Julia Schramm erzählt von ihrem Austritt aus der Piratenpartei

Morgen war gestern

Aufstieg und Fall der Piratenpartei.

Da steht er nun. Dieser untersetzte Mann mit wilden grauen Haaren, barfuß, in einem Kleid, das eine Schlandfahne darstellen soll. Das hatte er vorher angekündigt. Schließlich müsse in Zeiten fehlender Souveränität die deutsche Nation verteidigt werden. Denn die Nation ist der Garant für Wohlstand und Frieden. Vor allem die deutsche. Und außerdem ist es ja auch eine Frechheit, dass es da Leute gibt, die sich antinational äußern. Und dann sind die auch noch gegen Deutschland. Irgendwie. Wäre der untersetzte Mann, dem ich durch die Halle »Nie! Nie! Nie wieder Deutschland« entgegenschreie, nicht in einem Kleid aufgetaucht, ich hätte keine Verbindung zur Piratenpartei herstellen können. Ihm gehört bestimmt auch das Auto vor der Tür mit dem Matthias-Reim-Tankdeckel und den übergroßen Schlandfahnen an den Fensterscheiben. Er findet das witzig, das sehe ich in seinen Augen. Diese Form von Witz, die nur als Feigenblatt für die eigentliche politische Haltung nützt.
Ich stehe also nun in dieser Halle in Halle an der Saale beim Bundesparteitag der Piratenpartei Deutschland und frage mich, wozu es diese Partei noch braucht. Eine Partei, die an der Politik gescheitert ist, an den bestehenden Machtverhältnissen, denen sie entgegentreten wollte. Glaubte ich zumindest einmal. Dass der Ausspruch »Klarmachen zum Ändern!« immer eine leere Floskel blieb; dass das, was es zu verändern gilt, nie wirklich benannt wurde; dass es wohl letztlich auch kaum ein wirkliches Interesse an Veränderungen jenseits der eigenen Lebenswirklichkeit gab und dass die Mehrheit der Partei es auch gut so findet – das hat der Bundesparteitag in Halle, auf dem ein neuer Bundesvorstand gewählt wurde, bewiesen. Gewählt wurden die unpolitischen Nicht-­Visionäre, die sich im Vorfeld vor allem mit Angriffen gegen wie auch immer geartete Linke hervorgetan hatten. Menschen, die mit Verve Sonntagsreden halten, die dann einhellig beklatscht werden, auch wenn sie nichts mit der Realität zu tun und keine politischen Konsequenzen haben. Hier geht es nicht um Politik – hier geht es darum, sich gut zu fühlen, sich zu versichern, auf der richtigen Seite zu stehen, sicher zu sein, Gutes zu tun. Vielleicht wäre die Gründung eines netzpo­litischen Brieftaubenzuchtvereins sinnvoller gewesen. Auf diese Art wären auch die Datenschutzbedenken im Rahmen demokratischer Teilhabe über das Netz nicht problematisch geworden.
Dabei begann das mit den Piraten eigentlich alles ganz vielversprechend. Irgendwie rebellisch, technikaffin und wütend. Wütend über den »Hacker-Paragraphen«, über Polizeirepression bei der Demonstration gegen Überwachung »Freiheit statt Angst« (FsA), über unverhältnismäßige Strafen für Urheberrechtsverstöße, über Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung und generell den Sicherheitswahnsinn, der dem 11. September 2001 gefolgt war. Transparenz, Teilhabe, Bürgerrechte, Demokratisierung und Freiheit wurden schnell zu den Schlagworten der jungen Partei. Schöne Worte, an denen die Partei jedoch in dem Moment zerbrach, in dem sie konkretisiert werden sollten. Denn was bedeuten Teilhabe und Freiheit in den bestehenden Verhältnissen? Während ein Teil der Partei sich emanzipatorischen und linken Strömungen zuwandte, passte sich die Mehrheit dem postdemokratischen Zeitgeist an.

Post­ideologisch, Postgender, Postlogik. Das Wörtchen »post« wurde zum Synonym für eine konsequente Ausblendung tatsächlicher Machtverhältnisse. Dass Politik machen heißt, sich der Machtverhältnisse anzunehmen und in ihnen für die Ziele und Interessen zu kämpfen, die lohnenswert scheinen, dass jede geforderte Veränderung auch einen Machtkampf bedeutet – das war für viele Piratinnen und Piraten undenkbar. Zwar wurde das Programm mit emanzipatorischen und linken Inhalten gefüllt, jedoch hatte dies lediglich eine Auswirkung auf diejenigen, die trotz der reaktionären Kräfte in der Partei blieben. Mit jedem Versuch, das abstrakte Programm in konkrete Politik umzusetzen, brach ein Streit aus, ob das nicht vielleicht doch zu radikal sei und die Menschen abgehängt würden, dass doch Frau Schmitz hinter der Wursttheke mit diesem Familienprogramm überfordert sei. Oder mit den ganzen Crossdressern. Die Außenseiterpartei, also die Partei der Außenseiter, wie gerne kokettiert wird, will am Schluss doch nur geliebt werden. Von der Mehrheit. Endlich. Nach all den Jahren.
Der Einzug ins Parlament in Berlin 2011 löste schließlich den ersehnten Hype aus. Weitere Par­lamentseinzüge folgten und viele Piratinnen und Piraten sahen sich schon sicher im Bundestag. Als Minister. Als Mächtige. Macht wurde so zum Selbstzweck einer Truppe, die sich von Frauen und Antifa-Fahnen an den Rand der Verzweiflung treiben lässt, die Freiheitlich Demokratische Grundordnung enger auslegt als Konrad Adenauer und mit Worthülsen und dem fehlenden Willen, Expertise anzuerkennen oder mutige Schritte zu gehen, letztlich nur um die Rettung der eigenen Vita mit niemals zu abstrusen Pöstchen ringt. (http://piraten.flamefestival.de)
Dass so Politik keine Rolle mehr spielen kann, ist evident. Mit dem Hashtag #reclaimyournetzpartei wurde auf die gefühlte Unterwanderung durch Linke, Feministinnen oder wen auch immer, der es wagt, sich für mehr als seinen eigenen Hard-Drive zu interessieren, reagiert, und eine Rückbesinnung auf die sogenannten Kernthemen gefordert. Dass sich die Protagonisten unter diesem Hashtag in erster Linie für den Erhalt traditioneller Bezeichnungen von Schnitzelsoße engagierten, über den Gebrauch gendergerechter Sprache schmerzvolle Elegien verfassten, in den nationalen Verteidigungskampf gegen die USA eintraten und den Zweiten Weltkrieg im Nachhinein in Opas Namen noch gewinnen wollten, ist eine Randnotiz, von der diejenigen, die sich im Recht wähnen, nicht irritieren lassen. Und so verwundert es nicht, dass der neue Bundesvorstand der Piratenpartei, Christopher Lang, zum Bundesbeauftragten für die »Freiheit statt Angst«-Demo benannt hat. Jenen Christopher Lang, der im Zuge des sogenannten Bombergate bei der Enttarnung einer Antifa-Aktivistin an vorderster Front kämpfte und seine Anti-Antifa-Aktivitäten nur zu gerne mit Gesichtserkennungssoftware betreiben wollte. Das wurde dank des Engagements der Neuköllner CDU und des Berliner Kurier nicht notwendig – Anne Helm wurde auch ohne Gesichtserkennungssoftware als die Antifa-Aktivistin in Dresden enttarnt, die sich »Thanks Bomber Harris« auf den entblößten Oberkörper geschrieben hatte. Der Enttarnung folgte ein digitaler Terror sondergleichen. Piraten und Nazis – Hand in Hand im Kampf gegen eine Antifaschistin. Dass der Queer-Beauftragte der Piratenpartei nicht genau weiß, was »cis« bedeutet, heterosexistische, frauen- sowie transfeindliche Witze macht und der neue politische Geschäftsführer sich eher als verwaltend und unpolitisch betrachtet, sind dann nur noch Anekdoten. Eigentlich fehlt in diesem Zirkus nur noch Erika Steinbach als Beauftragte für Asyl- und Flüchtlingspolitik. Zeit und Erfahrung bringt sie ja mit. Aber für die ist die Piratenpartei wahrscheinlich auch schon zu tot.
»Die Partei lebt. Und wie sie nicht stirbt mit jenen, in denen sie lebt, so leben, über-leben die­se durch sie, in ihr.« Was Bini Adamczak in ihrem Buch »Gestern Morgen« über die KPdSU schreibt ist eine bizarr-präzise Analyse des Zustands der Piratenpartei. Kritik an der Partei oder ihren Funktionsträgern wird gnadenlos niedergeschrien, der eigene Anspruch, der sich in der Floskel »Sei Pirat! Denk’ selbst!« manifestiert, konterkariert. Es geht nicht darum, selbst zu denken, sondern darum, angepasst zu denken, um beliebt sein. Dabei aber ganz furchtbar rebellisch zu wirken. Ein bisschen so wie Diederich Heßling in Heinrich Manns »Der Untertan«.
Und so kommt wahrscheinlich alles wieder. Erst als Tragödie, wie bei den Grünen, und dann als Farce, wie bei den Piraten. Wo die KP in Terror und Schönwetterreden untergegangen ist, hat die Piratenpartei mit Terror und Schönwetterreden bereits angefangen, bevor sie auch nur in die Nähe politischer Macht vorgedrungen war.

Da steht der neue Bundesvorsitzende in Halle auf der Bühne und freut sich über das Nichtzustandekommen einer recht-rechten Fraktion im Europaparlament, während die frischgebackene Europaparlamentarierin Julia Reda für ihren Aufruf zu innerparteilicher Solidarität ausgebuht wird. Da wird von der Piratenpartei als Ansammlung besserer Menschen geschwafelt, die sich den Sachzwängen nicht zu unterwerfen habe. Gleichzeitig werden Schlandinsignien gefeiert, als gäbe es die Angriffe auf Flüchtlingsheime unter deutschen Nationalfarben nicht.
Hatte die KP noch ein Freiheitsversprechen, so krakeelt die Piratenpartei zwar ständig etwas von Freiheit, doch was sie mit Freiheit meint, könnte diffuser nicht sein. Während einige unter Freiheit verstehen, dass sie nicht zu kritisieren seien, fühlen sich andere in ihrer Freiheit beschränkt, wenn sie Frauen nicht sexuell belästigen sollen. Dass Freiheit eine ökonomische Dimension hat, sehen dabei die Wenigsten. Wie auch? Schließlich rekrutiert sich die Piratenpartei in erster Linie aus weißen Mittelschichtsmännern, die mit noch so wenig IT-Kenntnissen stets ein beträchtliches Auskommen hatten. Und während die KP sich des Kampfs nach außen noch bewusst war, ist sich die Piratenpartei im Kampf gegen die innerparteilichen Gegner genug. Neuer Höhepunkt ist eine politisch motivierte Datenbank eines Vielleicht-Mitglieds – das mit den Parteiausschlussverfahren ist ja auch kompliziert! –, das sich von circa 4 000 irgendwie als links detektierten Twitter-Usern gemobbt fühlt und entsprechend deren Tweets auf Vorrat speichert. Die NPD hat diese Datenbank bereits freudig genutzt, der Bundesvorstand der Piratenpartei sein Unbehagen geäußert – ohne Konsequenzen zu ziehen. Dass das besagte Vielleicht-Mitglied ein Freund des FsA-Beauftragten mit Anti-Antifa-Tendenzen ist, zeugt dagegen deutlich vom Unwillen der neuen Bundesvorstände, solchen Umtrieben Einhalt zu gebieten. Und in so einem Umfeld lässt sich nichts mehr machen. Geschweige denn eine emanzipatorische Politik, die sich der Beschaffenheit der Welt stellen will. Und wenn ein Resultat der Aufklärung ist, dass die Mathematik die Logik der herrschenden Verhältnisse ist – wie sollte von denen, die in dieser Logik fundamental verhaftet sind, erwartet werden, dass sie das Bestehende hinterfragen?

Julia Schramm lebt als Autorin und Publizistin in Berlin. Sie trat 2009 in die Piratenpartei ein, war bis 2012 im Bundesvorstand und ist im März 2014 aus der Partei ausgetreten.