Das Buch »Die Benjamins. Eine deutsche Familie«

Links, jüdisch, vergessen

Uwe-Karsten Heye erzählt die Geschichte der Familie Benjamin.

Die Weizsäckers, die Mann-Familie, ganz zu schweigen von Goethe und seiner Entourage, sie haben ihren Stammplatz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Fernsehserien werden über sie gedreht und zur Prime-Time gesendet, Bücher befassen sich mit ihrem privaten und öffent­lichen Leben. Anders verhält es sich mit der Familie Benjamin. Mit ihr identifizieren sich wenige Deutsche; nicht mit Walter Benjamin und seinem Bruder Georg, dem beliebten Schularzt und überzeugten Kommunisten, der von den Nazis in Mauthausen ermordet wurde; nicht mit Walter Benjamins Schwester Dora und seiner Schwägerin Hilde Benjamin, die die erste Justizministerin der DDR war, oder mit ihrem Sohn Michael, Rechtsprofessor in Moskau und Ost-Berlin.
Wahrscheinlich hat dieses Desinteresse etwas mit der linken Gesinnung und dem Judentum der Familienmitglieder zu tun. Umso wichtiger, dass nun eine kenntnisreiche und höchst lesenswerte Familiengeschichte der Benjamins erschienen ist. »Die Benjamins: Eine deutsche Familie« lautet der Titel der von Uwe-Karsten Heye verfassten Biographie. Heye war Reden­schreiber von Willy Brandt, später Pressereferent unter Gerhard Schröder. Er ist der Familie Benjamin im wahrsten Sinne des Wortes nachgegangen – bis nach Portbou, dem spanischen Grenzstädtchen, wo sich Walter Benjamin am 26. September 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben genommen hat.
Das Buch erzählt nicht chronologisch, sondern schildert kapitelweise das Schicksal der fünf Familienmitglieder. Auf der Grundlage von bislang unbekanntem Archivmaterial und Gesprächen mit Zeitzeugen entsteht ein beeindruckendes Psychogramm der Familie. Vieles, was Heye in seinem Buch beschreibt, ist in anderen Biographien bislang nicht berücksichtigt worden, da die Autoren sich meist ausschließlich auf Walter Benjamin konzentrierten. Von Heye erfahren wir Näheres über die Schwester Dora: Sie hatte in den zwanziger Jahren an der Universität Greifswald über »Die soziale Lage der Berliner Konfektionsarbeiterinnen unter besonderer Berücksichtigung der Kinderaufzucht« promoviert. Die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft war eines ihrer zentralen Themen; sie bewegte sich in feministischen Kreisen, trug Bubikopf und war mit dem Psychologen und Suchtmediziner Fritz Fränkel bekannt. Ihr Engagement galt Müttern und Kindern sowie den »Schlafburschen«, die vom Land in die Metropole kamen, um dort zu arbeiten. Vor allem im »Roten Wedding«, damals wie heute ein »Problembezirk«, war sie aktiv. Sie setzte sich für Straßenkinder ein und kämpfte gegen Kinderarbeit, die sehr weit verbreitet war. Uwe-Karsten Heye schreibt: »Wer in der Dissertation von Dora Benjamin blättert, erkennt, wie fortschrittlich sie vor gut 85 Jahren gewesen ist.« Sie war eine enge Freundin von Hilde Benjamin. Dora ging ins Exil, erst nach Frankreich, später in die Schweiz, wo sie starb.
Mit Erschrecken liest man, wie die Schweizer Grenzbehörden mit jüdischen Flüchtlingen wie Dora Benjamin umgingen. »Flüchtlinge nur aus Rassegründen, zum Beispiel Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge!«, lautete die Anordnung des Chefs der Polizeiabteilung des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartments. Die Grenzen sollten vollständig geschlossen werden.
Besonders eindrucksvoll sind die Kapitel zu Georg und Hilde Benjamin. Der Autor schildert die Verfolgung des jüdischen Kommunisten Georg, seine Inhaftierung und seinen Tod im KZ Mauthausen, dessen Umstände bis heute nicht geklärt sind. Sehr anrührend sind dabei die von Heye wiedergegebenen, bislang größtenteils unbekannten Briefe von Georg an seinen kleinen Sohn, dessen Aufwachsen er fast ausschließlich aus dem Gefängnis heraus verfolgen konnte. Er ließ ihn Rätsel lösen, überlegte sich Aufgaben und Gedichte für das Kind, trieb Schabernack mit ihm, nahm Anteil an den Kinderkrankheiten und gab ärztliche Ratschläge. Er war ein solch engagierter Vater, dass er den Spitznamen »Babypapa« hatte. Für die dama­lige Zeit galt er als ungewöhnlich gefühlsbetonter Mann.
Heye unternimmt den Versuch, Hilde Benjamin, die erste Justizministerin der DDR, die im Westen als »rote Hilde« verschrien war, neu zu beurteilen. Er begreift ihren Enthusiasmus für den neuen Staat DDR als Reaktion auf das Leid, das sie und ihre Familie (sie war die Ehefrau des in Mauthausen ermordeten Georg Benjamin) unter den Nazis erfahren mussten. Hilde Benjamin war eine schwer traumatisierte Frau. Scharf kritisiert der Autor die mediale Kampagne gegen die Justizministerin im Adenauer-Deutschland. Einige Passagen aus der damaligen Presse lesen sich, als sei »der Kommunist« Georg Benjamin zu Recht ermordet worden. Hilde wurde lediglich als Dogmatikerin wahrgenommen, ihr Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit unterschlagen. Auch der Vergleich zwischen der ersten Justizministerin der DDR und dem NS-Juristen Roland Freisler war mehr als unpassend. In den westlichen Medien wurde lange Zeit aus beinahe jedem in der DDR verurteilen Nazi ein, so Heye, »Opfer des unmenschlichen Unrechtssystems DDR« gemacht. Heye erinnert daran, dass 1950 selbst die Zeit die Legitimität der Nürnberger Prozesse bezweifelte. Das im Kalten Krieg entstandene Zerrbild der kommunistisch orientierten Familie Benjamin kann Heye korrigieren. In den Kapiteln über Benjamin sind es vor allem Heyes persönlicher Ton, sein Mut zur eigenen Stellungnahme, seine Einfühlung in die Flucht- und Vertreibungsgeschichte des weltberühmten Philosophen und Schriftstellers, die die Biographie lesenswert machen. Hier wird nicht nur akkurat jede Menge Material zusammengetragen, was vor Heye auch schon einige Autoren getan haben, vielmehr wird das Leben Benjamins aus heutiger Sicht mit eigener Bewertung geschildert.
So hat Heye selbst den Fluchtweg von Walter Benjamin über die Pyrenäen abgeschritten. Mittlerweile kann jeder Tourist diesen Weg – »camí Walter Benjamin« oder »la ruta de Walter Benjamin« – selber laufen. Bis hin nach Portbou, zur großartigen Erinnerungsstätte »Passagen – Hommage an Walter Benjamin«, einer der schönsten Gedenkorte Europas, geschaffen von dem israelischen Künstler Dani Karavan. In Portbou hatte sich Walter Benjamin am 26. September 1940, nachdem sein Visum von den spanischen Grenzbehörden für ungültig erklärt worden war, das Leben genommen. Ein ungültiges Visum war gleichbedeutend mit der Rückkehr in das von den Nazis besetzte Frankreich, die Gestapo war Benjamin schon auf den Fersen. Dem herzkranken Philosophen hatten die Spanier eine Nacht in einem Hotel gelassen, um sich für die Strapazen der Abschiebung vorzubereiten, dann sollte er zurückgeschickt werden.
Wenn man »Die Benjamins« liest, muss man nicht selten an die Flüchtlingsschicksale der Gegenwart denken und die fragwürdige Politik an den EU-Außengrenzen.

Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie. Aufbau-Verlag, Berlin 2014, 361 Seiten, 22,99 Euro