Paul Celans »Gespräch im Gebirg«

Ausdruck des Ausdruckslosen

Poetik und Geschichte in Paul Celans »Gespräch im Gebirg«.

Vor 55 Jahren, im Juli und August 1959, verfasste der Dichter Paul Celan eines seiner wenigen Prosawerke, die Erzählung »Gespräch im Gebirg«, die aus vielerlei Gründen heute eine Relektüre nahelegt. In »Gespräch im Gebirg« imaginiert Celan das Zusammentreffen der Figuren »Jud Groß« und »Jud Klein«, die sich als Fiktionalisierung einer versäumten Begegnung zwischen Celan und Theodor W. Adorno auffassen lässt. (1)
Die Vorgeschichte des Textes sei hier zunächst kurz skizziert (2): Im Juli 1959 fuhr Celan auf Einladung des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi nach Sils-Maria, an den Enstehungsort von Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, wo eine von Szondi arrangierte Begegnung zwischen Celan und Adorno stattfinden sollte. Das Treffen jedoch kam nicht zustande, da Celan eine Woche vor Adornos Eintreffen bereits wieder abreiste, um kurz darauf, nach Paris zurückgekehrt, das »Gespräch im Gebirg« zu verfassen.
Bis heute hat die Forschung nicht restlos klären können, ob Celan Sils-Maria absichtlich früher verließ, um Möglichkeit zur Niederschrift seines Textes zu haben, oder ob äußere Gründe ihn dazu zwangen. Ersteres jedoch ist zumindest wahrscheinlich, folgt man der Argumentation von Joachim Seng: »Die These, dass der Dichter Sils verließ, um dieses ›Gespräch im Gebirg‹ mit Adorno überhaupt führen zu können, ist (…) keineswegs abwegig. Die Erwähnung des Vorgangs in seiner Büchnerpreis-Rede, der Kontext, in dem er die Erinnerung daran einbettet, und die Art und Weise, wie er betont, dass es sich um eine ›versäumte Begegnung‹ handelt, die er zu Papier brachte, sprechen für sich und lassen diesen Schluss sehr wahrscheinlich erscheinen. (…) Nur im fiktiven Gespräch mit dem Anderen konnte die Begegnung vor dem ersten Zusammentreffen stattfinden.« (3)
Das erste Zusammentreffen wiederum fand dann etwas später, in Frankfurt, statt, vom 12. bis zum 14. Mai 1960, woraufhin Celan seinem ersten Brief an Adorno am 23. Mai 1960 seine »kleine, zu ihnen nach Sils hinaufäugende Prosa« beilegte und brieflich eine Bemerkung anfügte, die bereits einige der Intentionen Celans deutlich werden lässt, der hoffte, in Adorno einen Dialogpartner angesichts des in Deutschland grassierenden Antisemitismus gefunden zu haben: »Es ist – assumons donc ce que l’on nous prête! – etwas durchaus Krummnasiges … an dem das Dritte (und wohl auch das Stumme) vielleicht wieder gerade werden kann. Ob es sonst noch etwas ist? Erworbener und zu erwerbender Atavismus vielleicht, auf dem Weg über die Involution erhoffte Entfaltung … « (4)

Das Gespräch im Gebirg

Die etwas kryptisch anmutende Bemerkung Celans in dem Brief an Adorno, dass in seinem Text »das Stumme vielleicht wieder gerade werden kann« zeigt an, dass Celan sich im »Gespräch im Gebirg« mit dem Problem des Versagens der Sprache angesichts des Massenmords an den europäischen Juden wie auch des notwendigen Verstummens der Kunst im Besonderen im Medium der Literatur auseinandersetzte.
In diesem Zusammenhang ist eine Passage aus Adornos »Ästhetischer Theorie« aufschlussreich, in der im Rekurs auf Celans Lyrik ein Aspekt an dessen dichterischem Werk betont wird, der für das »Gespräch im Gebirg« ebenso wie für die Gedichte Celans, insbesondere die späten, gilt. Dort heißt es von Celans lyrischem Werk, es sei »durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids«. Es wolle »das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen«. (5)
Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern gerade diese Bestimmung auch auf das »Gespräch im Gebirg« zutrifft. Der Text hebt mit folgenden Worten an, die »Jud Klein« vorstellen: »Eines Abends, die Sonne, und nicht nur sie, war untergegangen, da ging, trat aus seinem Häusel und ging der Jud, der Jud und Sohn eines Juden, und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche (…), ging und kam, (…) ging eines Abends, da einiges untergegangen war, ging unterm Gewölk, ging im Schatten, dem eignen und dem fremden – denn der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt wär, ausgeliehen und nicht zurückgegeben –, da ging er also und kam, kam (…) den man hatte wohnen lassen unten, wo er hingehört, in den Niederungen, er, der Jud, kam und kam.« (6)
Hier ist zweierlei entscheidend: Zum einen, dass »die Sonne, und nicht nur sie (…), untergegangen« war, es war, wie kurz darauf gleich ein zweites Mal betont wird, »einiges (Hervorhebung J. B.) untergegangen«. Dabei handelt es sich, wie unschwer zu erkennen ist, um einen impliziten Hinweis auf die Shoah, »untergegangen« ist das jüdische Volk in der barbarischen Vernichtungswut des Antisemitismus. Was sich in diesem impliziten Verweis artikuliert, ist exakt das, was Adorno in der »Ästhetischen Theorie« als »Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids« beschreibt: Das »äußerste Entsetzen (wird) durch Verschweigen« gesagt.
Zum anderen wird bereits an dieser kurzen Passage ein Zweites ersichtlich: die, in den Worten von Markus May, »zentrale Problematik der ›entfremdeten‹ jüdischen Existenz – entfremdet von Natur, von Sprache, vom Selbst – und ihrer historischen Situation nach der Shoah«, welche »gewissermaßen den Kulminationspunkt der von außen bedingten, durch den Antisemitismus erzwungenen Entfremdung markiert (…) (und) bereits im ersten Absatz an(klingt), wenn der ›Name‹ wie der ›Schatten‹ quasi vom Juden dissoziiert werden«. (7)
Diese, wie May es verharmlosend nennt, »von außen bedingte, durch den Antisemitismus erzwungene Entfremdung«, mündet im »Gespräch im Gebirg« in ein gleichsam mimetisches Sich-Anschmiegen an die falsche Sprache, die Sprache der Antisemiten, um deren Judenhass als Manifestation des Wahns, der er ist, zu offenbaren. Vom Erzähler werden antisemitische Klischees verwandt (»der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt wär, ausgeliehen und nicht zurückgegeben«; »den man hatte wohnen lassen unten, wo er hingehört, in den Niederungen, er, der Jud«), um derart die Sprachlosigkeit vielleicht durchbrechen zu können.
Die Sprachlosigkeit zumindest der Protagonisten der Erzählung allerdings kann nicht ohne weiteres durchbrochen werden, wie sich im Folgenden zeigt, denn als »Jud Groß« ihm, dem »Jud Klein«, begegnet, bleibt zunächst beiden nur das Schweigen: »Es war still im Gebirg, wo sie gingen, dieser und jener.« (8) Dieses Schweigen hängt, wie im weiteren Fortgang des Textes deutlich wird, zusammen mit einer spezifischen Wahrnehmungsweise der als »Geschwisterkinder« apostrophierten »Jud Klein« und »Jud Groß«: »(…) sie, die Geschwisterkinder, haben, Gott sei’s geklagt, keine Augen. Genauer: sie haben, auch sie, Augen, aber da hängt ein Schleier davor, nicht davor, nein dahinter; ein beweglicher Schleier; kaum tritt ein Bild ein, so bleibts hängen im Geweb, und schon ist ein Faden zur Stelle, der sich da spinnt, sich herumspinnt ums Bild, ein Schleierfaden; spinnt sich ums Bild herum und zeugt ein Kind mit ihm, halb Bild und halb Schleier.« (9)
Diese Passage lässt sich mit Markus May verstehen als »Thematisierung des Zusammenhangs von jüdischer Leiderfahrung und spezifischer Wahrnehmung«, es »wird der vorausgehenden antisemitisch konnotierten Begründung jüdischer Naturentfremdung hier eine Antwort erteilt, die durch die historische Erfahrung der Shoah als Erfahrung des ›Schleiers‹ gedeckt ist«. (10)
Die »Erfahrung des ›Schleiers‹« ist es wohl, die beide, »Jud Groß« und »Jud Klein«, zur Sprachlosigkeit verurteilt, obgleich sie, und auch hier wird in den Erzähltext ein antisemitisches Stereotyp eingelassen, ironischerweise vom Erzähler als »Geschwätzige« apostrophiert werden:

»Die Geschwätzigen! Haben sich, auch jetzt, da die Zunge blöd gegen die Zähne stößt und die Lippe sich nicht ründet, etwas zu sagen! Gut, laß sie reden …
›Bist gekommen von weit, bist gekommen hierher …‹
Bin ich. Bin ich gekommen wie du.«
›Weiß ich.‹
›Weißt du. Weißt du und siehst: Es hat sich die Erde gefaltet einmal und zweimal und dreimal, und hat sich aufgetan in der Mitte, und in der Mitte steht ein Wasser, und das Wasser ist grün, und das Grüne ist weiß, und das Weiße kommt von noch weiter oben, kommt von den Gletschern, man könnte, aber man solls nicht, sagen, das ist die Sprache, die hier gilt, eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich – denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht und nicht für mich –, eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das.‹«

Offenbar wird hier, dass die Sprache, die in dem Gebirge gilt, in dem die Protagonisten sich befinden, eine durchaus andere Sprache ist als die, die »Jud Groß« und »Jud Klein« sprechen. Es ist eine Sprache zwar von »lauter Er, lauter Es (…) lauter Sie«, aber eine »ohne Ich und ohne Du«. Das lässt sich als Anspielung auf die Dialogphilosophie Martin Bubers verstehen, mit der sich Paul Celan ausführlich beschäftigt hat. Die Sprache, die gilt und offenkundig jedes dialogische Sprechen verunmöglicht, fungiert gleichsam als Gegenbild zur dialogischen Sprache Martin Bubers. (11)
Thematisch wird die Frage nach der Ansprechbarkeit eines Du, das für »Jud Klein« nötig ist, wenn er nicht vollends die Sprache verlieren will, denn, so lesen wir in dem Dialog zwischen dem »Jud Klein« und dem »Jud Groß« weiter:

»(…) bist gekommen trotzdem, bist trotzdem gekommen hierher warum und wozu?«
»Warum und wozu … weil ich hab reden müssen vielleicht, zu mir oder zu dir, reden hab müssen mit dem Mund und mit der Zunge und nicht nur mit dem Stock. Denn zu wem redet er der Stock? Er redet zum Stein, und der Stein – zu wem redet der?«
»Zu wem, Geschwisterkind, soll er reden? Er redet nicht, er spricht, und wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spri-cht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund und nicht seine Zunge, sagt er und nur er: Hörst du?« (12)

Hier zeigt sich, dass für Celan ein bedeutsamer Unterschied zwischen »Reden« und »Sprechen« besteht. Die »Geschwisterkinder« sind zwar noch in der Lage, zu »reden«, nicht jedoch zu »sprechen«, dies ist allein dem Stein (der in der jüdischen Tradition des Totengedenkens eine wichtige Rolle spielt) noch möglich, der allerdings hier in einem doppelten Sinne zu »niemand« spricht, einmal in dem Sinne, dass niemand, keiner der Menschen mehr ihn zu hören vermag, zum anderen, dass er lediglich zu »Niemand« im Sinne eines deus absconditus zu sprechen vermag, wie er in dem Gedicht »Psalm« aus Celans Lyrikband »Die Niemandsrose« zur Darstellung kommt. Dessen erste zwei Strophen lauten:

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen. (13)

Insgesamt artikuliert sich im Dialog des »Jud Klein« und des »Jud Groß« auch in den folgenden Passagen bis zum Ende des Texts eine tiefe Unsicherheit gegenüber der Möglichkeit der Sprache, das, was gesagt werden müsste, auch auszudrücken. Auch der Schlussmonolog des »Jud Klein«, der mit den Worten »ich, der ich dir sagen kann« anhebt, scheint nicht unbedingt eine, wie May schreibt, »wahrhafte Ich-Du-Relation als Modell eines kreatürlichen dialogischen Sprechens (…) im Gegensatz zur Sprache des Gebirges und zu der des Steins (zu) etablieren« (14), denn, so die Worte von »Jud Klein« später, zum Ende des »Gesprächs im Gebirg«: »ich hier, ich; ich, der ich dir all das sagen kann, sagen hätt können; der ich dirs nicht sag und nicht gesagt hab; (…) ich mit dem Tag, ich mit den Tagen, ich hier und ich dort, ich, begleitet vielleicht – jetzt! – von der Liebe der Nichtgeliebten, ich auf dem Weg hier zu mir, oben.« (15)
Hier macht sich eine tiefgreifende Verunsicherung des »Jud Klein« angesichts der Frage deutlich, ob der Dialog zwischen ihm und »Jud Groß«, den er sich doch – sich von der Sprache, die im Gebirg gilt, die des »lauter Er, lauter Sie, lauter Es«, abgrenzend – erhofft hat, überhaupt geglückt ist: Einerseits erscheint es ihm zwar möglich, »all das (zu) sagen«, was zu sagen gewesen wäre, andererseits heißt es: »der ich dirs nicht sag und nicht gesagt hab«. Die Möglichkeit scheint wohl verpasst worden zu sein, weshalb nur die Ungewissheit des »Jud Klein« bleibt, ob er sich von »der Liebe der Nichtgeliebten«, anders ausgedrückt der Solidarität der anderen als Juden Verfolgten mit ihm, angesichts des fortlebenden Antisemitismus, begleitet fühlen darf.
In den Schlussworten des »Gesprächs im Gebirg« kann man darum vermutlich wie May eine »Selbstzuschreibung C(elan)s seine(r) Sicht auf die eigene ›conditio judaica‹ nach der Shoah« (16) erkennen, ohne deshalb den »Jud Klein« der Erzählung kurzschlüssig mit Celan selbst zu identifizieren.

Ästhetische Korrespondenzen

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass vor allem ein Aspekt im »Gespräch im Gebirg« ins Auge fällt, und zwar das Problem des Nicht-Hinreichens der alltäglichen wie der literarischen Sprache in Anbetracht dessen, dass, wie Adorno es in dem späten Text »Marginalien zu Theorie und Praxis »formuliert, der Rückfall in die Barbarei bereits stattgefunden hat.
Adorno schreibt dort: »Marx hat in dem berühmten Brief an Kugelmann vor dem drohenden Rückfall in die Barbarei gewarnt, der damals schon absehbar gewesen sein muss. Nichts hätte besser die Wahlverwandtschaft von Konservativismus und Revolution ausdrücken können. Diese erschien bereits Marx als ultimo ratio, um den von ihm prognostizierten Zusammenbruch abzuwenden. Aber die Angst, die Marx nicht zuletzt wird bewogen haben, ist überholt. Der Rückfall hat stattgefunden.« (17)
Fraglos ist die dem Celanschen Prosastück impliziten Reflexion über die Möglichkeiten der künstlerischen Sprache nicht zu trennen von Celans Rezeption der als Verdikt über Lyrik nach Auschwitz auch von Celan zu Beginn der Debatte missverstandenen Worte Adornos aus dessen 1949 verfasstem und 1951 erstmals veröffentlichtem Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft«: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« (18)
Celans gesamtes Werk muss als Versuch gelesen werden, die Möglichkeit von Kunst auch nach Auschwitz zu erweisen, er nahm jedoch Adornos Diktum durchaus so ernst, wie es gemeint war, was sich unter anderem in drastischen Veränderungen der Sprachform von Celans Gedichten niederschlug. (19)
In den Worten Adornos: »Sie (Celans Gedichte) ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nach, die des Toten von Stein und Stern. Beseitigt werden die letzten Rudimente des Organischen; zu sich selbst kommt, was Benjamin an Baudelaire damit bezeichnete, dass dessen Lyrik eine ohne Aura sei. Die unendliche Diskretion, mit der Celan verfährt, wächst seiner Kraft zu. Die Sprache des Leblosen wird zum letzten Trost über die jeglichen Sinnes verlustig gewordenen Tod.« (20)
Die Hilflosigkeit der Sprache der Menschen, von der Adorno im Zusammenhang mit Celans Lyrik schreibt, lässt sich auch bei der Lektüre von Celans »Gespräch im Gebirg« konstatieren. Am Ende des Textes, im Schlussmonolog des »Jud Klein«, heißt es: »ich hier, ich; ich, der ich dir all das sagen kann, sagen hätt können; der ich dirs nicht sag und nicht gesagt hab.« Wir haben es bei »Jud Klein« offenkundig mit einem Ich zu tun, das bereits im Zerfall begriffen ist und sich seines Ichs durch mehrmalige Wiederholung des Worts »Ich« immer wieder versichern muss; weder seines Ichs noch des gelungenen Dialogs mit seinem Gegenüber scheint es sich sicher sein zu können, obgleich beide, »Jud Klein« und »Jud Groß«, doch zumindest eine andere Sprache sprechen als die, die im Gebirg gilt, die als falsch erkannte Sprache von »lauter Er, lauter Es (…) und lauter Sie, und nichts als das«. (21)
In diesen Momenten, in denen sich in der Sprachform des »Gesprächs im Gebirg« etwas wie ein Schwindelgefühl des Ichs artikuliert, kommen diese wohl dem am nächsten, was Adorno in seinen Aufzeichnungen zu Celan in der »Ästhetischen Theorie« als Aufgabe von Kunst im Allgemeinen wie Dichtung im Besonderen formulierte: »Künstlerisch sind die Menschen allein noch zu erreichen durch den Schock, der dem einen Schlag erteilt, was die pseudowissenschaftliche Ideologie Kommunikation nennt; Kunst ihrerseits ist integer einzig, wo sie bei der Kommunikation nicht mitspielt.« (22)
Genau jenes Nicht-Mitspielen bei der Kommunikation ist es, das Celans Prosatext ausmacht, und zwar auf mehrerlei Art und Weise: Einerseits, indem der Text das Misslingen von Kommunikation selbst zwischen »Jud Klein« und »Jud Groß«, den gleichsam gegen die Welt des Gebirgs und ihre falsche Sprache Verschworenen, zur Darstellung bringt. Zum anderen durch die von Celan als ein »zu erwerbender Atavismus« apostrophierte »Verjudung« der Sprache, durch das, was Celan als das »etwas durchaus Krummnasige« am »Gespräch im Gebirg« in seinem ersten Brief an Adorno bezeichnete. (23) Überdies kann die Lektüre des Textes beim Leser jenes schockhafte Moment, das Adorno von avancierter Kunst fordert, durch Thematisierung der widersprüchlichen Erfahrung der den Nazis entronnenen Juden erreichen, etwa im Schlussmonolog des »Jud Klein«: »Aber ich, Geschwisterkind, ich, der ich da steh, auf dieser Straße hier, auf die ich nicht hingehör, heute, jetzt, da sie untergegangen ist«. (24)

Gedächtnis des Leidens

Im Folgenden sei auf einige Aspekte der ­Ador- noschen Ästhetik hingewiesen, die von Rolf Tiedemann im vierten Kapitel seiner Studie »Mythos und Utopie« benannt werden, das den Titel »Kunst oder Eingedenken des Möglichen« trägt. So soll verdeutlicht werden, inwiefern es sich beim »Gespräch im Gebirg« um ein Kunstwerk handelt, in dem, wenngleich negativ, das der Kunst konstitutive »Eingedenken das Möglichen« bewahrt bleibt.
Tiedemann rekonstruiert in diesem Text das zentrale Problem, vor das Adorno sich in seinen Reflexionen über Ästhetik nach Auschwitz gestellt sah, und zwar, dass »Kunst, deren Existenzrecht angesichts der akkumulierten gesellschaftlichen Not fragwürdig wurde, gerechtfertigt, ja gefordert (ist) als Gedächtnis des Leidens. Leiden, als ein bloß Daseiendes mit Stummheit geschlagen, bedarf der Kunst, wenn anders es überhaupt Ausdruck finden, ins Bewusstsein aufgenommen werden soll. In den Werken der Kunst wird der gesellschaftliche Bann, der alles Bewusstsein, nicht zuletzt die Praxis gefesselt hält, Erscheinung (…). Indem die Kunstwerke der wortlosen Not zu Wort und Bild verhelfen, werden sie zu Stellvertretern eines Lebens ohne Not, das die Gesellschaft real nicht kennt.« (25)
Genau jenem Moment, das von Tiedemann als für Adornos Ästhetik konstitutiv benannt wird, dass in »den Werken der Kunst (…) der gesellschaftliche Bann (…) Erscheinung« wird, verschafft Celan im »Gespräch im Gebirg« Ausdruck, indem er den Bann, dem auch die Sprache in einer kollektiv unterm Bann stehenden Gesellschaft ausgesetzt ist, am Zwiegespräch zwischen »Jud Klein« und »Jud Groß« und dessen letztlichem Misslingen darstellt. Obgleich der Dialog zwischen den beiden misslingt, bleibt die Hoffnung auf ein ansprechbares Du, ein für die Poetik Celans zentrales Moment (26), bewahrt, denn am Ende des Textes bleibt es offen, ob das Ich, der hier sprechende »Jud Klein«, »von der Liebe der Nichtgeliebten« begleitet wird.
Die Hoffnung ist zwar eine äußerst schwache, jedoch: »sie existiert: (…) ich mit dem Tag, ich mit den Tagen, ich hier und ich dort, ich begleitet vielleicht – jetzt! – von der Liebe der Nichtgeliebten, ich auf dem Weg hier zu mir, oben.« (27) Im »Gespräch im Gebirg« gelingt es Celan, und hier zeigt sich die Nähe zur Ästhetik Adornos, noch der Unfähigkeit zum Ausdruck, dem Verstummen, der Sprachlosigkeit ihrerseits Ausdruck zu verschaffen und dergestalt dem »Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, (…) (der) Bedingung aller Wahrheit«, (28) Rechnung zu tragen.
Bedingung dafür jedoch, dass Leiden im Medium der Kunst beredt werden kann, ist, dass die Kunstwerke selbst wiederum dazu fähig sind, beredt werden. Aber »Kunstwerke (werden) beredt (…) erst, wenn sie von der signifikativen Sprache sich gelöst haben und der Konfiguration von Bildern sich anvertrauen, (dies) macht die ästhetische Transzendenz aus. Ihr fährt jedoch, mindestens seit Baudelaire, die Entzauberung in die Parade.« (29) Konsequenz aus dieser Entzauberung ist, dass Adorno, wie Tiedemann ausführt, es für möglich hielt, dass »aller Ausdruck, nächstverwandt dem Transzendierenden, so dicht am Verstummen (sei), wie in großer neuer Musik nichts so viel Ausdruck habe wie das Verlöschende«. (30)
Dieses Sich-Bewegen am Rande des Verstummens, das Adornos Interesse insbesondere an den Werken Samuel Becketts weckte, artikuliert sich auch im »Gespräch im Gebirg«, wenngleich, und hierin liegt eine Differenz Celans zu Beckett, zumindest in diesem Text keine Rede von einem, wie Tiedemann schreibt, »Weg übers Verstummen ins Schweigen (als) (…) ein objektiv durch und durch determinierter« (31) sein kann, vielmehr wird in Celans Erzählung der umgekehrte Weg beschritten. (32)
Nichtsdestoweniger schreit auch sie den »gleichen lautlosen Schrei« (Tiedemann) wie die Werke Becketts. Auch sie ist das »Andere« zu der »bis ins Innerste falschen Welt (…), aber zugleich, wie Adornos Deutung lautet, die Negation dieser Welt. Allein in solcher Negation hat er dann doch etwas aufgehen sehen, was ihm wie Hoffnung aussah; nicht zwar eine Hoffnung, die als ›Prinzip‹ das Handeln leiten könnte, sondern die des Psalmisten aufs non confundar, die auch der negative Dialektiker nicht aufgeben mochte.« (33) Die Hoffnung des Psalmisten aufs non confundar in aeternum, aufs »nicht zuschanden möge ich werden in Ewigkeit«, war es wohl, die auch Celan zur Fortführung seiner künstlerischen Praxis notwendige, wie auch immer vage, kein »Prinzip« abgebende Hoffnung auf eine ansprechbare Wirklichkeit vorerst bewahrte, denn, so formulierte er in der Büchnerpreis-Rede »Der Meridian«: »Die Dichtung, meine Damen und Herren –: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!« (34)
Es sollte deutlich geworden sein, dass Adornos und Celans Überlegungen zu Kunst und Ästhetik nach Auschwitz eine große Nähe zueinander aufweisen, was sich nicht zuletzt an dem »Gespräch im Gebirg« zeigen lässt, das von dieser Nähe ebenso wie der schmale, in den Adorno-Blättern VIII erschienene Briefwechsel zwischen Adorno und Celan zeugt.
Für beide war die Kunst selbst noch im postnationalsozialistischen Zeitalter, in dem ihre Existenz zutiefst fragwürdig wird, Statthalter eines besseren Lebens, dessen Verwirklichung aussteht. Solang die »wortlose Not« (Tiedemann) andauert, muss die Kunst ihr zum Ausdruck verhelfen, und sei es auch, indem sie zum Ausdruck bringt, dass Ausdruck in dem Sinne, wie er als Kategorie der Adornoschen Ästhetik bedeutsam ist, fast unmöglich geworden zu sein scheint.
Beide verteidigten paradox den schönen Schein der Kunst, dessen Versprechen so lange unabgegolten bleibt, bis die »bis ins Innere falsche Welt« endlich einmal der Vergangenheit angehören wird. Oder, in den Worten Celans aus dessen frühen Prosatext »Gegenlicht«: »Man redet umsonst von Gerechtigkeit, solange das größte der Schlachtschiffe nicht an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt ist.« (35)

Anmerkungen

(1) Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie, Frankfurt/Main 1976, S. 134 f.
(2) Zur Entstehungsgeschichte vgl. die ausführliche Darstellung von Markus May: Gespräch im Gebirg, in: Celan-Handbuch, Stuttgart, Weimar 2008, S. 144 f.
(3) Joachim Seng: »Die wahre Flaschenpost«. Zur Beziehung von Theodor W. Adorno und Paul Celan, in: Frankfurter Adorno-Blätter VIII., hg. v. Rolf Tiedemann, Göttingen 2003, S. 157
(4) Theodor W. Adorno/Paul Celan: Briefwechsel 1960–1968. Hg. v. Joachim Seng, In: Frankfurter Adorno-Blätter VIII, S. 177 ff., hier S. 179
(5) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/ Main 2003, S. 477
(6) Paul Celan: Gespräch im Gebirg, in: Ders.: Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt/Main 1988, S. 23–29, hier S. 23
(7) Markus May, Gespräch im Gebirg, a. a. O., S. 146
(8) Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 24
(9) Ebd.
(10) Markus May, Gespräch im Gebirg, a. a. O., S. 147
(11) Ebd.
(12) Paul Celan, a. a. O., S. 26
(13) Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 2003, S. 132
(14) Markus May, Gespräch im Gebirg, a. a. O., S. 147
(15) Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 28 f.
(16) Markus May, Gespräch im Gebirg, a. a. O., S. 148
(17) Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt/Main 1977, S. 759 ff., hier S. 769
(18) Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, a. a. O., S. 30
(19) Dies ließe sich eindrücklich zeigen an den drastischen Veränderungen der Sprachgestalt der Gedichte, die vom dritten Gedichtband Celans, »Von Schwelle zu Schwelle« zu seinem vierten, »Sprachgitter«, stattfinden.
(20) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 477
(21) Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 25
(22) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 475
(23) Das »Krummnasige« galt Celan, der vielfach Inversionen eigentlich antisemitischer Termini vornimmt, als etwas Positives, so heißt es etwa in einer Widmung des »Gesprächs im Gebirg« an Peter Szondi: »Für Peter Szondi, herzlich und krummnasig, krummnasig und herzlich Paul Celan/Im September 1960«, vgl. Theodor W. Adorno/Paul Celan, Briefwechsel 1960 – 1968, a. a. O., S. 180
(24) Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 26 f.
(25) Rolf Tiedemann, Mythos und Utopie. Aspekte der Adornoschen Philosophie, München 2009, S. 119
(26) Dass das Moment des Dialogischen der Dichtung, verstanden als eine wie auch immer vage Hoffnung des Dichters auf eine ansprechbare Wirklichkeit, für die Celansche Poetik ein wichtiger Topos ist, ließe sich insbesondere an der Meridian-Rede vom Oktober 1960 ausführlich darlegen. Es sei exemplarisch auf eine Stelle aus der Meridian-Rede verweisen: »Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache. Aber ich denke – und dieser Gedanke kann sie jetzt kaum überraschen –, ich denke, da es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder – nein, dieses Wort kann ich jetzt nicht mehr gebrauchen –, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache. Dieses »wer weiß«, zu dem ich mich jetzt gelangen sehe, ist das einzige, was ich den alten Hoffnungen von mir aus auch heute und hier hinzuzufügen vermag.« Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 53.
(27) Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 29
(28) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/Main 2003, S. 29
(29) Rolf Tiedemann, Mythos und Utopie, a. a. O., S. 146
(30) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 123
(31) Rolf Tiedemann, Mythos und Utopie, a. a. O., S. 148
(32) Was die Veränderungen in der Sprachgestalt der Celanschen Gedichte von »Sprachgitter« bis zu den aus dem Nachlass erschienenen Gedichtbänden »Schneepart« (1971) und »Zeitgehöft« (1976) anbetrifft, ließe sich womöglich von einem »Weg übers Verstummen ins Schweigen« sprechen, auf diesen Zusammenhang soll jedoch an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
(33) Rolf Tiedemann, Mythos und Utopie, a. a. O., S. 149
(34) Paul Celan, Der Meridian, a. a. O., S. 59
(35) Ebd., S. 17