Iranische Studenten über ihren Alltag und ihre Vorstellungen für die Zukunft

»Die Islamisten und Traditionalisten sind unser Untergang«

Das iranische Regime versucht, sich ein ­liberales Image zu geben. Zumindest nach außen. Von einer innenpolitischen Liber­alisierung ist für viele Iranerinnen und Iraner jedoch kaum etwas zu spüren. Vor allem für junge Menschen bleibt Auswandern der größte Wunsch.

Isfahan, die traditionelle, viel besungene Stadt im Herzen des Iran, ist einem persischen Sprichwort zufolge »die Hälfte der Welt«. Unzählige Moscheen, Paläste, Gärten, Boulevards und Brücken sorgen dafür, dass der Ort fast schon mu­seale Züge trägt. Unter einem der Bögen der Jahrhunderte alten Khaju-Brücke singen alte Männer traditionelle persische Lieder und rezitieren Poeten wie Hafis oder Firdausi.
Wenige Meter davon entfernt berichtet Ahmad* von der Hoffnungslosigkeit seiner Generation und dem Rückzug ins Private: »Wir haben ein Sprichwort: ›Schlafe immer im sicheren Abstand vom Kamel.‹ Im Iran ist das Kamel die Politik«, sagt er. Ahmad studiert Maschinenbau. Er hofft, sein Studium in einigen Jahren in Deutschland fortsetzen zu können. Mit der iranischen Politik habe er abgeschlossen: »Ich war 18, als ich vor fünf Jahren so wie viele anderen Iranerinnen und Iraner gegen die Wahlmanipulationen auf die Straße gegangen bin. Ein Polizist hat mich verprügelt, meinen Arm an mehreren Stellen gebrochen. Damit zerbrach auch meine Hoffnung, hier etwas verändern zu können.« Er konnte damals nicht zum Arzt gehen, da er Angst hatte, verhaftet zu werden. Abgesehen von seiner gesundheitlichen Situation hätte er nach einem Gefängnisaufenthalt keine Möglichkeit mehr gehabt, ein Visum für Deutschland zu beantragen. Ein befreundeter Tierarzt behandelte ihn notdürftig und verabreichte ihm tagelang Morphium. Nachdem einige Zeit vergangen war, unterzog sich Ahmad diversen Operationen, am Ende sogar einer Hauttransplantation, um die Narben so gut wie möglich unsichtbar zu machen. »Ich wollte alle Erinnerungen an diese Zeit auslöschen«, erzählt er.
Ahmad ist einer der vielen Iranerinnen und Iraner, die sich, wenn man kreuz und quer durch die Islamische Republik reist, über die politische Situation unterhalten wollen – entgegen den Warnungen von Reiseführern und offiziellen Stellen, die Reisende davon zu unterrichten versuchen, dass im Iran mit Ausländern nicht über Politik geredet werde. Zu Beginn neuer Bekanntschaften ist das auch zumeist der Fall. Ist aber ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut, dann sprudelt die Unzufriedenheit – meist über die Politik, ganz selten auch über die Kritik an eben jener – aus vielen heraus. Nahezu jedes Gespräch nimmt politischen Charakter an. Das große Bedürfnis danach ist überall zu spüren.

Der Iran ist ein Land, in dem ausländische Reisende mit offenen Armen, unzähligen Einladungen und Geschenken empfangen werden. Wo Taxifahrer durch die halbe Stadt rasen, um dem Besitzer die im Auto liegen gelassene Tasche zurückzubringen. Wo die Bezahlung für den Transport ganz von Einheimischen übernommen wird. Aber auch das Land, wo sich zwei wildfremde Männer aufgrund unterschiedlicher Ansichten über die Ärmellänge des Oberteils einer deutschen Touristin auf offener Straße prügeln, wo nicht nur die Metro der Hauptstadt, sondern nach Willen des Justizministers bald auch die Arbeitsplätze »aus Effizienzgründen« geschlechtergetrennt sind und wo riesige, aufgebrachte Menschenmengen nach den Freitagsgebeten den »Tod der Zionisten« fordern.
Auch wenn die Meldungen rund um die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm alles andere als ein klares Bild vermitteln, so wurde doch mittlerweile deutlich, dass Präsident Hassan Rohani, mittlerweile seit gut einem Jahr im Amt, von der säbelrasselnden Rhetorik seines Vorgängers, Mahmoud Ahmadinejad, Abstand genommen hat, zumindest in der Außendarstellung. Doch finden auch die von ihm angekündigte innenpolitische Liberalisierung, die Lockerung der omnipräsenten religiösen Vorschriften und Verbote, die Abschaffung der Zensur und die Einführung von mehr Freiheiten im gesellschaftlichen und kulturellen Leben wirklich statt?
Ahmad ist skeptisch. »Im Vergleich zu Ahmadinejad ist Rohani natürlich ein wesentlich besserer Präsident«, meint er, »aber das, was Sie in Europa mitbekommen, bezieht sich ja alles nur auf seine Außenpolitik. So entsteht im Ausland der Eindruck, dass sich das Land öffnet, aber im Iran selbst tut sich wenig. Freiheiten gibt es noch immer keine.«. Ahmads Freund, Samir, ebenfalls angehender Ingenieur, fällt ihm ins Wort: »Lieber keine Freiheit als Krieg. Es geht uns ja nicht nur um unsere persönliche Zukunft. Der Iran ist unsere Heimat und wir alle sehen gerade, was in der arabischen Welt, zum Beispiel in Syrien, geschieht. So etwas darf im Iran nicht passieren.«
Sicherheit statt Freiheit? Viele junge Iranerinnen und Iraner widersprechen dieser Vorstellung. Vor allem, wenn die Sicherheit auf Einschüchterung fußt. Die Revolutionsgarden beeinflussen die Politik und die Wirtschaft, die Polizei ist im Stadtbild sehr präsent. Und sie wird auch gegenüber recherchierenden Ausländern aktiv.

Auf dem Universitätsgelände in Tabriz, der größten Metropole im Nordwesten des Landes, werde ich von zwei Wachschützern verhaftet. Es folgt die Überstellung an die örtliche Polizei. Das konfuse, etwa einstündige Verhör beginnt mit haarsträubenden Spionagevorwürfen und vereint Elemente der persischen, englischen und deutschen Sprache zu einem wunderlichen Kauderwelsch. Der fehlende Reisepass sorgt für Spannungen. Auch das Argument, dass die iranischen Hotels diesen immer bereits beim Check-In für die gesamte Zeit des Aufenthalts behalten, stößt nicht auf Verständnis. Erst als die Debatte über Umwege bei der Fußball-Weltmeisterschaft landet, verflüchtigt sich das anfängliche Misstrauen im dichten Zigarettenqualm, der in dem kleinen Zimmer hängt. Draußen warten die zuvor kennengelernten Studentinnen und Studenten. Sie haben in der Zwischenzeit Brot, Gemüse und Früchte für ein Picknick eingekauft. »Bilde dir darauf bloß nichts ein«, sagt Alina lächelnd bevor ihre Stimme einen resignierten Tonfall annimmt: »Ich habe schon aufgehört zu zählen, wie oft mich die Polizei festgehalten hat. Mal wegen der Kleidung, mal wegen der Begleitung. Ich habe das Gefühl, manchmal wissen sie selbst nicht, warum sie das tun.«
Alina trägt im Gegensatz zu vielen Iranerinnen keinen schwarzen Tschador, sondern ein grellpinkes Kopftuch, ihre Augen sind von einer riesigen goldenen Sonnenbrille bedeckt. Ihre Form des Widerstands manifestiert sich in diesen Äußerlichkeiten, die für sie große Bedeutung haben: »Ich ziehe das Kopftuch etwas weiter zurück als es sich gehört, lasse hie und da mal etwas Haut aufblitzen.« Eine Form der Subversion, die nicht wenige Frauen im Iran teilen. »So besteht zwar immer die Gefahr, festgehalten zu werden, okay, das ist es mir aber wert«, sagt sie. Größere Ri­siken will sie jedoch keinesfalls eingehen. Sonst würde ihr Traum, ins Ausland zu gehen, in weite Ferne rücken. Ein Traum, den sie ihrer Mutter noch nicht mitgeteilt hat. Diese hielt es bereits für gefährlich, dass ihr Mann der Tochter das Studium abseits der Heimatstadt erlaubt hat. Die studentischen und ausländischen Einflüsse, fernab der elterlichen Sorge, könnten einen zersetzenden Einfluss auf ihre Tochter haben. »Meine Mutter hätte es am liebsten, wenn die Regierung gar nicht mit den westlichen Staaten verhandeln würde«, sagt Alina. Ihre Mutter beteuere immer wieder, dass sie doch in einem friedlichen, sicheren und sittlichen Land lebten. Warum also sich auf das Risiko einer Öffnung einlassen? Mit der Gefahr irakischer Zustände oder westlicher Einflüsse auf das Zusammenleben?

Für Amir stellen sich derlei Fragen überhaupt nicht. Der 25jährige hat in sein Elternhaus am Stadtrand von Schiraz zum Mittagessen geladen. Seine Familie ist da, ebenso wie einige Freunde aus dem Religionsstudium. Von den Wänden des geräumigen Wohnzimmers grüßen wie ansonsten überall im öffentlichen Raum der finster dreinblickende Revolutionsführer Ruhollah Khomeini und das milde lächelnde derzeitige religiöse Oberhaupt Ali Khamenei. Daneben Bilder vom Hadsch in Mekka und Familienfotos. Auf dem großen Teppich in der Mitte des Raumes sind große Mengen an Reis, Kabab, Gemüse, Nüssen, Brot; dazu gibt es karaffenweise Dugh, die iranische Version des Ayran. Beim Tee nach dem Essen sollen politische Themen besprochen werden.
»Jeder hier kann tun, was er will«, sagt Amir. Wirklich? Auch Frauen? »Die iranischen Frauen wollen unserer Religion entsprechend leben. Sie haben kein Problem damit, das Kopftuch zu tragen.« Innenpolitische Probleme gebe es kaum, der Glaube verbinde das Volk. Den außenpolitischen Kurs Rohanis unterstützt er: »Wir folgen ihm bedingungslos.«
Als ein »Doktor« genannter etwa 60jähriger Nachbar eintritt, Fragen zum deutschen Israel-Kurs stellt und Amirs Bruder daraufhin mit seinem Smartphone die Antworten aufnimmt, schlägt die vormals sehr gelöste, auf Gastfreundschaft und Höflichkeit aufgebaute Stimmung um. Ein Dutzend Paar Augen fixieren die Antwortenden, die Brisanz des Themas ist kein Geheimnis. Differenzierte Aussagen stoßen auf ungläubiges, aggressiv unterlegtes Schweigen. Als die zweite Runde Tee serviert wird, ist die Debatte über das Thema endlich beendet. Amir lässt auch Wochen später den Kontakt nicht abreißen. »Bring beim nächsten Mal all deine Freunde mit. Hier im Iran seid ihr alle willkommen«, schreibt er.
Alt und neu, Tradition und Moderne, Geschlossenheit und Öffnung, Einschüchterung und subtile Subversion, persische Kultur und westliche Einflüsse prallen im Iran mit Wucht aufeinander. Andauernd, überall. Als Folge erlebt man ein Land voller Ambivalenzen. Hunderte Menschen pilgern Abend für Abend zum Grab des Dichters und Nationalhelden Hafis in Schiraz, singen und rezitieren seine Verse, die unter anderem so klingen: »Noch währt die Zeit der Jugend, das Beste ist nur Wein; das Beste für Betrübte ist: wüst und trunken sein.« Den Iranerinnen und Iranern ist jedoch nicht nur der Weingenuss strengstens untersagt, Schriftsteller und Dichter sollen nach Anweisungen von offiziellen Stellen Wörter wie »Wein« gänzlich aus ihrem Vokabular streichen. Auch die Internet-Zensur ist eine reine Farce. Sowohl der Präsident als auch Khamenei twittern fleißig trotz offizieller Sperre, wie jüngst, um erneut gegen Israel zu hetzen – am 9. November erschien auf dem englischsprachigen Account von Khamenei ein Neun-Punkte-Plan für die Auslöschung Israels unter dem Titel »9 key questions about elimination of Israel«. Das ­Facebook-Verbot nimmt niemand ernst, auch systemtreue Traditionalisten wie Amir nicht.

Anruf bei Elektronikhändler Karim aus Teheran, um ein zuvor unterbrochenes Gespräch fortzuführen. »Nicht unter dieser Nummer«, sagt er. Zu gefährlich. Am folgenden Tag ruft er zurück: »Der Regierung ist viel zuzutrauen. Aber einen Handyverkäufer abzuhören, das schafft auch sie nicht«, sagt er und lacht schallend durch den Hörer. Dann wird der sonst immerzu gutgelaunte 52jährige ernst. »Die Konservativen, die das Land beherrschen, und damit meine ich nicht den Präsidenten, merken nicht, dass das Volk sie links überholt. Irgendwann werden sie sich umblicken und sehen, dass nur noch ihre paar Anhänger hinter ihnen stehen. Den Drang nach Freiheit können sie auf Dauer genauso wenig zensieren wie das Internet«, sagt er. Am Ende des Gesprächs weist er energisch darauf hin, mit dem Verschicken von E-Mails oder SMS mit politischem Inhalt so lange zu warten, bis ich das Land verlassen habe. »Du kannst dir sicher sein, dass deine Nachrichten mitgelesen werden«, sagt er.
In einem sonnendurchfluteten Innenhof des sich unter jahrhundertealten Gewölbegängen über sieben Quadratkilometer erstreckenden Basars in Tabriz sitzen der Teppichhändler Aamun und seine Kollegen auf ihrer Ware, trinken Tee und diskutieren das Geschäft. »Es ist dringend an der Zeit, dass der Iran sein schlechtes Image in der Welt ablegt«, sagt Aamun. Der 62jährige mit den schulterlangen grauen Haaren und der etwas schiefen randlosen Brille sorgt sich um seine berufliche Zukunft. Alleine in diesem Bereich des Basars bieten über 50 Händler ihre Teppiche an. »Nur mit iranischen Kunden können wir auf Dauer nicht mehr überleben. Wir brauchen ausländische Gäste und Käufer, Amerikaner, Europäer«, sagt er. Und das gehe nicht nur den Teppichhändlern so. Daher unterstütze er alle Öffnungsversuche Rohanis: »Nicht schnell genug« könne das gehen. Innenpolitische Reformen hält er hingegen für moralisch gefährlich. Wie viele der ehemals politisch einflussreichen basaris – sie waren eine tragende Stütze bei der Islamischen Revolution 1979 – sieht er sich selbst als »traditionell-religiös«. Diverse liberale Systemkritiker bezeichnen die basaris in Gesprächen hingegen als »konservative Opportunisten«.
Aamun bezieht sich wie viele seiner Landsleute auf das »gute Sozialsystem« der Islamischen Republik. Obdachlose, Bettler, Menschen, die von der Gesellschaft unbeachtet an den Rand gedrängt wurden, sind im Iran überhaupt nicht zu sehen. Kriminalitätsfurcht ist nirgends zu spüren. Dafür findet man an jeder Straßenecke, von Teherans Asadi-Platz bis ins abgelegenste Bergdorf, blau-gelbe Almosenboxen, die zur Spende einladen. Doch mit Blick auf das schwächelnde Teppichgeschäft bezeugt Aamun ebenso wie in der Nacht die Taxifahrer, die tagsüber anderen Berufen nachgehen, und die unzähligen Studenten, die immer wieder über ihre schlechten Jobaussichten nach der Universitätszeit klagen, dass der Arbeitsmarkt schwächelt und die einfachen Menschen am meisten unter den westlichen Sanktionen leiden.
»Ich war während der Revolution selbst Student«, sagt Reza, der als Dozent für persische Literatur arbeitet. »Ich habe die letzten Jahre des Schah-Regimes, all die Gewalt und den Hass miterlebt. Im Vergleich dazu leben wir heute in friedlichen Zeiten.« Der vermeintliche Drang nach Freiheit, in Ablehnung aller tradierten moralischen Werte, sei eine westliche Erfindung, die nichts Friedliches und schon gar nichts Poetisches an sich hätte. »Es ist vor allem wichtig, die persische Hochkultur, das Wissen um unsere Vorfahren, unsere Poeten zu bewahren und zu leben. Wenn uns dies gelingt, steht einer sanften Öffnung sowohl nach innen als auch nach außen nichts im Wege«, sagt er, während er gedankenverloren an seinen silbernen Brillenbügeln kaut.
Mit dieser Meinung konfrontiert, lacht Ahmad kurz auf und schüttelt dann vehement den Kopf: »Die Islamisten und Traditionalisten sind unser Untergang«, sagt er. Er hofft, dass die deutsche Botschaft seinem Visumsantrag stattgeben wird. »So lange zu Hause versteckt bleiben, bis man im Flugzeug sitzt«, das sei die einzige Hoffnung für die iranische Bevölkerung.

*Alle Namen von der Redaktion geändert