Prokurdische Proteste im Ruhrgebiet

Unterstützung dringend gesucht

Prokurdische Proteste finden seit einigen Wochen in vielen deutschen Städten statt. Die Belagerung der kurdischen Stadt Kobanê durch den IS in Syrien treibt kurdische und linke Gruppen auf die Straße. Dabei werden auch alte Feindbilder wiederbelebt. Eine Reportage über Demonstrationen im Ruhrgebiet.

Die Provokation ist gelungen. Christine Buchholz, das antiimperialistische Schlachtross der Partei »Die Linke« im Bundestag, sorgte mit einem Foto auf ihrer Facebook-Seite für Aufsehen. Darauf posiert sie mit einem Plakat mit der Aufschrift: »Solidarität mit dem Widerstand in Kobanê! US-Bombardement stoppen!« Obwohl sich viele kurdische Kämpfer vor allem in Syrien für ein stärkeres militärisches Engagement westlicher Staaten im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) aussprechen, mehren sich antiwestliche Stimmen wie diese. Das Feindbild USA ist hartnäckig. Während Christine Buchholz vor allem Spott für ihre Aktion erntet, gehen vielerorts Menschen für die kurdische Sache auf die Straße.
In der Bochumer Innenstadt haben sich rund 300 Menschen versammelt. Die Farben Rot, Gelb und Grün dominieren das Bild. Streng guckt Abdullah Öcalan, Identifikationsfigur des kurdischen Widerstands, von zahlreichen Fahnen auf die Masse herab. Vor allem die Rolle der Türkei erhitzt die Gemüter. Denn weder lässt die türkische Regierung kurdische Kämpfer über die Grenze ins belagerte Kobanê einreisen, noch erleichtert sie den bedrohten Menschen die Flucht ins Nachbarland. Ein Eingreifen türkischer Truppen will indes niemand, zu groß ist die Sorge, dass ein Einmarsch genutzt werden könnte, um die kurdische Autonomiebewegung zu zerschlagen.
»Wir fordern, dass die Türkei kurdische Truppen durchlässt«, sagt ein Mitglied der Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (DIDF), die den Protest in Bochum organisiert. »Die Türkei spielt ein falsches Spiel, sie schlagen prokurdische Demonstrationen nieder und unterstützen gleichzeitig die Salafisten«, schimpft er. Der schnauzbärtige Mann stammt aus der Türkei und versteht wie viele andere nicht kurdische Demonstrierenden die auf Kurdisch gehaltenen Redebeiträge nicht. Aber er will seine Solidarität zeigen und ein Zeichen gegen den autoritär herrschenden Ministerpräsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, setzen, dem viele hier vorwerfen, von den Massakern des IS zu profitieren. Darauf verweist auch die DIDF-Jugend: »Ziel der Türkei ist, das basisdemokratische Projekt der ›Demokratischen Autonomie‹ und somit die Kantone Rojavas mit Hilfe des IS zu vernichten«, heißt es in ihrem Aufruf zu einer Großdemonstration am folgenden Tag. Auch Deutschland strebe, »wie die anderen westlichen, imperialistischen Länder, eine Umstrukturierung des Nahen Ostens an und sieht den IS als Werkzeug dafür«.
Zwischen den Menschen wieseln Mitglieder der stalinistischen Kleinpartei MLPD umher. Kiloweise Papier wird hier unter die Leute gebracht. Außerdem waren wohl noch Wahlplakate von der letzten Landtagswahl übrig, auf denen die Forderung prangt: »Freiheit für Palästina und Kurdistan!« Mit Krieg und Elend Parteiwerbung zu machen, ist eine Spezialität der Partei. In Nordrhein-Westfalen ist das normal. Eingebettet in einen deutschlandweit einmaligen Sumpf aus antiimperialistischen Sekten, hat die MLPD hier ihr Hauptquartier. Sie lässt kaum eine Gelegenheit aus, um Werbung für sich zu machen. Ganz nebenbei bringt sie ihr antiquiertes Weltbild unter die Leute, demzufolge jedem Konflikt die imperialistische Weltverschwörung zugrunde liegt. Was ist von der US-amerikanischen Hilfe für die Kurden zu halten? »Der Verdacht drängt sich auf, dass das imperialistische Interesse eher den Rohstoffen gilt als den Menschen – und schon gar nicht, wenn sie mit grundlegenden gesellschaftlichen Alternativen experimentieren«, lässt die MLPD auf einem Flugblatt wissen.
Überhaupt ist in Nordrhein-Westfalen die antiimperialistische Welt noch in Ordnung. Die Belegschaft des Opel-Werkes hat eine Abordnung in die Innenstadt geschickt. »Opelaner aktiv im Widerstand gegen die Faschisten – Internationale Solidarität!!!« steht auf ihrem Banner. Unter den wohlwollenden Blicken der MLPD-Mitglieder poltert ein Opelaner gegen »die Imperialisten«, die wollten, »dass der IS ihre Drecksarbeit macht«. Die Werktätigen mit dem Volk vereint gegen die Faschisten. Ja, das gibt es noch in Nordrhein-Westfalen.
Eine zentrale Forderung der Demonstranten ist die Aufhebung des PKK-Verbots. Die »Arbeiterpartei Kurdistans«, deren Anführer, Abdullah Öcalan, wie ein Halbgott verehrt wird, gilt unter anderem in den USA, der EU und der Türkei als Terrororganisation.
Dass die PKK der Schlüssel zur Rettung der vom IS bedrohten Kurden sein könnte, glauben hier viele. Auch Sebastian Hammer von den Jusos Bochum ist dieser Ansicht. »Erdoğan muss die Grenze für PKK-Truppen öffnen«, ruft er während seines Redebeitrags ins Mikrofon. Es sind Worte, die man in einer solchen Deutlichkeit von Sozialdemokraten eher nicht gewohnt ist. Hammer sagt der Jungle World: »Die PKK ist eine progressive linke Freiheitsbewegung und keine Terrororganisation.« Auch die Linkspartei in Gestalt der Bochumer Ratsfrau Sevim Sarialtun vertritt diese Meinung. Die Türkei öffne einerseits den »IS-Barbaren« die Tore und verhindere andererseits die kurdischen Autonomie-Bestrebungen. »Das PKK-Verbot muss aufgehoben werden«, fordert sie.

In der Nachbarstadt Essen ist die Stimmung gedrückter. Einen Tag nach der Kundgebung in Bochum haben sich auch hier kurdische Gruppen versammelt, um auf die verzweifelte Situation in Kobanê hinzuweisen. Auf dem Boden vor dem Infostand in der Essener Fußgängerzone liegen Plakate, die zertrümmerte Häuser und leidende Menschen zeigen. Für mehrere Stunden haben sich rund 20 Aktivisten hier eingerichtet. »Viele Menschen hier haben Verwandte in der Krisenregion«, erzählt einer von ihnen. Dass man aus der Distanz kaum etwas tun könne, um den Menschen zu helfen, sei das Schlimmste.
Auch hier thront Öcalan über dem Geschehen. »Öcalan ist stets ein Friedensinitiator«, steht in einem Flugblatt des »Demokratischen Gesellschafts-zentrums der KurdInnen in Deutschland«, das an der Kundgebung mitwirkt. »Sämtliche einseitigen Waffenstillstände und der Rückzug der bewaffneten Einheiten sowie der seit Dezember 2012 stattfindende Dialogprozess mit der türkischen Regierung für eine politische Lösung der kurdischen Frage sind seine Errungenschaften.« Auf einem Hand-out wird zudem ein militärisches Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft gefordert. Außerdem solle es »Konsequenzen« für alle Staaten geben, die den IS unterstützen – »allen voran die Türkei«.
Ein angetrunkener Neonazi stellt sich interessiert dazu, verschwindet nach ein paar Minuten aber wieder. Hin und wieder stören einzelne Erdoğan-Fans die Veranstaltung, die ansonsten ruhig bleibt. Berichte über gewalttätige Zusammenstöße zwischen Kurden und Salafisten in Celle und Hamburg hatten die kurdischen Gruppen zuletzt einige Sympathie in der Tagespresse gekostet. In Essen aber demonstrieren vor allem ältere Menschen und Kinder.

Neben Kundgebungen und Demonstrationen nutzen prokurdische Aktivisten auch Besetzungen, um auf sich aufmerksam zu machen. So besetzten sie unter anderem die SPD-Zentrale in Bochum, die CSU-Zentrale in München, Bahngleise in Hamburg und Dortmund, das EU-Parlament in Brüssel und das niederländische Parlament in Den Haag.
In Düsseldorf trifft es die Zentrale des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Es ist Freitagnachmittag. Etwa 50 Leute sitzen vor dem Gebäude in Hauptbahnhofsnähe. Aus Handyboxen dröhnt orientalische Musik. Auf der stark befahrenen Hauptstraße parken einige Streifenwagen und ein Polizeibus. Polizisten bewachen den verschlossenen Vordereingang. Drinnen diskutieren Besetzer mit der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden, Sabine Graf, und anderen Funktionären des DGB NRW über die Krise im Nahen Osten. Als Ergebnis des Gesprächs geben die Aktivisten an: Ihre Forderungen seien als aufrichtig und legitim bezeichnet worden, ein Gespräch mit dem gesamten Vorstand sei geplant, und es werde eine Veranstaltung mit dem DGB zum Thema Kobanê geben.
Als die Besetzer herauskommen, applaudiert die Menge. Doch sie sind nicht unter sich: In der Nähe haben Salafisten der Gruppe »Siegel des Propheten« einen Infostand aufgebaut. Die Menge bewegt sich auf diese zu. Antisalafistische Sprechchöre ertönen, dazu Parolen gegen den IS. Einige der prokurdischen Aktivisten, zu denen auch Mitglieder des linksreaktionären Schlägertrupps »Young Struggle« und der Roten Antifa gehören, gehen auf den Stand zu, um die Salafisten ins Kreuzverhör zu nehmen. Einer von diesen, gekleidet im Samurai-Stil, mit Fahne und Flaumbart lässt sich in eine Diskussion verwickeln. Er sei selber Kurde, sagt er, und dass es ihm nur um die Religion gehe, nicht um Politik. Als er gefragt wird, wie er zum IS steht, antwortet er, dass er den IS selbst nicht kenne. Er verweist auf die »Verlogenheit der Medien«. Er selbst sei gegen jede Form der Gewalt und verurteile es, wenn Menschen wegen ihres Glaubens getötet werden. Eine deutliche Distanzierung vom IS lässt er sich nicht entlocken. Die Polizei bringt sich mit Schildern und Knüppeln in Stellung, muss aber nicht eingreifen.

Einen Tag später steht Düsseldorf erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mehr als 20 000 Menschen sind dem Aufruf linker und kurdischer Gruppen zur bundesweiten Demonstration gefolgt. Angesichts der starken Präsenz salafistischer Gruppen im Rheinland hat sich die Polizei auf Ärger eingestellt. Doch auch hier bleibt es friedlich. Zuvor hatte der deutsche Inlandsgeheimdienst vor Ausschreitungen gewarnt: »Beide Seiten schaukeln sich gegenseitig auf.« Und auch Innenminister Thomas de Maizière drohte mit der »vollen Härte des Rechtsstaates«.
Die Demonstrierenden kommen aus ganz Deu-tschland und auch aus dem europäischen Ausland. Sie fordern die Nato auf, die Kurden mit mehr Waffen zu versorgen und die Luftschläge gegen den IS zu intensivieren. Sie warnen vor einem Völkermord vor den Augen der tatenlosen Weltöffentlichkeit. Zudem richten sie an die Adresse der Türkei die Forderung, keine IS-Kämpfer mehr über ihre Grenze nach Syrien einsickern zu lassen.
»Die Gefahr eines Genozids ist offensichtlich und dürfte der Weltöffentlichkeit ausreichend bekannt sein«, heißt es im Aufruf. Die Enthauptungen von Journalisten und Helfern aus England und den USA seien dabei nur die Spitze des Eisbergs. »Der Massenmord an Yezidinnen und Yeziden, den der IS Mitte diesen Jahres im Nordirak in Şengal begangen hat, spricht eine deutliche Sprache. Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet, Hunderte Frauen wurden auf Sklavenmärkten verkauft und Zehntausende befinden sich auf der Flucht.« Auch sie werfen der Türkei vor, den IS zu benutzen, um die kurdische Autonomiebewegung zu zerschlagen. Dabei verfolge sie eine Doppelstrategie: »Einerseits wird der IS gestärkt, andererseits dient der IS als Begründung für die Errichtung sogenannter Pufferzonen in Rojava, was de facto eine Aufteilung Rojavas zwischen dem IS und der Türkei bedeutet.« Dann wird eine historische Parallele gezogen: »Wir sehen uns einer Konstellation vergleichbar mit dem spanischen Bürgerkrieg in den 1930er Jahren gegenüber«, so der Aufruf. »Die VerteidigerInnen der Republik, wie heute in Rojava, wurden aus geopolitischen Überlegungen von fast der ganzen Welt fallen gelassen und der Faschismus konnte so wesentlich leichter seine Fratze über Europa erheben.«
Christine Buchholz und ihr Plakat werden mittlerweile in den sozialen Netzwerken zynisch rezipiert. Cahit Kaya, Mitbegründer des mittlerweile aufgelösten österreichischen »Zentalrats der Ex-Muslime«, berüchtigt für seine scharfe Polemik, änderte den Text auf Buchholz’ Plakat in einer Montage um: »Solidarität mit den Juden im Zweiten Weltkrieg. Alliierte stoppen!« steht nun dort anstelle des Originalspruchs. Zur Erklärung zitiert Buchholz auf ihrer Website einen Sprecher des Pentagons mit den Worten: »Die Luftangriffe der USA werden Kobanê nicht vor dem Fall retten können.« Der IS habe zu viele Kämpfer, die Bombardierungen seien wirkungslos. Dann überrascht sie mit einer ganz eigenen Analyse: »Über Sieg und Niederlage im Krieg entscheidet nicht die bloße militärische Stärke. Es handelt sich um eine soziale Frage.« Was genau sie damit meint, bleibt unklar. Sicher ist für Buchholz jedoch: »Die US-Luftbombardements haben den IS politisch gestärkt.« Sie verweist auf den angeblichen Propagandaerfolg des IS, der sich einstelle, wenn Zivilisten von US-Bomben getötet würden. Auch Deu- tschland dürfe »nicht Teil dieses Krieges werden, weder durch Waffenlieferungen an die mit den USA verbündeten kurdischen Peshmerga, noch durch Entsendung von Soldaten«. Und dann folgt die alte linke Erzählung, die vorher in Bochum schon von den Genossen der MLPD aufgewärmt wurde: Jede Handlung der US-Armee diene nur dazu, sich Rohstoffe zu sichern. »Es geht den USA um die Rückgewinnung von Einfluss über ein Gebiet von enormer strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Unter dem Boden des Iraks lagern die zweitgrößten Erdölreserven der Welt, um die Staaten und Unternehmen wetteifern.« Und weil das so ist, sollen die bedrohten Menschen selbst sehen, wie sie klarkommen. »Der IS kann nur geschlagen werden, wenn er innerhalb der sunnitischen Bevölkerung im Irak und Syrien auf massiven Widerstand stößt«, heißt das auf Linkspartei-Deutsch. Gegen Buchholz ist denn wohl auch am ehesten der Schriftsteller Ronald M. Schernikau ins Feld zu führen: »Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus.« Dass die Sache für Buchholz Konsequenzen hat, ist nicht zu erwarten. Die Politik des als »Pazifismus« bezeichneten strikten Raushaltens ist Mehrheitsmeinung im sogenannten linken Flügel der Partei. Da nützt es auch nichts, dass kurdische Gruppen die Parole ausgeben: »Die Verteidigung Rojavas ist die Verteidigung der Menschlichkeit, eine globale Aufgabe aller Menschen!«