Wien und Kokain

Wiener Schnäh

Von Ivo Bozic

Die österreichische Hauptstadt hat den Ruf, eine Kokser-Metropole zu sein.
Nicht ganz zu Unrecht. Aber auch nicht ganz zu Recht.

Als im Jahr 2009 Spuren von Kokain im Colagetränk des österreichischen Großkonzerns Red Bull gefunden wurden, soll es in Wien zu Hamsterkäufen gekommen sein. Zwar war die festgestellte Dosis so gering, dass man 100 000 Liter hätte trinken müssen, um eine Rauschwirkung zu erzielen, doch die Wiener fürchteten trotzdem ein Verbot und sicherten sich schnell die örtlichen Supermarktbestände. »Ganz Wien träumt von Kokain«, sang Georg Danzer einst, und ganz abwegig scheint diese Zeile nicht zu sein – auch wenn es sicherlich nicht als Anspielung gemeint ist, dass sich der städtische Verkehrsbetrieb »Wiener Linien« nennt. Als das Magazin News vor zwei Jahren 15 angesagte Wiener Lokale auf ihre Schneelage testete, fanden die Reporter an 73 Prozent der untersuchten Flächen wie Spülkästen und Klodeckeln Kokainspuren.
Aus der jüngeren Pop-Geschichte Wiens ist der weiße Stoff nicht wegzudenken. Wie es in Joachim Lottmanns jüngstem Roman »Endlich Kokain«, der nicht zufällig in Wien beginnt und der die Geschichte eines fettleibigen Fernsehredakteurs erzählt, der mittels Kokain sein Übergewicht verliert und ein neues Leben gewinnt, so schön heißt: »Was woanders eine Droge ist, ist hier Folklore.« Die früher eng befreundeten Musiker Wolfgang Ambros und Rainhard Fendrich zerstritten sich, nachdem Ambros öffentlich Fendrich wegen seines übermäßigen Kokainkonsums kritisiert hatte. Fendrich wurde ­wegen Kokainmissbrauchs zu 37 500 Euro Geldstrafe verurteilt, nachdem man ihn beim Kauf von zwei Gramm Koks erwischt hatte. Er sagte vor Gericht: »Ja, ich habe locker Koks im Wert eines Ferrari durch die Nase gezogen!« Freilich war Ambros selbst ein Kokser vor dem Herrn, wie er in seiner Autobiographie offenbarte (»Das ist kein Berg Kokain, das sind die Dolomiten«), das alles sei allerdings »Schnee von gestern«. In einem seiner Songs heißt es: »Im Wein liegt nix mehr, ois passee – De Woaheit is so weiß wia Schnee.«
Wie er gehen viele österreichische Schnupfkünstler recht offen mit ihrer Vorliebe um und widmen ihr Lieder. Georg Danzer sang: »Die ganze Szene schreit: au weh, wann gibt’s denn endlich wieder Schnee.« Der alternative Volksmusiker Hubert von Goisern, ab Ende Oktober auch in Deutschland auf Tournee, gibt offen zu, Kokain konsumiert zu haben, und hat in seinem Repertoire ein Lied namens »Kokain-Blues«, das so beginnt: »Unlängst war I unten, beim Doktor im Spital, der schaut ma kurz in d’Nasen und sagt: sehr fatal. Denn wie ich seh’, Mann, bist du ein echter Schneemann.« Der Austropop-Musiker Boris Bukowski, von dem das Lied »Du bist wie Kokain« bekannt wurde, erklärte im Januar in einem Interview: »Ich habe mir damals strikt auferlegt: Nie mehr als drei Lines pro Abend und niemals öfter als einmal pro Woche.«
Am berühmtesten sind natürlich die Hymnen des bekanntesten Wiener Koksers, Falco. Der Durchbruch als Solokünstler gelang ihm mit dem Song »Ganz Wien«, in dem es heißt: »Ganz Wien ist heut auf Heroin, ganz Wien träumt mit Mozambin, ganz Wien greift auch zu Kokain, überhaupt in der Ballsaison, man sieht ganz Wien, Wien, Wien is so herrlich hin, hin, hin.« Mit dem Schnupfsong »Der Kommissar« schaffte er es an die Spitze der Hitparaden, seine großartige Parodie des Berliner Küchenliedes »Mutter, der Mann mit dem Koks ist da« verhalf ihm später zu seinem Comeback und wurde zum Partyhit. 1998 starb Falco bei einem Autounfall in der Dominikanischen Republik, im Blut jede Menge Kokain, Alkohol und THC.
Falco, der mit bürgerlichem Namen Johann »Hans« Hölzel hieß (nicht zufällig heißt das große, an Martin Kippenberger erinnernde Kokser-Vorbild für den Hauptprotagonisten in Lottmanns Roman »Josef Hölzl«), ist durch das Kokain zum Star geworden – und hat sich angesichts des kommerziellen Erfolgs entpolitisiert. In einem Gespräch mit dem Musikexpress kurz vor seinem Tod sagte er: »Meine erste Band, Drahdiwaberl, war ja politisch nicht sehr weit entfernt von Ton Steine Scherben. Wir haben auch versucht, uns so lange zu verwirklichen, bis wir dann endlich unter unserer Kunst gelitten haben. Ich habe mich dafür entschieden, nicht allzu viel zu leiden. (…) Ich war mit Drahdiwaberl im linken Lager. Dann kam ›Ganz Wien‹ und kurz danach schon der ›Kommissar‹, mit dem ich über Nacht unglaublichen Erfolg hatte. Ich konnte mir ja keine Salzsäure ins Gesicht schütten, nur um weiterhin von der linken Szene akzeptiert zu sein. Warum hätte ich die Kohle damals nicht nehmen sollen? Ich bin mir sicher, Rio (Reiser, d. Red.) hätte sie auch genommen, fünf Millionen Mark nimmt man eben.« Und der Stoff war ja auch nicht ganz billig.
Wien hat eine lange Kokain-Geschichte. Bereits Sigmund Freud empfahl die »Arznei« gegen Hysterie, Hypochondrie und Depression. Einem schwer morphiumabhängigen Freund, Ernst von Fleischl-Marxow, verschrieb er Kokain als Substitutionsmittel. Schnell wurde der Freund auch davon abhängig, Freud erhöhte ständig die Dosen, bis der Patient an schlimmen Wahnvorstellungen litt und schließlich wohl auch an den Folgen des Drogenmissbrauchs verstarb. In Lottmanns Roman hält sich der Held bei seiner Diät auch an Freuds Kokain-Ratgeber – allerdings mit größerem Erfolg.
Im Alter von 28 Jahren nahm Freud zum ersten Mal Kokain, er war damals Assistenzarzt in einem Wiener Krankenhaus. Er probierte es eine Weile lang aus, außer einem leichten Schwindelgefühl habe der Stoff keine Nebenwirkungen, war er sich sicher. Seiner späteren Ehefrau Martha Bernays schickte er kleine Dosen, um sie »stark und kräftig zu machen«, und schrieb ihr in einem Brief: »Wehe, Prinzesschen, wenn ich komme. Ich küsse Dich ganz rot und füttere Dich ganz dick, und wenn Du unartig bist, wirst Du sehen, wer stärker ist, ein kleines, sanftes Mädchen, das nicht isst, oder ein großer, wilder Mann, der Cocain im Leib hat. In meiner letzten schweren Verstimmung habe ich wieder Coca genommen und mich mit einer Kleinigkeit wunderbar auf die Höhe gehoben. Ich bin eben beschäftigt, für das Loblied auf dieses Zaubermittel Literatur zu sammeln.« In diesem Loblied, »Über Coca«, schrieb er dann, man fühle sich mit Kokain euphorisch, lebenskräftig und auch arbeitsfähig. Er empfahl offensiv den Kokaingebrauch und beklagte die hohen Preise der damals frei in Apotheken gehandelten Droge. Auch nach dem Tod seines Freundes Fleischl-Marxow ließ er vom Kokain nicht ab, obwohl er sich des Scheiterns seiner Therapie bewusst war und sich offenbar Vorwürfe machte, was er jedoch nie öffentlich eingestand, sondern nur posthum aus privaten Briefwechseln bekannt wurde.
Auch heute noch ist Kokain in Wien nicht gerade eine exotische Droge. Der Handel mit dem weißen Pulver hat zugenommen. 2009 wurden 53,3 Kilo von Fahndern beschlagnahmt, 2010 waren es 241 Kilo. Bis 2013 erhöhte sich auch die Zahl der Österreicher mit Kokainerfahrung weiter, auf fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch wenn der Kokainkonsum in anderen Ländern wie Spanien oder den Niederlanden bedeutend höher ist, ist Koks in Österreich nach Cannabis die zweitbeliebteste illegale Droge. Um die Reinheit ist es jedoch nicht besonders gut bestellt. Wie der staatliche »Bericht zur Drogensituation 2013« auf Grundlage der Daten der Drogenberatungsstelle »Check it!« aufzeigt, enthielten von 104 als Kokain gekauften Proben nur rund 13 Prozent außer Kokain keine weiteren psychoaktiven Zusatzstoffe. Im Durchschnitt lag die Reinheit bei 31,8 Prozent, der Straßenverkaufspreis bei 80 Euro pro Gramm. Wobei der Preis wohlgemerkt nichts über die Reinheit aussagt. Am häufigsten als Beimischung gefunden wird Levamisol, ein Entwurmungsmittel, das sich in 70 bis 75 Prozent der Kokainproben findet.
»Checkit!« bietet nicht nur eine Drogenberatung an, sondern betreibt auch im staatlichen Auftrag Drug Checking in der Club- und Partyszene. Zwischen zehn und 15 Mal im Jahr kann man auf Partys bei den mobilen Teams seinen Stoff völlig anonym analysieren lassen. In Berlin gab es in den neunziger Jahren mit »Eve & Rave« ein ähnliches Projekt, das jedoch aufgrund staatlicher Repression nicht fortgeführt werden konnte. Seit Jahren kämpfen Initiativen der Drogenberatung dafür, das Drug Checking in Deutschland zu legalisieren. In Wien finanzieren es die Stadt und der Staat.
»Checkit!« gibt es seit 17 Jahren und ist längst etabliert. Sonja Grabenhofer ist die Leiterin und empfängt die Jungle World in einem etwa sechs Quadratmeter kleinen Beratungsraum. Mit Koksern hat man dort aber eher selten zu tun. »Kokainkonsumenten tauchen selten im Behandlungssystem auf«, erklärt Grabenhofer. Die meisten User haben ihren Konsum halbwegs im Griff. Das liegt auch daran, dass in Österreich kaum Kokain in Form von Crack geraucht wird. »In Wien ist Crack nie angekommen«, sagt Grabenhofer. Hinsichtlich der Ursache könne sie nur spekulieren. »Ich glaube, das ist zu schnell und zu hart für die Wiener, das passt nicht zur Mentalität«, sagt sie lächelnd. Das Ziel der Wiener Drogenpolitik sei insgesamt »sehr vernünftig«. Es gehe darum, »dass so wenig Menschen wie möglich Drogen nehmen, und die, die nicht davon abzuhalten sind, so wenig Schaden nehmen wie möglich«. Über die Finanzierung ihrer Arbeit kann Grabenhofer nicht klagen. Andere Projekte der Drogenberatung sind nicht ganz so glücklich mit ihrer Situation. Waren sie früher über ihre jeweiligen Standorte »objektfinanziert«, gilt seit Januar dieses Jahres die »Subjektfinanzierung«. Nach dem zweiten Kontakt mit dem Klienten müssen die Drogenberater dessen Ausweis, Meldezettel und Daten über die Suchtgeschichte bei der bewilligenden Stelle vorlegen, denn jeder Klient wird einzeln abgerechnet. »Das bedeutet faktisch das Aus für die anonyme Drogenberatung«, kritisiert Daniel Sanin, der in Wien als Psychologe in der Drogenhilfe tätig ist. Nur in Ausnahmefällen könne man noch, sozusagen nebenher, anonyme Beratung anbieten, abrechnen lässt die sich dann aber nicht. Eine Debatte darüber oder gar einen öffentlichen Aufruhr hat es deswegen nicht gegeben. Welche Auswirkungen die neue Wiener Linie hat, wird sich zeigen, wenn im Winter das erste Jahr mit neuem Finanzierungsmodell ausgewertet werden kann.