Das North-Sea-Jazz-Festival in Rotterdam

So swingt das System

Pharrell Williams, Stevie Wonder, Neneh Cherry – das Programm des North-Sea-Jazz-Festivals in Rotterdam trägt der Bedeutung von Jazz in der Popmusik Rechnung. Aber auch dem Festivalkapitalismus.

Die komischste Szene der Filmgeschichte über einen Jazzmusiker stammt aus »Jazzclub«: Nachdem Helge Schneider tagsüber in einer Fischbude geschuftet und nachts mit Freunden im Club abgejazzt hat, muss er in den grauen Morgenstunden bei strömendem Regen Zeitungen austragen. Der geniale Jazzmusiker steht vor den zig Briefkästen eines Plattenbaus und pappt die vom Regen zu Pappmaché verklebten Zeitungen in die silbernen Schlitze. Ein Desaster.
Von diesem überzeichneten prekären Typus des Jazzmusikers, der sich im vergangenen Jahrhundert meist vollkommen überfordert vom Lebensmodell Miete-Strom-Gas in die Drogensucht flüchtete, ist die internationale Jazzszene heutzutage ein ganzes Stück weit entfernt. Am Wochenende vom 11. bis 13. Juli konnte man beim North-Sea-Jazz-Festival in Rotterdam einen dreitägigen Rundgang durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Jazz machen. Auf über zehn Bühnen gleichzeitig wurden Stücke aufgeführt und impro­visiert.
Tatsächlich gelingt es den Festivalplanern aus dem Hause Mojo Concerts, das dem multina­tionalen Konzern Live Nation angehört, alljährlich ein hochkarätiges Line-up zusammen­zustellen. Diese Ansammlung von Spitzenmusikern, die sich seit einigen Jahren unter dem Hallendach des Messe- und Eventzentrums »Ahoy« in der Nähe des Rotterdamer Hafens einfindet, vereint die ganze Jazzfamilie von Swing, bis Hard-Bop, von Soul bis Funk, von R ’n’ B bis Electronic und HipHop sowie alle möglichen Experimente dazwischen.
Mögen die Festivalpreise so manchem den Spaß verderben, im Vergleich zu anderen Veranstaltungen dieser Größenordnung bewegt sich das North-Sea-Jazz-Festival mit ungefähr 200 Euro pro Ticket immer noch fast in Volksnähe – vor allem bezogen auf das Programm: von Pharrell Williams, Outkast, Stevie Wonder, Sun Ra Arkestra und Neneh Cherry bis hin zu Mehliana, dem Post-Fusion-Projekt des amerikanischen Jazzpianisten und Keyboarders Brad Mehldau und dessen Schlagzeugers Mark Guiliana, dessen Live-Darbietungen zu den eindrucksvollsten der Gegenwart zählen dürften. Ein wenig fühlte man sich während ihres Auftritts an die Postrocker von Tortoise erinnert, die in den späten neunziger Jahren die Mischung aus Indierock, Electronic und Soundtrack auf ein unerwartetes Niveau brachten. »Millions Now Living Will Never Die« hieß ihr bahnbrechendes Album.
»Taming the Dragon«, das Debütalbum von Mehliana, klingt, als habe der unfassbar versierte Drummer Guiliana die vergangenen zehn Jahre damit verbracht, alle möglichen Drum ’ n’ Bass-, Electro- und Dubstep-Platten zu hören, und beschlossen, die programmierte Abstraktheit dieser Beatwelten auf ein konventionelles Schlagzeug zu übertragen. Dank seines handwerklichen Geschicks und seines improvisationsgeschulten Jazz-Gehöres erreichen diese gebrochenen Rhythmussequenzen eine im Bereich des Jazz zuvor nie dagewesene Qualität. Ähnlich etwa wie es einst The Roots mit ihrem Schlagzeuger ?uestlove gelang, die gesampelten Drumloops der HipHop-Welt mit unerhörter Präzision nachzuspielen, borgt sich Mark Guiliana die programmierten Rhythmen der Jahrtausendwende für seine Performance aus. Die von Mehldau auf dem E-Piano gespielten Akkordverbindungen, immer wieder im abrupten Wechsel mit bratzigen Moog-Bässen arrangiert, versetzten das Publikum live in eine Soundwelt, die die Generation vor uns ähnlich elektrisierend erlebt haben muss, als Miles Davis mit »Bitches Brew« die Bühne betrat. Nur scheint Mehliana die programmierte Welt der Audio-Software in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.
Zusammen mit der britischen Soulsängerin Joss Stone gab Soulguru Stevie Wonder während seines zu Recht umjubelten Konzerts das Stück »Living for the City« zum Besten und predigte gegen Rassimus und Diskriminierung. Im benachbarten Saal führte derweil das Sun Ra Arkestra unter der Leitung des Saxophonisten Marshall Allen den kosmischen Jazzklas­siker »Space Is the Place« auf.
Auf den Wegen zum großen Saal herrschte bereits vor dem Konzert von Pharrell Williams ein unglaubliches Gedränge. Panikanfälle blieben aber glücklicherweise aus, die Staus in den Menschenschlangen lösten sich in Wohlgefallen auf. Wer die Massenveranstaltungen in den großen Hallen meiden wollte, dem wurde auf den kleinen Bühnen ohnehin genug geboten. Etwa die wundervolle Mavis Staples, die einst als Sängerin der Staple Singers Soul-­Geschichte schrieb. Begleitet von einer staubtrockenen Southern-Soul-Band führte sie als mittlerweile 75jährige Songs der Talking Heads auf. Noch nie ist einem »Slippery People«
von David Byrne und Co. so ans Herz gegangen. Oder der große Saxophonist des sogenannten Spiritual-Jazz (ist nicht selbst Helene Fischer gewissermaßen spirituell?), Pharoah Sanders, der einen Raum im größten Multifunktionskomplex Europas zum buddhistischen Tempel machte.
Das traditionsreiche Label Blue Note Records, das gerade sein 75jähriges Bestehen feierte, schickte Jason Moran, den Starpianisten der neuen Generation, samt Begleitband zum Festival. Zusammen mit dem berühmten Funk- und Jazz-Organisten Dr. Lonnie Smith spielten sie etwa eine Version von Duke Ellingtons »Caravan«. Die Drehlautsprecher der Orgel rotierten dabei unentwegt.
Mit Bootsy Collins' P-Funk-Madness begann das Festival am Freitagnachmittag, mit P-Funk-Madness von Outkast endete es am Sonntagabend parallel zum Finale der Fußballweltmeisterschaft. Allerdings ohne Public-Viewing auf dem Festivalgelände.
Am Ende liefen Hunderte von Helfern mit riesigen Besen durch das Kongresszentrum und fegten unzählige leere Bierbecher aus den Hallen. Ob sich unter ihnen wohl Jazzmusiker befanden, die sich hier ein paar Euro für Miete-Strom-Gas verdienten? Mit Trinkgeldern sah es jedenfalls mau aus. Essen und Getränke gab es ausschließlich im Tausch gegen Wertmarken, die man am Markenstand oder, noch praktischer, anonym am Markenautomaten erwerben konnte – direkt vom Giro-Konto abgebucht. Auf Papier gedruckte Zeitungen kauft ja auch kaum noch jemand, dachte man still und leise und blickte verdutzt auf seine Fes­tival-App – willkommen im digitalen Festivalkapitalismus!
Dem Jazz und seinen geschäftstüchtigen Kindern scheint die Digitalisierung der Welt und des Kapitalflusses jedenfalls wenig anzuhaben. Eher schon scheinen Musiker alle Facetten der Gegenwart miteinzubeziehen, man denke nur an Daft Punk oder das jüngste Schaffen von Dr. Dre. Insofern der Jazz dabei seine soziale Herkunft nicht vergisst und sich nicht vollends korrumpieren lässt, unterschreibt man auch dieses Jahr nur allzu gern den alten Leitspruch »Jazz is the teacher, Funk is the prea­cher« – und freut sich auf die Lehrer und Prediger, die da kommen mögen. Der Einfluss des Jazz auf die Popwelt ist im Jahr 2014 jedenfalls größer, als er jemals war. Das darf einen durchaus »happy« machen.