Magnus Klaue liest lieber schlaue Gedanken als sie sich anzuhören

Wird es einen Mitschnitt geben?

Alle klagen über die Bilderflut. An der flächendeckenden Audioarchivierung des Geistes nimmt dagegen niemand Anstoß.

Das Aufnahmegerät, das die Stimme des Menschen dokumentiert, ist emblematisch für verschiedene gesellschaftliche Situationen. Es ist das Handwerkszeug des Reporters oder Historikers, der eine Person öffentlichen Interesses oder einen Zeitzeugen für seine Arbeit interviewt. Es wird vom Polizeibeamten benutzt, der einen Verdächtigen oder Zeugen befragt und dessen Aussage zur späteren Verwendung festhält. Es ist Arbeitsgerät des Schriftstellers oder Akademikers, der mittels Tonaufzeichnung Aufsätze oder Bücher diktiert. Und es dient der Dokumentation öffentlicher Ereignisse, etwa von Vorträgen oder Lesungen. Meist fungiert es als Vorstufe einer Verschriftlichung: Die Äußerungen des Interviewpartners werden transkribiert, die Ermittler fixieren Aussagen in Protokollen, aus dem Diktat oder Vortrag wird ein Aufsatz oder Buch. Dennoch erfüllt die Tonaufnahme keine rein instrumentelle Funktion, sondern dokumentiert, was schriftlich nicht festgehalten werden kann: dass der Befragte wirklich dieses eine Wort verwendet, der Zeuge diese und keine ähnliche Aussage gemacht hat. Bei Rechtsstreitigkeiten gibt daher die dokumentierte Stimme oft den Ausschlag gegenüber der nur schriftlich festgehaltenen Äußerung. Die Stimme des Dichters oder Denkers wiederum hat gegenüber ihrer schriftlichen Fixierung einen Überschuss, der in das Gelesene einwandert. Wer die Stimme Theodor W. Adornos in seinen Radiovorträgen gehört hat, wird sie allem von ihm Geschriebenen ablauschen. Und das esoterisch Doktrinäre von Martin Heideggers Denken versteht besser, wer das tautologische Raunen seines Vortrags kennt.
Dass das Interesse an solchem Erkenntnisgewinn hinter der Gier nach »Mitschnitten« noch der popeligsten öffentlichen Äußerung der jeweiligen Lieblingsvortragenden steht, wie sie insbesondere in linken Politkreisen seit einigen Jahren grassiert, ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr vermischt sich in dieser Gier die Verehrung des »Originaltondokuments«, die sich nicht mehr nur posthum austobt, mit dem präpotenten Bedürfnis, auch solcher Ereignisse, bei denen man nicht dabei war, so schnell wie möglich habhaft zu werden, sie gleichsam nachzuerleben und sich so verfügbar zu machen. Je weniger geschieht, das sich zu erleben lohnt, desto größer wird die Angst, etwas zu verpassen. Das Bedürfnis, durch akustisches Nachholen eines verpassten Vortrags zu Einsichten zu gelangen, die andernfalls nicht zu gewinnen wären, erhält dadurch einen ebenso autoritätssüchtigen wie anmaßenden Zug. Im Fall des mündlichen Vortrags ist das verpasste Ereignis bei glücklicher Fügung ein in Gegenwart des Denkenden entwickelter Gedanke. Mit Blick auf Gedanken aber lässt sich ohnehin allenfalls ironisch von Erleben oder Verpassen sprechen. Jedem Gedanken eignet, gerade weil er nur vermittelt durch die Subjektivität des Denkenden möglich ist, eine die empirischen Subjekte überschreitende Objektivität. Der lebendige Nachvollzug eines Gedankens ist dessen Denken, nicht dessen Reproduktion, und dass es sehr gut möglich ist, die Entwicklung eines Gedankens in Echtzeit zu erleben und ihn trotzdem zu verpassen, weiß jeder, der hin und wieder vor Publikum spricht. Manchmal geschieht es sogar, dass der laut Denkende seinen Gedanken verpasst, der dann vom Zuhörer erwischt werden muss; vielleicht ist das die glücklichste aller Konstellationen der Erkenntnis.
Möglich ist derlei nur durch die nie ganz zu tilgende Distanz zwischen Subjekt und Gedanke, weshalb die Erfahrung, dass ein Gedanke, obzwar er nicht möglich ist ohne das je denkende Subjekt, schon da war, bevor man ihn dachte, dass die Tätigkeit des Denkenden eher darin bestand, ihn zu finden, als ihn zu hervorzubringen, jede triftige Erkenntnis begleitet. Die gegenwärtige Mittschnittgier dagegen ist sehr viel eher Resultat jener falschen Aufhebung von Distanz, wie sie von den »sozialen Netzwerken« besorgt wird, die in Wahrheit die Asozialität organisieren und in denen sich die Bitte um »Mitschnitte« besonders fordernd artikuliert. Die geistige Arbeit, die es bedeutet, oft über einstündigen Vorträgen von Anfang bis Ende zuzuhören, und die in nichts vergleichbar ist mit der Leichtigkeit, mit der visuelle Massenkonsumenten sich durch Bilderfolgen von Freunden klicken, scheint dabei weniger als Arbeit denn als Absolvierung eines Geistes-Updates wahrgenommen zu werden, das den Kopf auf Höhe der Zeit bringt wie die regelmäßige Profilpflege den eigenen digitalen Charakterabklatsch. Dafür spricht jedenfalls die intellektuelle Restmüllproduktion, mit der die gierig eingeklagten Mitschnitte dann kommentiert zu werden pflegen und die sich in ihrer Mischung aus grundloser Meinung, ausgekotzter Befindlichkeit, zufälligen Bemerkungen über Referentenstimme und Aufnahmeakustik und sachfernen faits divers nicht von dem unterscheidet, was sich in entsprechenden Kommentarspalten sonst noch findet. Jeder unmitgeschnitten verklungene Vortrag, der auch nur in einem Einzigen eine vom Vortragenden nicht bemerkte und ihm nicht mitgeteilte wahrhafte Antwort hervorruft, ist mehr wert als solche »Resonanz«, über die sich nur freut, wer sich selbst zum kommunikativen Schalltrichter geworden ist.
Die ständige Erweiterung der Audioarchive zeugt von der immer stärkeren Verwischung der Grenze zwischen Gesprochenem und Geschriebenem. Wie diese Grenze verläuft, ist bestimmend für die jeweilige Moral des Denkens. Dabei gibt es keine festen äußeren, aber bedeutsame implizite Normen. Wem das schriftliche Wort als verbindlichste Form des Denkens gilt, der mag die mündliche Äußerung mal als lebendigen Ausdruck des bereits schriftlich Fixierten, mal als Experiment verstehen, bei dem auch geäußert werden darf, was schriftlich verworfen, getilgt oder verändert wird. Umgekehrt kann, wer das lebendige Sprechen zum Publikum als unverzichtbar für das Denken begreift, die freie Rede als Ort für Gedanken erfahren, die in schriftlicher Form zugunsten des prononcierten Ausdrucks verdrängt werden. In jedem Fall besteht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein Unterschied, der erst den spezifischen Gehalt von beidem ausmacht. Die Audioarchivierung des Denkens dagegen ist eher Symptom eines Zustands, in dem alles in freier Rede Geäußerte als Vorform eines Textes und jeder Text als Nachform der Rede oder als Vorform einer neuen, mithin jeder Gedanke a priori als vorläufig erscheint. Dem widerspricht nicht, dass das »Mitschneiden« von allem und jedem zugleich die Neigung der entsubjektivierten Subjekte befördert, jeden noch so vorsichtigen und freundlichen Menschen auf alles und jedes festzulegen, was ihm jemals sprechenderweise unterlaufen ist. Weil die »sozialen Netzwerke« das dreiste Denunziantentum ebenso totalisieren wie die plumpe Kumpelei, die keinen Unterschied zwischen Kollegen, Vorgesetzten, Freunden und Herzensmenschen kennt, verallgemeinern sie die detektivische und ermittlungstechnische Funktion der akustischen Aufnahme ebenso wie deren Nutzen im Dienst eines geistigen Grapschertums, dank dessen man immer häufiger Leuten begegnet, die, was man wo, wann und wie einmal gesagt hat, exakter wissen, als man selbst es wissen will.
Natürlich lässt sich gegen all das nicht viel tun, und der zur Weltgemeinschaft gewordenen Share Community den Mitschnitt der eigenen Rede zu verweigern, wäre Ausdruck von Hinterwäldlertum. Doch wie die besten Bücher jene sind, die einem die Lektüre schlechter ersparen, so genügt es mitunter, einem Menschen nur einmal wirklich zuzuhören, um alles zu verstehen. In eine endlose Reihe rhetorischer Selbstpräsentationen droht das Leben sich in der zum Assessment-Center umgebauten Welt sowieso zu verwandeln. Die Erkenntnis dessen aber kann nicht mitgeschnitten werden. Sie lässt sich auch nicht nachholen wie ein versäumter Lokaltermin. Wer sie nachholen möchte, hat sie schon versäumt.