Ein Sonderermittler soll die NSU-Affäre aufklären

Lehre vom Nichtwissenwollen

Nach dem Bekanntwerden von weiteren Pannen bei den Ermittlungen zum NSU hat das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags einen Sonderermittler eingesetzt.

Anfang Oktober musste das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gegenüber den Mitgliedern des Bundestagsinnenausschusses erneut einen schweren Fehler bei den Ermittlungen zur Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zugeben. Nun soll der ehemalige Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag (Grüne) als Sonderermittler speziell den Fall des erst kürzlich an einem nicht erkannten Diabetes verstorbenen ­V-Manns »Corelli« (Jungle World 18/2014) aufklären. Anlass für diese Entscheidung war die telefonische Mitteilung des Präsidenten des BfV, Hans-Georg Maaßen, an die Mitglieder des Bundestagsinnenausschusses, dass seiner Behörde bereits seit neun Jahren eine CD vorliegt, die Anhaltspunkte für die Existenz des NSU enthält.
Bislang war lediglich bekannt, dass dem Hamburger Verfassungsschutz im Februar dieses Jahres eine CD mit brisantem Material zugespielt wurde, die dem V-Mann Corelli, mit bürgerlichem Namen Thomas Richter, zugeordnet werden konnte. Beschriftet ist die CD mit dem Titel »NSU/ NSDAP«. In einigen Texten ist von einem »Nationalsozialistischen Untergrund« die Rede. Der Datenträger enthält nach Angaben der Geheimdienstler eine umfangreiche Sammlung von Propagandamaterial. Allein der Ordner, in dem sich die Datei mit dem Kürzel »NSU/NSDAP« befindet, umfasst etwa 15 700 Dateien.

Laut Maaßen hat Richter den Datenträger bereits 2005 der Behörde übergeben. Bislang hatte der Bundesverfassungsschutz stets betont, nie irgendwelche Hinweise auf die neonazistische Terrorgruppe erhalten zu haben. Offenkundig übergab »Corelli« in seiner Zeit als V-Mann regelmäßig CDs und DVDs an das Kölner Bundesamt. Aus dem Kürzel »NSU« allein, beteuert ein Sprecher des Verfassungsschutzes, habe man damals »nicht auf die Existenz eines rechtsextremistischen Terrortrios schließen« können. Weshalb aber nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 die CD nicht in den Archiven des Inlandsgeheimdienstes gefunden wurde, ist ungeklärt. Des Weiteren verwundert es, dass die Dateien bisher noch nicht ausgewertet wurden, zumal erste Hinweise auf die CD mit den Daten schon Ende 2013 auftauchten. Damals veröffentlichte ein Nutzer auf der Internetplattform politikforen.net erste Inhalte.
Der Obmann der Grünen im Parlamentarischen Kontrollgremium, Hans-Christian Ströbele, beklagt in diesem Zusammenhang zum wiederholten Male das »totale Versagen von Verfassungsschutz und Bundesregierung im NSU-Skandal«. Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Clemens Binninger (CDU), geht zwar davon aus, der Verfassungsschutz habe den Hinweis auf der CD wohl nicht bewusst übersehen, dennoch kritisiert er, dass die Behörde solches Material nicht detailliert auswerte. Da auch die Rolle des V-Mannes »Corelli« im Fall des NSU noch viele Fragen aufwirft, soll nun der Jerzy Montag die Hintergründe ermitteln.

Eine der drängendsten Fragen ist der erste öffentliche Hinweis auf die dreiköpfige Terrortruppe. Diesen lieferte ebenfalls Thomas Richter alias »Corelli«. Im Oktober 2002 übergab er seinem Verbindungsbeamten ein Exemplar des Neonazi-Fanzines Der Weiße Wolf. Auf der zweiten Seite veröffentlichten die Macher eine Danksagung für eine Geldspende über 2 500 Euro: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter … «. In einer als geheim eingestuften Zeugenvernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags berichtete ein Beamter des BfV, zuerst sei der Gruß an den NSU übersehen worden, später habe man der Danksagung an den NSU keine »inhaltliche Relevanz« beigemessen.
Eines sei jetzt schon gewiss: »Die Erzählung, dass der Begriff NSU nie einem größeren Kreis von Personen bekannt war, lässt sich angesichts von immer mehr Hinweisen nicht mehr halten«, bekräftigt der CDU-Innenexperte Binninger. Beim Verfassungsschutz müsse nun »jeder Stein umgedreht werden, damit Parlament und Öffentlichkeit erfahren, was sich tatsächlich ereignet hat«, sekundiert ihm der innenpolitische Sprecher der SPD, Burkhard Lischka. Die Arbeit des Sonderermittlers soll möglichst bis zum ersten Quartal 2015 abgeschlossen sein. Danach wird entschieden, ob ein weiterer Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Fall NSU eingesetzt wird.

Der Landtag von Baden-Württemberg hat sich stattdessen überraschend gegen einen Untersuchungsausschuss entschieden. Die grün-rote Mehrheit zieht es vor, die Aufarbeitung einer Enquetekommission namens »Konsequenzen aus der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) – Entwicklung des Rechtsextremismus in Baden-Württemberg« zu überlassen. Diese Arbeitsgruppe, bestehend aus Abgeordneten aller Fraktionen sowie einigen Sachverständigen, kann keine Zeugen vorladen, außerdem ist niemand gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Stattdessen kann man »Auskunftspersonen« einladen, doch diese müssen der Einladung nicht folgen. Ein Untersuchungsausschuss dagegen kann Zeugen laden und Behörden zum Abliefern von Akten zwingen.
Die Aufklärungsarbeit eines Untersuchungsausschusses würde dem baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall (SPD) zufolge dem Strafprozess gegen Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht in München sowie den Ermittlungen von Generalbundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt im Wege stehen. Wie ernst der Minister die Aufklärung nimmt, konnte die Enquetekommission erst Ende September erleben. Zwei frühere Ermittler aus Heilbronn bekamen vom Innenministerium keine Erlaubnis, in der Kommission Rede und Antwort zu stehen. »So, wie Innenminister Gall den Fall behandelt, ist das noch nicht einmal ein Placebo«, befindet der ehemalige Polizist Clemens Binninger, der seinen Wahlkreis in Böblingen (Baden-Württemberg) hat, zutreffend. »Nur ein Untersuchungsausschuss kann dem Kontrollanspruch des Parlaments nachkommen«, ermahnt Binninger die Landesregierung. Die CDU-Fraktion im Landtag folgt ihrem Bundestagsabgeordneten in dieser Frage nicht.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Claus Schmiedel, kanzelte erst kürzlich Cem Özdemir (Grüne) ab, weil dieser eine rückhaltlose Aufklärung in Baden-Württemberg gefordert hatte. Schmiedel warf Özdemir vor, er sei wohl »durchgeknallt«, er habe nicht verstanden, dass es in der Enquetekommission um »Handlungsstrategien gegen den Rechtsextremismus« gehe. Also nicht um die Aufklärung der schlampigen Ermittlungsarbeit durch die Heilbronner Sonderkommission im Fall des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Damals wurden die Videoaufnahmen öffentlicher Plätze erst mit drei Jahren Verspätung ausgewertet. Die Daten der Ringalarmfahndung, bei der das Kennzeichen des Wohnmobils von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos auftauchte, werteten die Fahnder ebenfalls erst 2010 aus. Die Information eines Verfassungsschutzmitarbeiters, wonach 2003 eine Quelle von einer »NSU-Gruppe« in Heilbronn berichtet hatte, blieb folgenlos. Genau wie die, dass ein Kollege der Polizistin Mitglied des Ku-Klux-Klans war.
Die Türkische Gemeinde Deutschland (TGD) fordert neben Baden-Württemberg auch Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern sowie Brandenburg auf, endlich die »fehlenden NSU-Untersuchungsausschüsse einzurichten«. Den Bundesvorsitzenden der TGD, Safter Çınar, verblüfft aber am meisten, »dass eine grün-rote Regierung noch immer keinen NSU-Untersuchungsausschuss eingerichtet hat«. »Die Einrichtung einer Kommission ›Schlussfolgerungen‹ kann einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht ersetzen«, so Çınar.