Die neue Form des Terrors gegen israelische Zivilisten

Die Blutspur der »einsamen Wölfe«

Palästinensische Einzeltäter schlagen überraschend zu und ermorden auf brutalste Weise wahllos Passanten, Soldaten oder Betende. Angesichts dieser neuen Dimension des Terrors stehen die Sicherheitsdienste Israels vor schier unlösbaren Problemen.

»Keine 200 Meter von hier ist es passiert«, erklärt Dekel Maayan und zeigt von der Dachterrasse seiner Wohnung in Schchunat Hatikwa im Süden Tel Avivs in Richtung des nahe gelegenen Hagana-Bahnhofs. Der 25jährige Student hatte sich am Morgen des 10. November über die vielen Polizei- und Krankenwagensirenen in seiner Umgebung gewundert, dann erfuhr er es aus den Nachrichten: Ein junger Araber aus Nablus hatte den 20jährigen Soldaten Almog Schiloni überraschend mit einem Messer angegriffen, tödlich verletzt und anschließend versucht zu fliehen. Bereits wenige Stunden nach der Bluttat in Tel Aviv ereignete sich die zweite Attacke, diesmal am Eingang von Alon Schewut, einer israelischen Siedlung südwestlich von Jerusalem. Das Opfer: die 26jährige Dalia Lamkus. Ihr Mörder kam plötzlich aus seinem Auto gesprungen und stach ebenfalls mit einem Messer wahllos auf die wartenden Menschen an einer Bushaltestelle ein. »Gegen diese Art von Terror gibt es keinen Schutz, es sei denn, man geht überhaupt nicht mehr aus dem Haus«, glaubt Dekel Maayan. »Während der zweiten Intifada haben mir meine Eltern eingebläut, öffentliche Verkehrsmittel oder belebte Plätze zu meiden. Auf diese Weise glaubten wir alle, vor den Selbstmordattentätern einigermaßen sicher zu sein. Diese Strategie funktioniert jetzt leider nicht mehr.«

Eine funktionierende Strategie fehlt auch den Sicherheitsdiensten in Israel im Umgang mit dieser neuen Dimension der Gewalt. Bereits im Oktober verübten Einzeltäter blutige Anschläge, indem sie mit ihren Autos in Gruppen von Wartenden an Straßenbahnhaltestellen rasten und dabei versuchten, so viele Menschen wie möglich zu töten. Am 18. November überfielen zwei Araber mit Fleischerbeilen und Pistolen bewaffnet unter »Allahu Akbar!«-Rufen die Kehilat-Yaakov-Synagoge in Har Nof im Westen Jerusalems und verübten ein Massaker, das in seiner Brutalität offenbar von den Exekutionsvideos der Jihadisten des »Islamischen Staats« in Syrien und im Irak beeinflusst worden war. Sie ermordeten dabei vier Rabbiner sowie einen drusischen Polizisten, der diesen zu Hilfe geeilt war. »Die Täter sind Individuen, die sich dazu entschlossen hatten, schreckliche Gewalttaten zu verüben«, kommentierte unmittelbar nach dem Massaker Yohanan Danino, Chef der israelischen Polizei, die Ereignisse und beschrieb damit indirekt das Kernproblem dieser Anschläge. Denn anders als in den beiden vorangegangen Intifadas existiert diesmal keine klar erkennbare Infrastruktur und keine Kommando­ebene in Nablus oder Hebron, die potentielle Kandidaten ideologisch und logistisch auf ihren suizidalen Terrortrip vorbereitet und sie dann nach Tel Aviv, Netanya oder Jerusalem schickt. Die Attentäter der neuen Generation agieren auf eigene Faust, oftmals spontan. Genau das macht sie so gefährlich, weil weder Nachrichtendienste noch Polizei diese »einsamen Wölfe«, wie sie im Jargon der Terrorexperten genannt werden, ausfindig machen können. Ein bestimmtes Ereignis radikalisiert von heute auf morgen palästinensische Männer – Frauen sind bis dato noch nicht als Täter in Erscheinung getreten – und lässt sie eigenmächtig morden.
Im Fall des jüngsten Anschlags in der Synagoge handelte es sich um zwei Cousins aus dem Ostteil Jerusalems, die ihre Tat offensichtlich als Racheakt für den Tod eines arabischen Busfahrers verübten, der am 16. November erhängt in seinem Fahrzeug aufgefunden worden war. »Alle forensischen Untersuchungen haben ergeben, dass es sich bei dem Tod von Yusuf Hassan al-Ramouni eindeutig um Suizid handelt«, erklärte einen Tag später Polizeisprecher Micky Rosenfeld. »Ein Fremdverschulden ist ausgeschlossen.« Doch Ramounis Familie wollte nicht an Selbstmord glauben, innerhalb kürzester Zeit verbreiteten sich Gerüchte, der Busfahrer sei von jüdischen Siedlern gelyncht worden und die Offiziellen würden den Mord nur vertuschen. Ohnehin war die Stimmung aufgrund der Spannungen rund um den Tempelberg bereits seit Wochen äußerst gespannt und die palästinensische Führung in Ramallah tat das ihre, indem sie die Version der Familie Ramouni teilte. Ihr Zielobjekt kannten die beiden Cousins bestens, einer von ihnen arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft um die Ecke und wusste, wann genau sich die meisten Menschen in der Synagoge aufhalten würden. Auch das unterscheidet sie von den Selbstmordattentätern der zweiten Intifada, die zumeist aus den Städten und Dörfern des Westjordanlandes kamen. Die »einsamen Wölfe« stammen aus Jerusalems arabischen Vierteln, sind jung und besitzen im Regelfall einen israelischen Personalausweis, der ihnen Bewegungsfreiheit erlaubt.
»Das Massaker in Jerusalem hat aber eine weitere Dimension«, ergänzt Tal Rubin. »Anders als in Europa, wo mittlerweile jede jüdische Einrichtung rund um die Uhr unter Polizeibewachung steht, gibt es in Israel kaum eine Synagoge, die Sicherheitskontrollen durchführt«, sagt der Mitarbeiter des städtischen Objektschutzes von Ashdod. Dabei steht in Israel vor jedem Einkaufszentrum und jeder Schule Wachpersonal und untersucht alle Hineingehenden. »Aber Kontrollen vor Synagogen empfanden alle immer irgendwie als irritierend, so dass sich diese selbst zu Zeiten der brutalsten Anschlagserien auf Zivilisten in Israel nie wirklich durchsetzen konnten.« Zudem existieren im jüdischen Staat mehrere tausend Synagogen, Religionsschulen und Gebetsräume, sie alle auch noch zu schützen käme einer Herkules-aufgabe gleich, die kaum finanzierbar ist.
Viele Israelis sind derzeit stärker als sonst verunsichert. Zwar geht das öffentliche Leben in Tel Aviv wie gewohnt seinen Gang, wenn auch unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen. Vor dem wie immer belebten Dizingoff-Center stehen an jeder Ecke Wachleute mit der MG im Anschlag. Aber in der Hauptstadt Jerusalem ist die Stimmung angespannt. Wer kann, macht um den Mahane-Yehuda-Markt einen Bogen.

Ob man nun bereits von einer »dritten Intifada«, einer »Auto-Intifada« oder einer »Intifada der Einzelnen« sprechen will oder nicht, Tatsache ist, dass alle mit der derzeitigen Welle der Gewalt und dem Phänomen der »einsamen Wölfe« völlig überfordert sind und noch über keine überzeugenden Konzepte zu ihrer Abwehr verfügen. Über Jahrzehnte hinweg hatte Israels Inlandsgeheimdienst Shin Bet Methoden entwickelt und bis zur Perfektion gebracht, wie sich eine terroristische Infrastruktur infiltrieren und zerstören lässt. Diese Expertise hilft derzeit nicht viel weiter. Zwar melden sich die üblichen Verdächtigen gerne zu Wort und erklären, wie die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PLFP) unmittelbar nach dem Massaker in der Synagoge in Jerusalem, voller Stolz, dass es ihre Leute waren, die diese Tat verübt hatten. Doch zu behaupten, man hätte die Order dazu gegeben oder gar logistische Unterstützung geleistet, so weit ging die PFLP dann auch nicht, weil es nicht stimmte. Hamas und Islamischer Jihad preisen ebenfalls die Attacken und rufen alle Palästinenser auf, weitere Morde zu verüben. Damit heizen sie die Stimmung propagandistisch zwar weiter auf, mehr aber auch nicht, denn die »einsamen Wölfe« handeln auf eigene Faust und Rechnung.
Entsprechend fallen die israelischen Reaktionen auf die neue Form des Terrors reichlich aktionistisch aus. »Ein Terrorist, der Zivilisten attackiert, verdient es, sofort getötet zu werden«, sagte Jitzchak Aharonowitsch, Minister für öffentliche Sicherheit, unmittelbar nachdem Palästinenser mit ihren Fahrzeugen wiederholt Wartende an Haltestellen in Jerusalem attackiert hatten. »Abgesehen davon, dass dies nicht kompatibel mit den Prinzipien eines Rechtsstaats ist, hat dies weitere Folgen«, erklärt der Rechtsanwalt Ziv Cohen. »Wer nun als Palästinenser in einen Unfall verwickelt wird, überlegt sich zweimal, ob es nicht besser ist, vielleicht Fahrerflucht zu begehen, weil man ansonsten in Gefahr läuft, erschossen zu werden.« Auch die Entscheidung, zwecks Abschreckung erstmals die Leichen von getöteten Terroristen – in diesem Fall die Täter des Massakers in der Synagoge – nicht zur Bestattung an ihre Familien freizugeben, mag nicht wirklich zur Sicherheit beitragen. Niemand in der israelischen Regierung möchte derzeit zugeben oder kann sich vorstellen, dass die Anschlagserie der »einsamen Wölfe« vielleicht nur der Auftakt für etwas Neues ist, das sich in seiner Dimension noch gar nicht erfassen lässt. Und die Autonomiebehörde von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas wird nichts unternehmen, die Täter von ihrem mörderischen Handeln abzuhalten.