Das Buch »Wenn wir vom Fußball träumen«

Der Mythos vom Malocherfußball

In Christoph Biermanns neuem Buch geht es nicht nur um Fußballgeschichten aus dem Revier, sondern auch um Gentrifizierung.

Wenn man Geschichten über den Fußball erzählen will, muss man Orte wie diese aufsuchen: die Ränge des Duisburger Stadions beim ersten Drittligaspiel in der jüngeren Geschichte des Clubs, der einst als Meidericher SV bedeutend für den deutschen Fußball war. Oder das Restaurant mit dem Namen »Ess Null Vier« in Spuckweite zum alten Schalker Parkstadion, wo man mit Julian Draxler über die Rentner von Gelsenkirchen spricht, die bei jedem Training am Rand sitzen.
Oder man betritt eine unbeheizte Loge im Dortmunder Westfalenstadion, in der man auf einen Jürgen Klopp trifft, der der Historie des Ruhrgebietsfußballs gerade mit dem BVB Dortmund ein wichtiges Kapitel hinzufügt. »Jetzt geht es darum, Geschichten zu schreiben, die wir uns in 20 Jahren erzählen können«, sagt Klopp zum Interviewer. Und der stellt fest: Es gibt eine Sehnsucht nach Geschichte, nach Mythen, die ein Grund für die enge Beziehung der im »Pott« lebenden Menschen zum Fußball ist.
Der Interviewer ist Christoph Biermann, und er hat all diese Orte aufgesucht, all diese Menschen getroffen. In »Wenn wir vom Fußball träumen« hat der Sportjournalist Anekdoten und Geschichten gesammelt und aufgeschrieben, die die Ausnahmestellung des Fußballs im Revier erklären.
Der in Herne aufgewachsene Journalist ist Mitglied in der Chefredaktion des Fußballmagazins 11 Freunde. Das Ruhrgebiet hat für Biermann, der heute in Berlin lebt, an Faszination in Sachen Fußballgeschichte nichts eingebüßt. »Eine Heimreise« nennt er seine Beobachtungen und Analysen. Der Zugang zum Thema ist oft persönlich: Ein familiärer Todesfall steht zu Beginn, Biermann beschreibt auch seine Verbundenheit mit dem VfL Bochum. Die Erkenntnisse, die er gewinnt, sind hingegen allgemeiner Art.
In den Geschichten, die er ausgräbt, ob sie nun in Essen, Bochum(-Wattenscheid), (Duisburg-)Hamborn oder Herne spielen, geht der Autor dem Wahrheitsgehalt der Clubmythen auf den Grund. Als Fan oder Sympathisant ist man ja nicht einfach Anhänger von Dortmund oder Schalke, sondern adaptiert zugleich gänzlich unterschiedliche Erzählungen, die mit den Clubs verbunden sind. Die überlieferten Erzählungen, ob sie vom »Arbeiterverein« Schalke oder vom »Lackschuhclub« Schwarz-Weiß Essen handeln, haben vielleicht nicht immer viel mit der Realität zu tun, aber sie überleben, wie Biermann zeigt.
Verschiedene Thesen ziehen sich durch das Buch; zum Beispiel, dass der Mythos vom Malocherfußball gar nicht verblassen konnte, weil er von Anfang an eine Fiktion war. Des Weiteren glaubt Biermann, dass man mittels des Fußballs versucht, die Folgen des Strukturwandels in der Region zu bewältigen. Zum einen, indem man die Vergangenheit in der Gegenwart aufrechterhält, zum anderen, indem an manchen Orten zumindest der sportliche Erfolg einkehren soll, wenn die Region oder die Stadt schon Verlierer dieses Wandels ist.
Interessanter sind aber einige einzelne Aspekte, die Biermann aufgreift. So spricht er die Gentrifizierung des Fußballsports im Ruhrgebiet an – die Analogien, die hier zur strukturellen Entwicklung von Stadtteilen gezogen werden, sind allesamt schlüssig, richtig, gut. Was in den Stadtvierteln der Wandel vom Kreativ- zum Snobquartier, ist im Fußball der Weg vom Assi-Sport zur Unterhaltung für alle Schichten. Sowohl Schorsch Kamerun (Schalke-Fan), mit dem Biermann spricht, als auch der Autor selbst outen sich als »Top-Gentrifizierer«: der eine als Pudel-Club-Gründer, der den Kiez aufwertete, der andere als Fußballautor, der für bürgerliche Milieus schrieb.
Das Ausmaß des Wandels zeigt sich auch in den krassen Gegensätzen zwischen den Protagonisten: Auf der einen Seite interviewt der Autor Leon Goretzka, 19 Jahre alt, der heute Spieler bei Schalke 04 ist und lange als größtes Talent im Ruhrpott galt. Goretzkas Karriereplan war früh darauf angelegt, »den Jackpot zu holen«, wie er sagt. Er steht für den Typus des Jungprofis, der allein durch sein Gehalt »ganz automatisch von den Fans entfremdet« ist (Biermann). Und auf der anderen Seite Joachim Hopp, der Anfang der Neunziger als junger Spieler in der Bundesliga spielte und zugleich noch Arbeiter in einem Stahlwerk war. Anhand des Unterschiedes zwischen Hopp und Goretzka lässt sich die Kommerzialisierung des Fußballs hervorragend beschreiben (Hopp wurde übrigens recht schnell Vollprofi).
Interessant auch, wie Biermann Borussia Dortmund als derzeitige Ausnahmeerscheinung im Ruhrpott analysiert, die in die aktuelle Erzählung des Fußballs der Region nicht hineinzupassen scheint. Allerorten findet sich fußballerischer Niedergang oder Stagnation – in Duisburg, in Essen, in Bochum. Auch Schalkes große Geschichten erzählten zuletzt von Niederlagen. Dortmunds jüngere Erfolge aber seien Ergebnis harter, akribischer Arbeit, die Biermann hier mal vorsichtig »Malocherfußball 3.0« nennt – einen Stil, den Jürgen Klopp eingeführt habe.
Ohnehin sucht der Autor nach gesellschaftlichen und politischen Parallelen zur Entwicklung des Fußballs. Den Europapokalsiegen Schalkes und Dortmunds im Jahr 1997 widmet er einen eigenen Abschnitt. Was damals als Wiedererstarken einer Region gedeutet wurde, war vielleicht doch eher ein kurzes Aufflackern – und ein neues Ruhrpott-Bewusstsein ist dadurch nicht entstanden.
»Wenn wir vom Fußball träumen« ist so zugleich immer eine Mentalitätsgeschichte des Ruhrgebiets und ein Streifzug durch dessen jüngere Historie; es kommen so unterschiedliche Menschen zu Wort wie der emeritierte Soziologieprofessor Rolf Lindner, der über Fußball und Jugendkultur forschte, der ehemalige Sportjournalist Hans-Josef Justen von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, ein früher Kritiker der Kommerzialisierung aus der gleichen Genera­tion – und am Ende die Marketing-Angestellten bei Schalke und beim heutigen BVB. Über den Status quo des Profifußballs erzählen letztere Episoden, die von den Markenkernen der Clubs und dann auch von religiöser Überhöhung handeln, sehr viel.
Umso erstaunter ist Biermann, wenn er inmitten dieser neuen Fußballwelt immer wieder auf die alten, aufgewärmten Ruhrpott-Mythen trifft. »Es kam mir dann vor, als würde ich mich durch einen großen Schwindel bewegen«, schreibt er über seine Heimreise angesichts all der verklärenden Rückbesinnung auf Kohle, Knappschaften und Keuchhusten. Pars pro toto stehen Aktionen wie jene beim VfL Bochum, als man den Spielertunnel im Abstiegskampf als Kohleflöz verkleidete und Peter Neururer rückverpflichtete. Beides könne man verstehen als einen Reflex, in der Gegenwart und Zukunft nur auf Vergangenes zu vertrauen. Dass die Kreativlabore und die Tüftler, die Freidenker und »Spinner«, was hier positiv gemeint ist, meist nicht im Ruhrpott zu finden seien, wundert den Autor daher nicht.
Biermann ist ein Standardwerk über den Ruhrgebietsfußball gelungen, das vor allem mit seinem persönlichen Zugang und seiner Wiss­begierde – hier bietet sich wirklich dieses altbackene Wort an – überzeugt. Es gibt wenige Schwachpunkte in dem Buch. Vielleicht hätte man sich gewünscht, dass der Autor den Amateurfußball der Region genauer analysiert und die Misere dort näher beleuchtet. Alle größeren Geschichten des Ruhrpottfußballs der vergangenen Jahrzehnte aber erwähnt und erzählt Biermann – und er erzählt klug und anregend.

Christoph Biermann: Wenn wir vom Fußball träumen. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2014, 256 Seiten, 18,99 Euro