise schon lebensfähig sind. Wenn das Baby in diesem Prozess nicht stirbt, kann es passieren, dass es einfach liegen gelassen wird, denn getötet werden darf es nicht. Diese Prozedur ist nicht nur barbarisch, sondern vielen Eltern auch unbekannt, wenn sie die pränatalen Untersuchungen beginnen. Warum Carsta Langner kritisiert, dass wir uns mehr gesellschaftliche Aufklärung über diese Verfahren vor der Schwangerschaft wünschen, haben wir nicht verstanden, denn nur so kann man gelassen und einigermaßen selbstbestimmt die Untersuchungen während der Schwangerschaft wahrnehmen – oder eben auch nicht.
Dass wir dies »individualisierte Eugenik« nennen, liegt nicht daran, dass wir die Praxis des Nationalsozialismus mit der heutigen gleichsetzen wollen, sondern an der inhärenten Logik. Zwar redet heute niemand mehr von einer »Schwächung des Volkskörpers« durch Behinderte, aber das Ziel ist das gleiche: Es soll keine oder möglichst wenige Behinderte geben, die »uns eh nur auf der Tasche liegen«. Die Methoden freilich unterscheiden sich: Zwangssterilisationen, Eheverbote und Euthanasie im Nazifaschismus, Pränataldiagnostik und individualisierte Abtreibungen heute. Das Interesse, behinderte Kinder nicht auf die Welt kommen zu lassen, kommt heute im Gewand der individualisierten Entscheidung daher, bei der es angeblich nur auf die psychische Gesundheit der Frau ankommt. Darum dürfen seit 1995 Kinder bis kurz vor der regulären Geburt abgetrieben werden, wenn ein Arzt der Frau bescheinigt, dass ein behindertes Kind für sie eine zu große Zumutung wäre.

Die Vorstellung, dass ein behindertes Kind eine große Zumutung wäre, beruht jedoch zum Großteil auf Unkenntnis über das Leben mit behinderten Kindern sowie den Idealen, die Eltern mit Kindern verbinden. Carsta Langer betreibt hier keine Aufklärung, sondern verbreitet Ideologie, wenn sie davon spricht, dass es ein verständlicher Wunsch der Eltern sei, dass ihre Kinder den Kindergarten und die Schule besuchen – als ob dies bei Kindern mit Down-Syndrom und Spina bifida (»Offener Rücken«) nicht möglich wäre.
Wir sind nicht gegen die Behandlung von Krankheiten, allerdings gegen die naive Vorstellung, dass Pränataldiagnostik viel damit zu tun hätte. Als wesentliche Legitimation der PND führen Mediziner immer wieder an, dass es darum gehe, Krankheiten des Fötus schon im Mutterleib zu behandeln, aber dabei handelt es sich bis jetzt um wenige spektakuläre Fälle von zum Beispiel Herzoperationen, um die die darauf spezialisierten Kliniken konkurrieren. Auch gab es nicht weniger Problemgeburten seit der Einführung der PND, sondern einzig und allein die Anzahl von Kindern mit Down-Syndrom und Spina bifida ist zurückgegangen.
Dasselbe gilt für die PID bei der künstlichen Befruchtung, also die Untersuchung von achtzelligen Embryos vor ihrer Einsetzung in den Mutterleib. In den USA, wo die PID in einem größeren Umfang als in Deutschland erlaubt ist, wird sie in der Mehrzahl der Fälle eingesetzt, um Fehlgeburten zu verhindern. Dies ist jedoch ein Mythos, denn nach einer PID erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt. Enden sonst bei der künstlichen Befruchtung bereits nur 23 Prozent der Behandlungen mit Lebendgeburten, so verringert sich der Prozentsatz, wenn davor eine PID durchgeführt wurde, auf 18 Prozent. Die umfassendere Naturbeherrschung, die Carsta Langner in den Techniken der PND und PID unkritisch begrüßt, entspricht nur sehr eingeschränkt der Realität. Selbst das »Versprechen«, behinderte Kinder verhindern zu können, kann nicht eingelöst werden, denn nur ein Viertel der Behinderungen, mit denen Kinder auf die Welt kommen, kann mit diesen Techniken überhaupt erkannt werden, die Hälfte aller Behinderungen entsteht erst im Geburtsprozess. So stellt sich die Frage, wofür der große Aufriss überhaupt gemacht wird.

Wenn Frauen heute Kinder bekommen, steigt insbesondere ihr Armutsrisiko und es wird deutlich schwieriger für sie, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Auch deswegen gehen Schwangerschaften mit vielen Ängsten und Unsicherheiten einher, die verdrängt werden müssen, weil sie gesellschaftlich nicht erwünscht sind. Diese Ängste werden auf ein potentiell behindertes Kind projiziert, weil dies der einzig legitime Ort für diese Ängste ist. Mit den Mitteln der Naturbeherrschung wird versucht, diese Ängste unter Kontrolle zu bekommen. Diese Form der Naturbeherrschung führt jedoch zur Vernichtung eines eigentlich erwünschten Wesens und deshalb zu einem großen moralischen Dilemma für die Frau, der jetzt zugemutet wird, die alleinige Verantwortung über das Für und Wider einer eugenischen Praxis zu tragen. Deshalb verstärkt jede moralische Kritik, die hauptsächlich an die individuelle Verantwortung der Frau appelliert, das Problem nur. Und deshalb müsste eine kommunistische Kritik das kleinfamiliäre Kinderkonzept im Ganzen angreifen und auch schon im Hier und Jetzt Praktiken schaffen, die die Mütter mit den Auf­gaben der Kindererziehung nicht alleine lassen.