Vian Dakhil im Gespräch über die Lage der yezidischen Frauen im Nordirak

»Wir brauchen dringend jede Art von Hilfe«

Vian Dakhil ist yezidische Abgeordnete im irakischen Parlament. In einer weltweit beachteten Rede vor dem Parlament klagte sie im August die Gewalt des IS gegen die Yezidinnen und Yeziden im Sinjar-Gebirge an. Im Oktober wurde sie mit dem Anna-Politkowskaya-Menschenrechtspreis ausgezeichnet.

Was können Sie als einzige yezidische Abgeordnete im irakischen Parlament gegen den Terror des Islamischen Staats bewirken?
Ich bin nicht die einzige yezidische Abgeordnete, es gibt noch einen anderen. Aber von ihm ist nichts zu hören. Ich versuche meine Pflicht als Abgeordnete zu erfüllen und das Parlament und die Welt auf den Völkermord an den Yezidinnen und Yeziden durch den Islamischen Staat aufmerksam zu machen.
Das haben Sie in Ihrer Rede am 5. August getan. Wie haben die anderen Parlamentarier reagiert, und was ist danach geschehen?
Meine Rede fand zuerst Unterstützung von den Parlamentariern aller Parteien. Doch leider hat in den zwei Monaten danach kein Abgeordneter mehr von der Sinjar-Katastrophe geredet. Das ist ein großer Schock für mich und mein Volk.
Können Sie etwas über die Reaktionen des nichtyezidischen Teils der irakischen Bevölkerung berichten?
Ich glaube, meine Rede im Parlament hat alle Menschen in der Welt und besonders die im Irak betroffen gemacht, als sie hörten, was im Sinjar-Gebirge geschieht. Denn in meiner Rede ging es nicht um Politik, sondern um Menschlichkeit, und ich habe um Hilfe für mein Volk gebeten.
Gab es danach konkrete Hilfe jenseits von Sympathiebekundungen?
Es geschieht nicht genug. Manchmal schickt die irakische Armee Hilfsgelder, aber das reicht nicht. Derzeit sind mehrere tausend Mädchen vom IS entführt, und niemand weiß, was mit ­ihnen geschieht, oder tut etwas für sie.
Was könnte getan werden, um sie zu befreien?
Ich sehe keinen Plan, keine Strategie der irakischen oder internationalen Streitkräfte zur Befreiung der Mädchen und Frauen.
Wie ist es den entführten Frauen ergangen, die freikamen?
Wir sind sehr froh über alle, ob Mann, Frau oder Mädchen, die aus der Entführung durch den IS freikamen, und wir haben kein Problem, sie alle, und vor allem auch die Mädchen, in der yezidischen Gemeinschaft aufzunehmen.
Trifft das auch die anderen Teile der irakischen Bevölkerung zu? Es gibt Berichte, dass vergewaltigte Frauen aufgrund von Ehrvorstellungen nicht mehr akzeptiert werden und sich das Leben nehmen.
Ja, das mag bei yezidischen Mädchen der Fall sein, die die Religion gewechselt haben.
Welche Hilfe erhalten die Frauen und Mädchen, und was benötigen sie?
Sie benötigen psychotherapeutische und jede andere Art von Hilfe. Man kann sich gar nicht vorstellen, was junge Mädchen, die monatelang in den Händen des IS waren, durchgemacht haben.
Unterscheidet sich die Stellung der Frauen bei den Yeziden von der bei den Sunniten oder Schiiten im Irak?
Sie haben mehr Freiheit als die sunnitischen und schiitischen Frauen. Daher auch die schrecklichen Taten, die der IS an diesen Frauen begeht. Das große Problem ist, dass wohl einige sunnitische Araber diese Taten akzeptieren, besonders die in der Nähe des Sinjar. Als der IS dort ankam, hat man die Yezidinnen und Yeziden gezwungen, zum Islam zu konvertieren, und ihnen damit gedroht, Frauen, Mädchen und Kinder zu entführen. Dabei handelte es sich nicht nur um IS-Kämpfer, diese waren vielleicht rund 200. Die anderen waren sunnitische Araber, die dabei geholfen haben, die Yezidinnen und Yeziden aus der Gegend zu erkennen und zu entführen.
Es gab also schon vor dem IS Hass auf die ­Yeziden?
Wir haben Jahrhunderte friedlich zusammengelebt, als Geschwister und Freunde, aber nun helfen die meisten den Kämpfern des IS, die Yezidinnen und Yeziden zu entführen. Wir wissen bis heute nicht, warum.
Was kann die sogenannte internationale Gemeinschaft tun, um den Yeziden zu helfen?
Die Europäer, die USA und vielleicht einige arabische Länder müssen stärker gegen den IS vorgehen, denn er ist wie ein Krebs, der sich überall ausbreitet. In Ambar, in Mossul, im Sinjar, in Teilen Syriens.
Meinen Sie auch militärische Gewalt gegen den IS?
Ja, wir brauchen mehr davon. Vom irakischen Militär, vom kurdischen Militär, das ist sehr wichtig.
Sie sind also nicht zufrieden, wenn nur Waffen geliefert werden und, wie etwa US-Präsident Barack Obama immer wieder sagt, keine Bodentruppen folgen?
Die internationale Staatengemeinschaft und Organisationen haben sehr langsam reagiert. Viele Männer im Sinjar brauchen Waffen gegen den IS. Aber wenn Obama wirklich das Land befreien will, sollte er Militärtruppen schicken.
Gibt es eine Zukunft für die Yezidinnen und Yeziden im Irak?
Ja, natürlich. Wir wollen unser Land nicht verlassen. Aber einige Familien sollten dennoch ins Ausland gehen, für eine begrenzte Zeit. Insbesondere diejenigen, die von der IS-Herrschaft befreit wurden. Die psychischen Folgen sind sehr schwer, wenn man so einen Terror drei oder vier Monate durchmachen musste.
Möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch etwas mitteilen?
Wir sind sehr dankbar für die große Unterstützung, die von Einzelpersonen und Organisationen kommt. Aber wir brauchen dringend jede Hilfe, die wir kriegen können, Geld, Kleider, alles. Vor allem, weil jetzt der Winter kommt, und viele Flüchtlinge noch auf der Straße und in schlechtem Zustand sind.