Das Buch »Der französische Selbstmord« von Éric Zemmour

Es war nicht alles schlecht

Der Journalist und Buchautor Éric Zemmour versucht sich in seinem Bestseller »Der französische Selbstmord« an der Rehabilitation des Vichy-Regimes.

Deutschland schafft sich ab und Frankreich bringt sich um. Zwei Buchtitel, zwei gleichermaßen fiktive Szenarien. Hinter den plakativen Titeln verbergen sich jedoch Thesen, die immer stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben scheinen. Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« erschien 2010 und hat sich innerhalb der ersten beiden Jahre rund 1,5 Millionen Mal verkauft. Anfang Oktober 2014 erschien im Verlag Albin Michel in Frankreich das Buch »Le suicide français (»Der französische Selbstmord«) von Éric Zemmour, das sofort in die Bestsellerlisten kam – trotz eines relativ unhandlichen Formats und des nicht eben günstigen Preises: 544 Seiten für 22,90 Euro.
Zemmours Thesen ähneln in vielerlei Hinsicht denen Sarrazins. Hatte letzterer das Aussterben der deutschen Bevölkerung, eine geringe Geburtenrate und einen allgemeinen Werteverfall beklagt, so geht es bei Zemmour um den Untergang des französischen Nationalstaats, die schädliche Feminisierung der Gesellschaft sowie Verlust universaler Werte.
Zemmour macht einen planmäßigen Niedergang Frankreichs über vier Jahrzehnte hinweg aus, in den Jahren von 1970 bis 2010. In insgesamt 79 Kapiteln stellt er Zusammenhänge zwischen politischen Ereignissen und kulturellen Umbrüchen her. Jedes einzelne Buchkapitel beschreibt, so eine Kritik in der Literaturbeilage des Wochenmagazins Le Nouvel Observateur, »je einen Sargnagel in der Geschichte Frankreichs«. Das 1984 durch die Straßburger Band Cookie Dingler vertonte Lied »Femme libérée«, eine schnulzige Hymne auf eine als emanzipiert dargestellte Frau, ist aus Zemmours Sicht ein Meilenstein auf dem Weg in die Katastrophe. Er vergleicht den Text mit dem egalitaristische Zwecke verfolgenden »Terror unter der Französischen Revolution«. Der sogenannte Tugendterror und die »politische Korrektheit« zählen, ähnlich wie bei Sarrazin und der AfD, zu Zemmours Lieblingsschreckgespestern.
Zemmour beklagt »die Menschenrechtsideologie« (le droitdelhommisme) und den Verfall eines starken Staates, in dem allein sich die französische Nation angemessen darstellen könne. Er bildete »das Rückgrat der französischen Gesellschaft«, wäre dieser Staat nicht dadurch auf gefährliche Weise geschwächt, dass er ständig bedenklichen Tendenzen in der Gesellschaft nachgebe. Als da wären: Feminisierung und Emanzipationswahn, Homosexuellenermächtigung (pouvoir gay), nationalmasochistische »Fremdenfreundlichkeit« (xénophilie), »nationaler Selbsthass« und »Halalisierung«, eine Umschreibung für eine vermeintlich islamfreundliche Überfremdung der Gesellschaft.
Zemmour behauptet, seit Mai 1968 seien die drei großen Übel der Politik und Gesellschaft dabei, ihren schädlichen Einfluss zu entfalten: die Lächerlichmachung überkommener Traditionen und Institutionen, ihre »Dekonstruktion« und Zerstörung. In seinem Furor gegen die linksliberalen und linksradikalen, aber auch in den Eliten angesiedelten Repräsentanten dieses Zerstörungswerks macht Zemmour auch vor Charles de Gaulle nicht halt. Mal ist der 1970 verstorbene Staatsmann ein Repräsentant des noch starken französischen Staates, unter dem die Welt noch in Ordnung war, mal ein Komplize der Zerstörung. Hatte doch die Regierung unter de Gaulle 1965 ein Gesetz verabschiedet, das Ehefrauen erlaubte, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen, sowie 1967 die Anti-babypille legalisiert. Erstaunlicherweise findet der spätstalinistische frühere Vorsitzende der Französischen Kommunistischen Partei (von 1972 bis 1994), George Marchais, in seinen Augen tendenziell Gnade. Hatte Marchais doch 1979 den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan gerechtfertigt, was bedeute, dass er sich noch für starke Staaten einzusetzen vermochte. Und wusste Marchais sich doch in bestimmten Phasen in den achtziger Jahren der Einwanderung – im Namen des Schutzes französischer Proletarier vor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – zu widersetzen, auch wenn die französische KP diese Politik später wieder verworfen hat.
Offen wendet sich Zemmour gegen eine angeblich unkontrollierte Migration. So schreibt er, die gesetzlichen Grundlagen für die Familienzusammenführung im Jahr 1975 unter Premierminister Jacques Chirac – die den generellen Einwanderungsstopp für Arbeitskräfte, infolge des ersten Ölpreisschocks, begleitete – seien »ein schwerwiegender Fehler« gewesen. Allerdings verwechselt Zemmour dabei ganz offensichtlich den Nachzug von Familienmitgliedern französischer Staatsbürger, etwa deren ausländischer Ehegattinnen und –gatten, mit der Familienzusammenführung für ausländische Staatsbürger. Ersterer machte vor fünf Jahren 39 Prozent, letztere jedoch nur 9 Prozent der neuen Aufenthaltsgenehmigungen aus. Oder aber er wirft beides in einen Topf, um die Zahlen aufblähen zu können.
In jedem Falle enthält das Buch eine Reihe Fehler. Beispielsweise behauptet Zemmour, ein Drittel der Ehen in Frankreich, angeblich »90 000 von 270 000«, werde mit ausländischen Staatsbürgern geschlossen und diesen werde dadurch die französische Staatsangehörigkeit hinterhergeworfen. In Wirklichkeit gab es im vergangenen Jahr in Frankreich 231 000 Eheschließungen, davon betrafen nur 17 500 oder rund 7,5 Prozent solche Fälle, in denen ein ausländischer Ehepartner perspektivisch die französische Nationalität erwerben kann, und dies auch nur nach einer gesetzlichen Wartefrist von mindestens vier Jahren Ehedauer. Knappe drei weitere Prozent waren Ehen unter ausländischen Staatsangehörigen.
Besonders unangenehm wird es, wenn Zemmour für das Vichy-Regime eintritt, nach dem Motto: Es war nicht alles schlecht. Seine Motive sind dabei nicht im Antisemitismus zu suchen. Zemmour kommt selbst aus einer algerisch-jüdischen Familie. Als französischer Etatist und Nationalist, der erklärtermaßen sein Land am liebsten durch einen Politiker von der Statur eines Napoleon verkörpert sähe, ist Zemmour um eine zumindest teilweise Rehabilitation des Vichy-Regimes bemüht. Gegen die Vorwürfe »der dominanten Ideologie«, wie er es ausdrückt, nimmt er das Regime und selbst Marschall Philippe Pétain in Schutz. Folgerichtig greift er den US-amerikanischen Historiker Robert Paxton an, dessen 1972 erschienenes Werk »Das Frankreich Pétains« bahnbrechend war und zahlreiche Erkenntnisse aus den Archiven zum Vorschein brachte. Im Gegensatz zu dem, was solche Ignoranten behaupteten, wettert Zemmour, habe das Vichy-Regime »die Juden mit französischer Staatsbürgerschaft beschützt«. Dabei habe es, zugegebenermaßen, »die ausländischen Juden geopfert«, also an die Vernichtungsmaschinerie NS-Deutschlands ausgeliefert, dies sei jedoch aus Sicht der Staatsräson verständlich. Im Ergebnis sei es Pétain gewesen, der »95 Prozent der französischen Juden rettete«.
Diesen Ausführungen, die am ersten Oktoberwochenende in einer Fernsehsendung zu einem heftigen Wortgefecht zwischen Zemmour und der TV-Journalistin Léa Salamé führten, widersprechen Historiker. So weist der Geschichtswissenschaftler François Delpha in einer Entgegnung darauf hin, dass es nicht das Pétain-Regime, sondern ein Teil des französischen Klerus war, der im Sommer 1942 heftig gegen die Deportationen zu protestieren begann. Am 23. August jenes Jahres wandte sich der Erzbischof von Toulouse auf der Kanzel offen gegen die Judenverfolgung. Im September hätte auf Anweisung der Besatzungsmacht hin auch die Deportation der Juden mit französischer Staatsbürgerschaft aus Frankreich beginnen sollen. Doch am 25. September 1942 ordnete Heinrich Himmler deren vorläufige Aussetzung an. Zu dem Zeitpunkt bereitete NS-Deutschland sich darauf vor, auch die bisher allein vom Vichy-Regime verwaltete und ohne deutsche Soldaten verbliebene Südzone Frankreichs militärisch zu besetzen, weil die Landung der Alliierten näher zu rücken schien. Deswegen hatte das Reich vorläufig andere Prioritäten. Da Frankreichs Geographie viele Fluchtwege über das Meer bietet und weil zudem viele Juden zur Résistance gingen, konnte tatsächlich eine deutliche Mehrheit von ihnen gerettet werden.
Ein Unterschied zu Thilo Sarrazin, der mitsamt seiner preußischen Beamtenmentalität bislang bei der SPD bleiben durfte, liegt in der parteipolitischen Haltung Zemmours. Bislang blieb er parteilos. Und es ist auch nicht klar, wem er bei den letzten Wahlen seine Stimme gab. Doch in jüngster Zeit trat er auch mit offen rechtsextremen Kräften gemeinsam auf.
Im März 2011, unmittelbar nach seiner Verurteilung zu 6 000 Euro Geldstrafe und Entschädigungszahlung wegen incitation à la haine raciale, eine ungefähre Entsprechung zum deutschen Tatbestand der »Volksverhetzung« – es ging um seine Äußerungen über den Zusammenhang zwischen Kriminalität und ethnischer Abstammung (Jungle World 15/2010) – empfingen ihn noch konservative Abgeordnete im französischen Parlament. Es handelte sich um die Abgeordnetengruppe La Droite populaire vom rechten Flügel der damaligen Regierungspartei UMP. Vier Tage nach dem Urteilsspruch, gegen den er nicht in Berufung ging, beschwerte Zemmour sich vor den rechtskonservativen Parlamentariern über die Bedrohung der Meinungsfreiheit und über »politische Korrektheit«.
Am 16. Oktober dieses Jahres wiederholte Zemmour ähnliche Tiraden, dieses Mal aber nicht vor einem Publikum von 30 bis 40 Abgeordneten, sondern vor 1 500 Menschen in einem Saal im südfranzösischen Béziers. Danach standen Besucher eine Stunde lang Schlange, um sich Buchexemplare von ihm signieren zu lassen. Eingeladen hatte ihn Robert Ménard, der im März im Namen des rechtsextremen Front National (FN) zum Bürgermeister der Stadt gewählt worden ist und zuvor auf einer Doppelseite in der Rathauszeitung Werbung für Zemmour betrieben hatte.
Unterdessen wurde durch eine Umfrage der Tageszeitung Le Parisien am 25. Oktober bekannt, dass 62 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen eine negative Meinung über Zemmour haben, wobei auch die konservative Wählerschaft in zwei nahezu gleich große Lager gespalten ist. 62 Prozent erklärten, sie seien über seine Äußerungen zum Vichy-Regime »schockiert«. Auch 55 Prozent der konservativen Wähler sahen das so. Allein die Wähler des Front National äußerten sich anders: 69 Prozent waren »nicht schockiert«.
Am vorvergangenen Sonntag versuchte die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen, sich als moderat zu profilieren, indem sie sich von Zemmour distanzierte. In einem Gespräch mit der Sonntagszeitung JDD beschuldigte sie ihn, eine Verschwörungstheorie zu propagieren. Zemmour hatte sich am 13. Oktober in einem Fernsehinterview positiv auf eine Formulierung des Schriftstellers Renaud Camus bezogen, der immer wieder von einem Projekt des »grand remplacement«, des »großen Bevölkerungsaustauschs« spricht. Camus tritt des öfteren beim rechtsextremen Bloc identitaire auf und wurde im April dieses Jahres in Paris wegen »Rassenhetze« gegen Muslime und Migranten verurteilt. Im April 2000 wurde eines seiner Bücher wegen judenfeindlicher Passagen vom Verlag zurückgezogen. Zemmour hatte Camus’ Formulierung vom »geplanten Bevölkerungsaustausch« zustimmend zitiert. Nun erklärte Marine Le Pen dazu: »Das Konzept eines großen Bevölkerungsaustauschs unterstellt einen vorab gefassten Plan. Ich teile nicht diese verschwörungstheoretische Vision. Ich denke auf pragmatischere Weise, dass die Einwanderung seit 30 Jahren von den Milieus der Hochfinanz benutzt wird, um die Löhne zu drücken (…). Parallel dazu denke ich, dass die Politiker sich dank der Einwanderung ein neues Wählerreservoir bilden, weil sie es unter den Arbeitern verloren haben.«
Inhaltlich sagt Marine Le Pen zwar dasselbe wie Camus und Zemmour, doch benutzt sie ihre vordergründige verbale Distanzierung, um sich neben dem hetzerisch auftretenden Journalisten als gemäßigt darzustellen.