Das Buch »Electri_city. Elektronische Musik aus Düsseldorf«

Der kalte Klang von Düsseldorf

Als Kraftwerk, DAF und Neu! die Musikgeschichte elektrifizierten: Rüdiger Esch hat eine Chronik des Underground aus der Weltmetropole des Modernismus geschrieben.

Düsseldorf ist unsere Heimat«, heißt es in dem Lied »Düsseldorf« von La Düsseldorf. »Düsseldorf« ist auch der Titel des ersten Albums der Düsseldorfer Gruppe aus dem Jahre 1976. Es ist nur zu offensichtlich: Die Gruppe um Klaus Dinger, den ehemaligen Trommler von Neu!, kommt aus der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens. Es geht weiter: »Düsseldorf, du bist unsere aaaa-aahhhhh … Düsseldorf, du bist unsere bäääää-hhhh.« Süffisant gebrüllt hebt der Text auf dem minimalistischen 4/4-Takt ab, taucht euphorisch mit ein paar Flugzeugsamples durch die Wolken und ist dabei so drüber, wie es das trommelnde Mastermind der Gruppe zu Lebzeiten der Legende zufolge die meiste Zeit des Tages und der Nacht auch selber gewesen sein soll.
Das überschaubare Werk von La Düsseldorf ist ein Hybrid aus klassischen Rockelementen und elektronischer Musik. Klangen Kraftwerk so synthetisch, wie es die Musikwelt bis dato noch nicht kannte, wirkten die albernen Stimmen hinter La Düsseldorf um so menschlicher: »Ba da bap bap, bada da bada da«.
Fast 40 Jahre später wirft der Rückblick auf Fehlfarben, Neu!, Kraftwerk, DAF, Der Plan, Rheingold und andere die Frage auf, was damals in Düsseldorf eigentlich los war. Da die Stadt im Vergleich zu anderen musikalischen Zentren der deutschen Kulturgeschichte eher provinziellen Charakter hat, überrascht es um so mehr, welch Schmelztiegel sie gewesen sein soll. Die Kunstakademie brachte Größen wie Sigmar Polke, die Oehlen-Brüder und Martin Kippenberger hervor, die sich abends im Ratinger Hof unter die jüngste Generation der Punks mischten und dort die ersten Deutschland-Konzerte von Wire und Pere Ubu sahen. Die jungen Schriftsteller verarbeiteten diese aufregende Zeit zu einer aufmüpfigen, selbstbewussten Literatur; so versammelte Peter Glasers Buch »Rawums« Anfang der achtziger Jahre neben Rainald Goetz und Diedrich Diederichsen auch viele Autoren aus dem Raum um Düsseldorf und fing einen Zeitgeist ein, der vom Willen zur Innovation und Distinktion geprägt war. Die Künstlerkneipe Ratinger Hof gilt als Treffpunkt einer subversiven Szene und Geburtsort der Neuen Welle.
Einer, der dabei war, ist Rüdiger Esch. Mit seiner Band Die Krupps war er mittendrin im Düsseldorf der kalten Klänge und Neonlichter, der Krautausläufer und Techno-Vorahnungen. Und damit die musikalische Geschichte, die natürlich vor allem die Geschichte der beteiligten Künstler ist, nicht vergessen wird, hat er sie aufgeschrieben. Nicht in seiner subjektiven Wahrnehmung der Ereignisse, sondern als Montage der Erinnerungen ihrer Protagonisten: Sein Buch »Electri_city« ist die oral history der Düsseldorfer Klangpioniere, die sich Anfang der Siebziger vom klassische Rocksetting lösten und sich der elektronischen Musik widmeten. Über 50 Interviews hat Esch geführt, thematisch montiert und so gegliedert, dass sie die Zeit von 1970 bis 1986 nacherzählen: multiperspektivisch, als Erinnerung der Musiker und ihrer internationalen Kollegen. Dabei geht es nicht um Heimat: »Das ist kein regionales Buch. Es ging vielmehr um die Außensicht: Wie man Düsseldorf aus England oder anderen deutschen Städten gesehen hat. Düsseldorf ist einfach die Kulisse für einen Teil der Musikgeschichte«, sagt Esch, dem man die Begeisterung für sein Thema im Gespräch anmerkt.
Die ersten Ansprechpartner waren für ihn Musiker und Produzenten aus Düsseldorf. Außerdem sprach er unter anderem mit Paul Humphrey von OMD, Daniel Miller (Mute Records), Giorgio Moroder, Colin Newman und Martyn Ware. Fast hätten erstmalig auch Ralf Hütter und Florian Schneider von Kraftwerk ihr Schweigen gebrochen, geklappt hat es letzlich nicht: »Ich habe die beiden nicht vermisst, ihr Schweigen gehört ja auch zum Mythos.« Dafür stand Ex-Kraftwerk-Roboter Wolfgang Flür zur Verfügung, er gibt tiefe Einblicke und verfasste auch das Vorwort zum Buch.
Neben seinen Interviewpartnern, die alle mit einer bisweilen freundlich-frechen Kurzbiographie vorgestellt werden, führt Esch im Anhang auch die Maschinen auf, die die elektronischen Klänge produzierten: Minimoog, Arp Odyssey, Roland System 100 und MC-4, der legendäre Korg MS-20 und nicht zuletzt die jüngst wiederauferstandene Roland TR-808. Die Maschinen werden im Buch wie Figuren vorgestellt; denn wie so oft in der Musikgeschichte war es auch das Aufkommen neuer Technologien, das für die vielen wegweisenden Innovationen sorgte. Die Erschwinglichkeit von Drumcomputern und Synthesizern begünstigte die Experimentierfreudigkeit einiger Autodidakten, die mit den neuen Technologien zu ihrem musikalischen Ausdruck fanden. Chrislo Haas etwa, dessen Weg von DAF über Minus Delta t hin zu Liaisons Dangereuses führte, wird so zitiert: »Richtig unter Kontrolle konnte man analoges Equipment gar nicht haben, das konnte man sich abschminken. Aber es war ja gerade der Reiz, dass die Dinger lebten. Wenn es mal klappte, wenn die Kisten im gleichen Takt vor sich hin tuckerten, war das wie drei Metronome, die sich trafen. Für einen kurzen Moment war alles im Timing, alles im Glück, ungehört bis dahin. Das war das Schönste, aber es passierte nur selten. Ich habe meinen Synthesizer wie eine große Liebe behandelt. Ich war denen komplett verfallen.«
Wie Klaus Dinger starb auch Chrislo Haas in den vergangenen zehn Jahren, nicht zuletzt aufgrund der Spätfolgen eines vom Rausch bestimmten Lebenswandels. All das wird schonungslos und ehrlich dargestellt, niemals aber pietätlos. Spätestens mit den Erinnerungen der verstorbenen Protagonisten der Düsseldorfer Szene gewinnt Eschs Arbeit einen musikhistorischen Wert, viele Zeugnisse der Klanggeschichte wären wohl vergessen worden. Die Erzählungen der Weggefährten von bereits früh verstorbenen Musikern wie Wolfgang Riechmann, der während der Arbeit an seinem musikalischen Debüt von zwei Betrunkenen erstochen wurde, denen er zur falschen Zeit über den Weg lief, sind eine Spurensuche im Underground. Über seine einzige, nach seinem Tod veröffentlichte und sehr zu empfehlende LP mit dem Titel »Wunderbar« sprechen Künstler und Weggefährten. Beinahe sehnsuchtsvoll fallen die Erzählungen über den Musikpionier und Krautrock-Produzenten Conny Plank aus. Die Aussagen des verstorbenen Musikers Klaus Dinger, Mitglied bei Kraftwerk, Neu! und La Düsseldorf, werden mit Zitaten aus Interviews mit Michael Rother, Mitglied bei Neu!, Kraftwerk und Harmonia, montiert; es entsteht ein fiktives Gespräch.
Dinger und Rother waren zerstritten, der Streit um dass Erbe von Neu! endete vor Gericht. Doch wenn Esch ihre Interviews ineinanderwebt, entsteht das spannende Bild einer explosiven Zusammenarbeit. Esch war es wichtig, den richtigen Ton zu treffen. »Ich wollte nicht, dass Leute in meinem Buch ihre schmutzige Wäsche waschen!« Kleine Seitenhiebe gibt es aber schon, diese jedoch machen das Buch gerade lebendig. Interessant ist, wie einig sich Rother und Dinger trotz ihrer Differenzen doch sind. Unabhängig voneinander unterstreichen sie, dass es richtig war, zu ignorieren, dass man privat nicht miteinander auskam, weil man das gemeinsame musikalische Potential ausschöpfen wollte. Weil es nicht um Freundschaft ging, sondern um Kunst. Im Buch entsteht ein fiktiver Dialog:
»Rother: Musikalisch waren Klaus und ich uns einig, obwohl wir schon damals charakterlich völlig unterschiedlich ausgerichtet waren und klar war, dass wir privat ganz sicher keine Freunde werden würden.
Dinger: Aber wir hatten etwas, das ziemlich einmalig war, ein blindes Verständnis untereinander, was das Musikalische anging.
Rother: Unterschiede sind mir schon immer wichtiger gewesen als die Gemeinsamkeiten mit anderen. Das geht aber vermutlich allen Künstlern so: Man definiert sich einfach lieber über die eigene Identität als über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.
Dinger: Wenn es jemandem gelang, uns irgendwo mal in einem Studio zu versammeln, konnten wahnsinnige Sachen einfach so passieren. Da arbeiten andere ihr Leben lang dran.«
Eine kurz vor Dingers Tod aufgenommene Fotografie von Anton Corbijn zeigt die Musiker, wie sie einander die Hände reichen und dabei mit Absicht aneinander vorbeigreifen. Durch die Musik scheinen sie jedoch miteinander versöhnt. Dinger ist längst ergraut, Rother kaum gealtert.
Dieses Foto hängt im Büro des kleinen Labels Grönland in Berlin-Mitte, das mittlerweile zu so etwas wie dem Archiv des Krautrock geworden ist: Hier rerschienen die umfangreiche Neu!-Box, eine Werkschau Conny Planks auf vier CDs, Czukay, Harmonia. Herbert Grönemeyers kleine Plattenfirma taucht ein in die Musikgeschichte, bringt Schätze hervor, macht Musik wieder zugänglich, die längst als verschollen galt. Für die Produktion des Samplers, der dem bei Suhrkamp erschienenen Buch beiliegt, wäre also kaum ein Label geeigneter gewesen. In Kooperation mit Esch entstand eine Sammlung von Klassikern der damaligen Zeit, etwa Rothers »Flammende Herzen«, »Hero« von Neu! und »Mussolini« von DAF. Allerdings wartet die Compilation auch mit einigen Überraschungen auf. »Säuren ätzen und zersetzen« von Teja Schmitz erschien bespielsweise lediglich als Single in kleiner Auflage. Schmitz, der als Friseur unter anderem für Kraftwerk arbeitete, trat musikalisch nie wieder in Erscheinung. »Da hat Grönland ein bisschen Detektivarbeit geleistet«, sagt Esch und erzählt, wie schwierig es war, Teja Schmitz zu kontaktieren, um die Zustimmung zur Wiederveröffentlichung einzuholen. Zunächst war der Mann unauffindbar. War er vor über 30 Jahren Teil einer technologischen Avantgarde, fand sich nun nicht mal eine E-Mail-Adresse, über die man ihm hätte schreiben könnte, niemand hatte seine Telefonnummer. Manchmal aber besuche er den Plattenladen »Slowboy« in Düsseldorf, hieß es. Dieser Hinweis führte schließlich zum Erfolg.
Sein Lied steht exemplarisch für die Zeit von 1970 bis 1986. Es rumpelt und eiert, nicht alles passt zusammen, die Maschinen offenbaren ihr Eigenleben. Irgendwo dazwischen sitzt ein Mensch, der begeistert auf Tasten drückt und an Reglern dreht. Durch die Wiederveröffentlichung auf dem Sampler erfährt das Stück eine späte Aufmerksamkeit, es wird für die Spurensucher der elektronischen Musik zugänglich und Teil der Undergroundgeschichte. »Electri_city« ist eine an der Form der amerikanischen Punk-Chronik »Please Kill Me!« geschulte oral history und eine Fortsetzung von Jürgen Teipls Buch »Verschwende deine Jugend« mit einem engeren Gegenstandsbeweis. In den besten Momenten liest sich »Electri_city« wie ein Roman. Auf den ersten Blick ist das Buch ein Zeugnis der Musikgeschichte und richtet sich an Menschen, die ein nahezu nerdiges Interesse an den technischen Details des emporkommenden Elek­troniksounds aus Düsseldorf haben. Auf den zweiten Blick bemerkt man: Es ist die Erzählung einer intensiven, einzigartigen Musik.

Rüdiger Esch: Electri_city. Elektronische Musik aus Düsseldorf. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 459 Seiten, 14,99 Euro