Der Streaming-Dienst Netflix führt dank Big Data zur Kontrollgesellschaft

I Have a Stream

Wie der Streaming-Dienst Netflix die öffentlich-rechtliche Disziplinargesellschaft überwinden hilft und sie durch eine von Big Data geprägte Kontrollgesellschaft ersetzt.

Das Geschäftsmodell der Musik­industrie ist es, uns ihren Schmarrn als überteuerte CDs und Downloads unterzujubeln. Wenn das Geschäftsmodell mal hakt, ruft der Lobbyistenverband der Musikindustrie nach dem Staat, die Musikfans sollen gewissermaßen verpflichtet werden, die überteuerten Produkte in den gated communities, auf den Vertriebswegen, die der Musikindustrie gehören, für viel Geld zu kaufen.
Das Geschäftsmodell der Verlagsindustrie ist es, uns ihre Bücher möglichst ausschließlich in gedruckter Form und zu festgelegten, überteuerten Preisen (die Buchpreisbindung gilt in der Wirtschaft als eine Festlegung von Kartellmacht) zu verkaufen. Das vorhandene preisgünstigere Modell, nämlich das E-Book, wird von der Kulturindustrie und von der Politik benachteiligt – durch überteuerte Preise und dadurch, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent, der vom Staat für gedruckte Bücher gewährt wird, nicht für E-Books gilt, da müssen 19 Prozent Mehrwersteuer bezahlt werden. Förderungswürdiges »Kulturgut« ist für die deutsche Politik eben nicht der ­Inhalt eines Buches, sondern einzig der Druck desselben, also wenn man so will das Vertriebsmodell. Eine einseitige Subvention der Kulturindustrie durch den Staat, zum Nachteil der Leser. Wenn das Geschäftsmodell in Schwierigkeiten gerät, etwa dadurch, dass ein Vertriebskonzern wie Amazon versucht, bessere Rabatte auszuhandeln, ruft der Lobbyistenverband namens »Börsenverein des Deutschen Buchhandels« nach – genau: dem Staat!
Das Geschäftsmodell des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist es, uns all den Mist, den wir mit unseren monatlichen Zwangsgebühren finanzieren müssen, als das unterzujubeln, was wir eigentlich sehen wollen, denn die Quote, erhoben von einem börsennotierten Konsumforschungskonzern bei sage und schreibe 5 640 Haushalten mit sage und schreibe 10 500 Personen, kann natürlich nicht lügen. (Die mehreren Millionen in Deutschland lebenden Nicht-EU-Bürger, die natürlich auch das monatliche Zwangsgeld an die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten abführen müssen, werden bei der Erhebung übrigens nicht mitgezählt.) Und so werden wir also gezwungen, mit unseren monatlichen Gebühren Fernsehsendungen von Andrea Berg, Helene Fischer, Florian Silbereisen und eine nationalistische »Volks-Rock’n’ Roll-Show« zu finanzieren. Und wenn irgendein dumpfer Thronfolger in irgendeinem der sich als Demokratien tarnenden dumpfen europäischen Königreiche heiratet, ist das deutsche Staatsfernsehen unter Garantie live dabei, und zwar gerne auch auf allen Kanälen zugleich – ein schöneres, ein hässlicheres Bild für die Gleichschaltung des deutschen Fernsehens lässt sich kaum finden.
Das deutsche Staatsfernsehen ist eine einzigartige, effektive Verblödungsmaschine, der pure Fernsehhorror. Und wenn das Geschäftsmodell mal nicht mehr funktioniert? Macht nichts, denn das Geschäftsmodell ist ein explizit staatliches unter der Tarnung eines »öffentlich-rechtlichen« Systems, weswegen es auch völlig egal ist, ob und was die Menschen tatsächlich schauen, denn es kommt auf das »cui bono?« an, und das heißt: Das Staatsfernsehen dient dazu, die Bürger zu verblöden, es geht darum, gesellschaftlich Stupidität zu fabrizieren und die Zuschauer zu regierbaren Konsumenten zu degradieren, ganz im Sinn von Metternichs Diktum, das Volk solle sich »nicht versammeln, sondern zerstreuen«. Und wo auf Metternich das Biedermeier folgte, haben wir heute das neudeutsche Biedermeier von Angela Merkel und Andrea Kiewel und wie sie alle heißen. Und für den obszönen Programmterror der Öffentlich-Rechtlichen zahlen wir pro Haushalt noch eine monatliche Zwangsabgabe, ­einen sogenannten Rundfunkbeitrag in Höhe von 17,98 Euro, ganz egal, ob wir an der staatlich organisierten Verblödungskampagne teilnehmen, sie ignorieren oder gar boykottieren.
Da kann in den bürgerlichen Feuilletons noch so häufig die fehlende Qualität des deutschen Staatsfernsehens angeprangert werden, da kann noch oft konstatiert werden, dass die Programmverantwortlichen der Öffentlich-Rechtlichen, der »Öffis«, nicht mehr bei Trost seien – solange die Öffis als hochsubventionierte Beamtenapparate konstruiert sind, denen Kreativität fremd, eigenes Nachdenken suspekt und anspruchsvolles Programm zuwider ist, wird sich nichts ändern. Zumal dort Apparate entstanden sind, in denen die Angst regiert – Angst, Fehler zu machen, Angst, einen Flop zu landen, Angst, aufzufallen. Und die Regisseure und Drehbuchautoren leben längst in einem System der feinen, indirekten Zensur durch die Medienboards und Filmförderungsanstalten und all die anderen Institutionen, die Filme oder Serien finanzieren.
Interessant ist, wie heftig sich das deutsche Staatsfernsehen gegen neue Marktteilnehmer wehrt, die eine andere Art des Fernsehens ermöglichen. Die Öffis stellen sich das ja so vor, dass ihre Zuschauer sich brav um elf Uhr zum »ZDF-Fernsehgarten«, um 18.50 Uhr zur »Lindenstraße« in der ARD und um 20.15 Uhr zum »Tatort« vor den Fernseher setzen. Die Hoheit über den Zeitplan der Kunden, die das Ganze finanzieren, haben die Fernsehverantwortlichen – ein diktatorisches System, das die technischen Möglichkeiten, die das moderne Fernsehen längst bereithält, aus Machtgründen ignoriert. Ein Räderwerk einer panoptischen Maschine, um es mit Foucault zu sagen, eine Disziplinargesellschaft, die wir natürlich, als Beitragszahler wie als Zuschauer, »selbst in Gang halten – jeder ein Rädchen«.
Diesem öffentlich-rechtlichen Disziplinierungsapparat steht das neue amerikanische System des Fernsehens als Streaming, »on demand«, gegenüber, dessen interessantester Vertreter, Netflix, jetzt auch auf dem deutschen Markt vertreten ist. Netflix und die andere Art des Fernsehens wird in den Feuilletons gerne als »Revolution« bezeichnet, dabei hat Netflix nur das gemacht, was technisch eben längst möglich ist, nämlich die Zuschauer aus dem starren Programmkorsett der Sender zu befreien. Die Zuschauer können sich das, was sie sehen wollen, ansehen, wann sie es wollen. Man muss nicht mehr dann, wenn die Fernsehdiktatoren das wollen, auf dem Sofa sitzen, und man ist auch nicht mehr darauf angewiesen, eine Serie – und Serien sind bekanntlich die Erfolgsgeschichte der amerikanischen Bezahlsender, von den »Sopranos« über »Breaking Bad«, »24« bis hin zu »House of Cards« – stückchenweise im wöchentlichen Rhythmus zu sehen (Disziplinargesellschaft!).
Netflix hat es gerade beim Erscheinen der neuen Staffel seiner Renommier-Serie »House of Cards« vorgemacht: Veröffentlicht wird die ganze Staffel auf einen Schlag, zu einem Termin statt episodenweise. Und der Abonnent kann selbst entscheiden, wann und wie er die Serie sehen will, ob Folge für Folge über mehrere Tage oder Wochen, ob als Marathon in einem Stück an einem Wochenende oder irgendwas dazwischen. Netflix schreibt dem Zuschauer auch nicht vor, auf welchem Empfangsgerät er die Serie zu sehen hat – man kann zwischen verschiedenen Empfangsgeräten hin und her wechseln und eine Folge auch mal in der U-Bahn auf dem Smartphone weiterschauen. Fernsehen auf Abruf, ohne Werbung und für relativ wenig Geld – 7,99 Euro verlangt Netflix in Deutschland, wo das Angebot des Senders allerdings noch eingeschränkt ist (die neuen Folgen von »House of Cards« sind vertraglich zum Beispiel dem Abosender Sky zugesichert, der sie im alten Stil, Folge für Folge, ausstrahlt). In den USA kostet das dort wesentlich üppigere Netflix-Angebot 8,99 Dollar (im Gegensatz zu etwa 80 Dollar fürs Kabelfernsehen), der Sender hat dort 70 Prozent seiner weltweit über 50 Millionen Kunden, und zu abendlichen Stoßzeiten ist Netflix für gut 30 Prozent des gesamten Datenverkehrs im Internet verantwortlich.
Mit Netflix hat sich das Fernsehverhalten vieler Amerikaner stark verändert. Viele verzichten auf die teuren Kabelgebühren und setzen ganz auf den Streamingdienst, der ihnen viele Filme und interessante Serien werbefrei und jederzeit und auf den Geräten ihrer Wahl liefert. Gerade unter jungen Leuten ist das »andere Fernsehen«, das »anders fernzusehen« ermöglicht, ein Erfolgsmodell. Und genau hier lauert die Gefahr für das traditionelle Fernsehen deutscher Provenienz, das ziemlich sicher zum Verlierer werden wird, wenn es nicht auf die veränderten Sehgewohnheiten der Zuschauer reagiert. Das klassische Geschäftsmodell des Staatsfernsehens, aber auch des deutschen Privatfernsehens steht unter Beschuss, Streaming wird nach dem Musikgeschäft auch das Fernsehen dauerhaft verändern.
Zusätzlich zu den genannten Kriterien – Benutzerfreundlichkeit und bestimmte Konsumfreiheiten – hat Netflix ein weiteres Pfund, mit dem es wuchern kann, nämlich die Qualität der Eigenproduktionen. Es lohnt sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen, etwa auf die gefeierte Serie »House of Cards«. Bei der Vorzeigeserie mit ihren radikalen Innenansichten der amerikanischen Politik und des Washington der Lobbyisten, Medienkonzerne und korrupten Politiker ging Netflix auf den ersten Blick ein hohes Risiko ein. Man gewährte dem ­Produzenten und Regisseur David Fincher freie Hand, kaufte nicht etwa, wie beim US-Bezahlfernsehen üblich, erstmal eine Pilotfolge, sondern gab für 100 Millionen Dollar gleich zwei komplette Staffeln mit jeweils 13 Episoden in Auftrag. Man lässt den Kreativen freie Hand (während Regisseure oder Drehbuchschreiber hierzulande jede Änderung den Filmförderungsinstitutionen, die die Filme finanzieren, vorlegen und von ihnen absegnen lassen müssen). Und genau dadurch entsteht Qualität – wie Musiker eben wissen, wie Musik zu schreiben ist, und nicht die Manager in den Sesseln der Plattenkonzerne, so sind es die Kreativen, denen bei den deutschen Öffis permanent Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, während sie bei Netflix (oder auch HBO) Vertrauen genießen. So kann eine Geschichte mit langem Atem erzählt werden, die Charaktere können komplex gezeichnet und entwickelt werden. Und man kann Mut beweisen. Schwer vorstellbar, dass die heikle Eingangsszene von »House of Cards« die Kontrollinstanzen des deutschen Staatsfernsehens überwunden hätte: Dort wird detailliert gezeigt, wie ein führender Politiker mit seinen bloßen Händen den Hund seiner Nachbarin erwürgt.
Natürlich gibt es auch Nachteile. Zwar wird die öffentlich-rechtliche Disziplinargesellschaft überwunden, doch wie immer beim Streaming wird sie durch eine neue, von Big Data geprägte Kontrollgesellschaft ersetzt, dieses, wie Deleuze schrieb, »neue Monster«, das die alten Disziplinarsysteme ablöst – also »ultra-schnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen«. Denn der Zuschauer sendet bei den Streamingsystemen gewissermaßen zurück, sein Konsumverhalten wird detailliert festgehalten und analysiert. Netflix hat schon vor Jahren ein Big-Data-Kontrollsystem entwickelt, mit dem jedes noch so kleine Verhaltensdetail aller Nutzer protokolliert und in einer eigens geschaffenen Abteilung gespeichert wird. Die Filme und Serien werden hier in Datenpunkte unterteilt, jeder mit Attributen und über 100 Dimensionen, sogenannten »Mikrotags«. Netflix hat eigene Subgenres destilliert, mit der ganze Filme, aber eben auch 20sekündige Sequenzen beurteilt werden.
So entwickeln Streaming-Dienste wie Netflix detaillierte Nutzerprofile und wissen nicht nur ganz genau, ob der Nutzer gerade sein Fernsehgerät, seinen PC, sein Laptop oder Smartphone nutzt, ob er dabei zu Hause oder unterwegs ist, wann er einschaltet und wie lange – nein, Net­flix weiß auch, welches Verhältnis von Gefühlen und Vorlieben die Nutzer zu welchen Tageszeiten oder an welcher Stelle innerhalb eines Films erwarten.
Man könnte sagen, dass auch die auf den ersten Blick mutige Entscheidung für zwei Staffeln von »House of Cards« eigentlich gar nicht so riskant war, wie es scheinen mag – denn aufgrund der Auswertung des vorhandenen Datenschatzes seiner Kunden wusste Netflix längst, dass das britische Original der Serie ebenso populär war wie Filme, die von David Fincher gedreht wurden oder in denen Kevin Spacey mitspielte. Netflix ermittelt, wie »sig­nifikant Schauspieler sind« (so Netflix-Produktchef Neil Hunt) – die Schauspieler werden ebenso wie die Zuschauer zu Datenpunkten in einem alles umspannenden, perfekten Datensystem, und die Abonnenten von Netflix können die konzerneigenen Algorithmen unterstützen, indem sie ihre persönlichen Filmvorlieben mitteilen (die »Taste Preferences« erlauben zum Beispiel »kitschig«, »düster«, »obszön«) und erhalten dafür noch passgenauere Programmvorschläge.
Mit dieser perfekten Kontrolle überwinden die Streaming-Dienste hierzulande auch eine ihrer größten Hürden, nämlich die niedrigen Übertragungsraten. Im Vergleich mit den USA, Skandinavien und China herrscht in Deutschland die digitale Steinzeit, das Netz ist langsam, von flächendeckender Breitbandversorgung der Bevölkerung oder von einem schnellen 4G-Mobilnetz können deutsche Nutzer nur träumen. Der Netflix-Konkurrent Amazon hat dieser Tage seine 99 Euro teure Box »Fire TV« ausgeliefert, mit der Fernsehzuschauer, dem seit drei Jahren bestehenden Angebot »Apple TV« nicht unähnlich, Videoinhalte aus dem Internet auf dem Fernseher sehen, aber auch Serien oder Spiel­filme aus der Amazon-Prima-Bibliothek auswählen können. Die nach Angaben des Konzerns »zehntausenden Geräte« waren bereits am ersten Tag ausverkauft. Das Netzproblem umgeht Amazon dadurch, dass man auf den Geräten bestimmte Inhalte individuell für die Kunden programmiert hat – Inhalte, von denen man aufgrund der betriebseigenen detaillierten Kundenausforschung, der Amazon-Profile, annimmt, dass sie die Kunden sehen wollen.
Ganz egal, ob Netflix auch hierzulande Marktführer wird oder ob sich eine der anderen TV-Streaming-Plattformen wie Maxdome, Watch­ever oder Amazon Prime Instant Video langfristig durchsetzen kann, klar ist, dass das klassische Fernsehen auch im sich an technische Entwicklungen gewöhnlich nur langsam anpassenden Deutschland seine beste Zeit hinter sich hat. Das lineare Fernsehen gehört der Vergangenheit an, die modernen Zuschauer wollen Filme, Serien oder Dokumentarfilme sehen, wann sie Lust und Zeit haben und wo sie wollen. Derzeit erwirtschaftet die Branche mit Online-Videotheken, Abomodellen und Downloads 163 Millionen Euro. Bis 2018 soll der Markt auf etwa 450 Millionen wachsen, wovon Abomodelle 300 Millionen Euro ausmachen sollen – ein Wachstumsmodell. Der Preis, den die derzeit noch meist jungen Zuschauer zahlen, ist die gated community. Die Streamingdienste wollen den gläsernen Zuschauer – und ganz offensichtlich unterwerfen sich die meisten Zuschauer der Kontrolle durch Big Data und durch die ausgeklügelten Algorithmen der Konzerne freiwillig und gerne. Die Konsumenten der »Sharing Economy« sind nun mal wil­lige Konsumenten.