Nach dem »Toiletten-Gate«: Die Linkspartei streitet wieder über Antisemitsmus

Sie nennen es Zwischenfall

Nach dem »Toiletten-Gate« wird der Streit über Antisemitismus und Israel-Hass in der Linkspartei heftiger.

»Wiederholt müssen wir konstatieren, dass (…) Mitglieder unserer Partei in verantwortlichen Positionen durch Schürung obsessiven Hasses auf und der Dämonisierung von Israel antisemitische Argumentationsmuster und eine Relativierung des Holocausts und der deutschen Verantwortung für die millionenfache Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden befördern.« Ungewöhnlich offen kritisieren exponierte Vertreter der Linkspartei in einem »Ihr sprecht nicht für uns!« betitelten Appell das Verhalten von vier Politikerinnen ihrer Partei. Die Bundestagsabgeordneten Inge Höger, Annette Groth und Heike Hänsel sowie Claudia Haydt, Mitglied des Bundesvorstands, hatten am 10. November – ausgerechnet in zeit­lichem und inhaltlichem Zusammenhang zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 – an einem sogenannten »Fachgespräch« mit den beiden antiisraelischen Aktivisten Max Blumenthal und David Sheen teilgenommen.
Eigentlich war geplant gewesen, die beiden als »Journalisten« bezeichneten Referenten am 9. November auf einer offiziellen Fraktionsveranstaltung im Sitzungssaal der Linksfraktion auftreten zu lassen. Nach Presseberichten verweigerte jedoch der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi, den Raum zur Verfügung zu stellen. Eine im Roten Salon des Berliner Theaters Volksbühne geplante Ersatzveranstaltung wurde ebenfalls abgesagt – wiederum vom Fraktionsvorstand, der herausgefunden hatte, dass Höger den Raum im Namen, aber ohne Zustimmung der Fraktion angemietet hatte. Die Veranstaltung, bei der Blumenthal und Sheen von dem antiisraelischen »Russell Tribunal on Palestine« berichten wollten, fand dann in einem nahegelegenen Anti-Kriegs-Café statt.

Am Folgetag schließlich fand in den Räumen des Bundestages ein zweites »Fachgespräch« mit beiden Referenten statt. Anschließend spielten sich im Bundestag die Szenen ab, die als »Toiletten-Gate« bekannt wurden und den eingangs zitierten Appell veranlassten. Der nach Israel eingewanderte Kanadier Sheen und der Amerikaner Blumenthal zogen nach dem »Fachgespräch« gemeinsam mit Höger, Groth, Hänsel und Haydt sowie weiteren Personen, darunter der der Hamas nahestehende Journalist Martin Lejeune, zum Büro von Gysi. Als dieser den Flur betrat, wurde er von Blumenthal und Sheen heftig bedrängt. Letzterer warf Gysi vor, für angeblich zu erwartende Morddrohungen gegen Sheen in Israel verantwortlich zu sein. Sowohl Sheen als auch Lejeune filmten die Aktion, die darin gipfelte, dass Sheen Gysi bis auf die Toilette verfolgte.
Rasch wurde offenbar auch Groth und Höger klar, dass mit dieser Verfolgungsjagd eine Grenze überschritten worden war. Noch am selben Abend veröffentlichte die Fraktion eine Entschließung, derzufolge sich Höger, Groth und Hänsel bei Gysi entschuldigt hätten und dieser die Entschuldigung angenommen habe. »Gleichwohl verurteilt die Fraktion auf das Schärfste das Agieren gegenüber unserem Fraktionsvorsitzenden«, hieß es im Beschluss. »Wer uns oder unsere Genossen so feindselig behandelt wie an diesem 10. 11., mit dem werden wir nicht kooperieren.«
»Unser Ziel war es, in einem persönlichen Gespräch in den Medien verbreitete Anschuldigungen über zwei Journalisten aus den USA und Israel zu klären«, heißt es in der persönlichen Erklärung von Groth, Hänsel und Höger. Die Situation sei »außer Kontrolle« geraten, dafür entschul­dige man sich bei Gysi.

Dass es mit Gästen wie Blumenthal und Sheen zur Eskalation kommen kann, hätte man allerdings vorher wissen können. In seinem letzten Buch, »Goliath«, hatte Blumenthal zustimmend den israelischen Theologen Yeshayahu Leibowitz zitiet, der israelischen Soldaten vorwarf, sich wie »Judäo-Nazis« zu benehmen. Einige Kapitelüberschriften implizierten eine Gleichsetzung von Israel und Nazi-Deutschland (»The Concentration Camp«, »The Night of Broken Glass«), das Buch wurde in der linken US-amerikanischen Zeitschrift The Nation als »Das ›Ich hasse Israel‹-Buch« bezeichnet. Beim Simon-Wiesenthal-Center brachte es Blumenthal damit in die »Top Ten« der schlimmsten antisemitischen und antiisra­elischen Verunglimpfungen des Jahres 2013. JNS.org zufolge verglich Blumenthal auf einer Sitzung des »Russell Tribunal on Palestine« Israel mit der Terrororganisation »Islamischer Staat«. Blumen­thals Mitstreiter Sheen assoziiert Israels Umgang mit afrikanischen Flüchtlingen mit der Rhetorik des Nazi-Regimes. Es ist bezeichnend, dass Sheen sich gegenüber Gysi auch noch als verfolgende Unschuld betätigte und dem Politiker brüllend vorwarf, er sei Schuld an angeblichen Drohungen gegen Sheen in Israel, weil Gysi ihn als Antisemiten bezeichnet habe (was dieser durch einen Sprecher dementieren ließ).
Dass Höger und Groth nicht zufällig und aus Versehen solche Protagonisten eingeladen hatten, zeigt auch ein Blick in die Vergangenheit der beiden Abgeordneten. Im Mai 2010 hatten sie an der von türkischen Islamisten organisierten Gaza-Flottille teilgenommen und schon damals entsprechenden Widerspruch aus Partei und Fraktion geerntet. Höger wurde auch deshalb bekannt, weil sie sich mit einem Halstuch ablichten ließ, dass eine Karte des Nahen Ostens ohne Israel zeigte. Gysi zeigte sich damals milde: »Dieser Schal ist ihr überreicht worden, sie hat nicht genau hingeschaut und mir später gesagt, es tue ihr leid. Damit ist die Sache geklärt.«
Seit Jahr und Tag beharrt Gysi darauf, dass es in seiner Partei keinen Antisemitismus gebe. Er stelle lediglich »zu viel Leidenschaft bei der Kritik an Israel« fest. Auch diesmal ließ Gysi zumindest nach außen Nachsicht walten: Man wolle »keine Staatsaffäre« aus der Sache machen, hieß es aus seinem Büro. Noch im Oktober hatte Gysi selbst eine einseitige Anerkennung des »Staates Palästina« durch Deutschland verlangt – eine Forderung, die nicht nur israelischen Interessen widerspricht, sondern strenggenommen auch dem Programm der Linkspartei. Laut diesem strebt die Partei die Anerkennung Palästinas nur durch »friedliche Beilegung des Nahost-Konfliktes im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung« an – und nicht durch Alleingänge westlicher Staaten. Fakt ist, dass außerhalb des paranoiden Weltbildes von Blumenthal und Sheen die Linkspartei kein Hort der Freundschaft mit Israel ist.
Folgerichtig positionierte sich auch Gysis Stellvertreterin Sahra Wagenknecht ähnlich wie der Fraktionsvorsitzende. Einerseits sagte sie: »Ich will das nicht verharmlosen. Das war eine ziemlich üble Geschichte. So etwas darf niemals wieder vorkommen.« Andererseits relativierte Wagenknecht ihre Äußerungen sogleich, die Hetzjagd auf Gysi sei schließlich nicht von ihren Fraktionskolleginnen veranstaltet worden. Wenn jedes »deutliche Fehlverhalten« zum Ausschluss aus der Fraktion führe, wisse sie nicht, wie groß diese am Ende noch sei. Forderungen, wonach Höger, Groth sowie eventuell auch Hänsel die Fraktion verlassen sollten, wies Wagenknecht als »völlig absurde Vorschläge« zurück. Als »Zentristen« in der Fraktion setzen Gysi und Wagenknecht offenbar auf ein schnelles Ende der Debatte. Für sie scheint im Vordergrund zu stehen, dass die Linkspartei ohne Höger und Groth nicht mehr größte Oppositionspartei im Bundestag wäre.

In die entgegengesetzte Richtung geht der Appell »Ihr sprecht nicht für uns!«. Der am Freitag voriger Woche veröffentlichte Aufruf trägt als Erstunterzeichner die Namen zahlreicher Bundestagsabgeordneter und hochrangiger Landespolitiker der Linkspartei. Bis Montag unterstützten ihn bereits fast 800 weitere Personen. Darin heißt es: »Der Beschluss der Bundestagsfraktion zu diesen Vorgängen ist nicht ausreichend.« Man wolle nicht länger akzeptieren, dass Höger, Hänsel und Groth weiterhin im Namen der Fraktion und damit stellvertretend für die gesamte Partei sprechen oder dass Haydt für den Parteivorstand die Partei weiterhin international vertritt. »Wir stellen klar: Annette Groth, Inge Höger, Heike Hänsel und Claudia Haydt sprechen nicht in unserem Namen. Wir fordern sie auf, daraus Konsequenzen zu ziehen.«
Was das genau heißt, lässt der Aufruf offen. Einzelne Unterzeichner wurden aber deutlicher. So sagte der sächsische Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Michael Leutert, dem Tagesspiegel: »Ich würde die Verantwortlichen aus der Frak­tion rausschmeißen.« Marco Radojevic, baden-württembergischer Landessprecher des parteininternen Zusammenschlusses »Forum demokratischer Sozialismus«, zeigte sich in einer Stellungnahme besonders beschämt, »dass mit Groth, Haydt und Hänsel drei Personen aus dem Landesverband Baden-Württemberg an diesen Vorgängen beteiligt waren«. Der Ausschluss von Höger und Groth aus der Bundestagsfraktion sei »jetzt überfällig«.

Die Strömung »Antikapitalistische Linke« erklärte derweil ihre Solidarität mit Höger, Groth, Haydt und Hänsel. Im Aufruf werde lediglich »ein bedauernswerter Zwischenfall aufgebauscht, verallgemeinert und instrumentalisiert. Das hat eine schädliche Wirkung auf die innerparteiliche Diskussionskultur.« Keine der Äußerungen der beiden jüdischen Journalisten habe antisemitischen Charakter gehabt. Höger selbst sagte zum Aufruf, er sei »ein Akt der Ausgrenzung, der mich erschreckt. Ich sehe überhaupt keinen Grund, Konsequenzen zu ziehen.« Die Attacke auf Gysi im Bundestag werde dadurch instrumentalisiert. »Ich sehe das als einen Angriff auf die friedenspolitischen Positionen dieser Partei.«
Dem hält Klaus Lederer, der Berliner Landesvorsitzende und ein Mitinitiator des Appells, auf seiner Facebookseite entgegen: »Ein ›bedauernswerter‹ Zwischenfall. Wie schon der Schal mit der Landkarte des Nahen Ostens, auf dem Israel getilgt war, wie schon die Reise auf dem Frauendeck gemeinsam mit türkischen Rechten, wie das ­ostentative Sitzenbleiben bei der bewegenden Rede eines Auschwitzüberlebenden im Bundestag am 9. November (…) und so weiter und so fort. Es reicht.«
In einer weiteren Stellungnahme betont Lederer angesichts von Vorwürfen, er und seine Mitstreiter instrumentalisierten die Debatte, er finde »manche Debatten, auch die aktuelle, nicht ›schädlich‹, sondern erfrischend, offen und notwendig«. Es sei ihm zwischenzeitlich schon so vorgekommen, »als sei jede Debatte ein Verstoß gegen das innerparteiliche Friedhofsruhegebot und jede Frage ein Sakrileg. Das ewige ›Ihr schadet uns mit dieser Debatte‹ … sorgt für das Ende jeden Streits. Und für eine tote, stehengebliebene Linke. Und eine solche wird aus der Zeit fallen«. Offenbar sind Lederer und seine Mitstreiter entschlossen, diese Debatte nun wirklich zu führen.