Das Gedenken an die Shoah in Israel

»Jedes Kind will nach Auschwitz«

Auch im 70. Jahr nach der Befreiung des Todeslagers durch die Rote Armee nimmt das Erinnern und Gedenken an die Shoah eine zentrale Rolle im Leben vieler Israelis ein. Die Formen wirken außerhalb Israels jedoch manchmal irritierend.

Ins KZ zum Discounttarif. »Billig-Flieger Ryanair plant Israel-Auschwitz-Route«, schlagzeilte im Mai 2013 die israelische Presse und zitierte Howard Miller, den stellvertretenden CEO der Airline, mit folgenden Worten: »Jedes israelische Kind will nach Auschwitz. Wir können ihm dabei helfen.« Formulierungen wie diese würden bei manchem deutschen Leser reflexartig das Empörungspotential freisetzen oder zumindest für reichlich Stirnrunzeln sorgen, in Israel dagegen regen sie niemanden auf. Im Gegenteil, seit Jahren hofft man darauf, dass Europas Billigflieger Nummer Eins endlich auch eine Genehmigung der israelischen Luftfahrtbehörde erhält, in Tel Aviv zu landen und das Fliegen dadurch günstiger wird.
Eine Reise nach Auschwitz beziehungsweise ins nahe Krakau, das eigentlich angeflogen wird, ist schließlich auch eine Frage des Geldes. Jährlich besuchen rund 25 000 israelische Teenager die in Gedenkstätten umgewandelten Todesfabriken in Polen. Seit 1988 gibt es diese Trips, die jährlich mit rund 30 Millionen Dollar vom Erziehungsministerium in Jerusalem bezuschusst werden. Eltern legen für die Reise ihrer Sprösslinge nach Auschwitz im Schnitt 1 500 Dollar hin, wovon 580 Dollar reine Flugkosten sind. »Als Mutter zweier schulpflichtiger Söhne hätte ich mich natürlich gefreut, wenn die Tickets, die derzeit nur bei teuren israelischen Fluggesellschaften und der polnischen LOT zu haben sind, günstiger wären«, erklärt Michal Lemberger aus Ramat Gan ganz pragmatisch.
Nimrod, einer der beiden Söhne, nahm vor wenigen Monaten an einer solchen Holocaust-Gedenkfahrt teil. Seine Eindrücke dürften wohl repräsentativ für einen 17jährigen Teenager sein: »Der Besuch in Auschwitz selbst hat mir noch einmal klar gemacht, warum es wichtig ist, dass wir Juden heute einen eigenen Staat haben.« Damit bringt er das auf den Punkt, was die meisten Teilnehmer eines solchen Auschwitz-Trips als Erkenntnis mit nach Hause nehmen und von den Initiatoren dieser Fahrten auch gewollt ist. Zugleich wird die Erinnerung an die Shoah aufrecht erhalten, denn auch in seiner Familie gibt es bereits niemanden mehr, der diese Zeit noch persönlich erlebt hat. »Der bewegendste Moment war, als wir die Namen unserer Angehörigen vorgelesen haben, die in Auschwitz oder einem der anderen KZ ermordet wurden. Wir haben alle sehr geweint und uns umarmt.«
Diese emotional sehr aufgeladenen Klassenfahrten nach Polen sollen darüber hinaus die Motivation der jungen Frauen und Männer erhöhen, wenn sie nach dem Bagrut, dem israelischen Abitur, in Israels Streitkräften dienen werden. Aber Teenies sind nun einmal Teenies und machen nicht unbedingt das, was man von ihnen erwartet. Auch haben sie ihre ganz eigene Sprache, die Konfrontation mit den Schrecken des Holocausts zu kompensieren und zum Ausdruck zu bringen. »Nach dem Besuch in Auschwitz haben wir erst einmal ordentlich Party gemacht«, berichtet Nimrod. Und dabei lassen es viele is­raelische Schüler gerne ordentlich krachen. Zahlreich sind die Berichte in der israelischen, aber auch in der polnischen Presse über Saufexzesse und verwüstete Hotelzimmer.

Selbstverständlich ist immer das Smartphone dabei, um jeden Schritt einer solchen Reise zu dokumentieren. Auf diese Weise entstand in ­sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram ein eigenes Genre, das sogenannte »Auschwitz-Selfie«. Israelische Schülerinnen und Schüler posieren gemeinsam vor dem berühmten »Arbeit macht frei«-Schild vor der Kamera oder hinterlassen auf der Pinnwand ihrer Freundinnen Nachrichten wie »Babes, ich reserviere Euch einen Platz nach Treblinka«. Eine Facebook-Seite namens »Mit meinen hübschen Mädels in Auschwitz« sammelte diese zeitweilig sogar, was zu zahlreichen Protesten führte. Würde- und respektlos lauteten dabei noch die freundlichsten Vorwürfe. Selbst in der Knesset diskutierte man über das Verhalten israelischer Jugendlicher in den KZ-Gedenkstätten.
»Es gibt aber mehr als nur einen einzigen Weg, die Konfrontation mit diesen schrecklichen Orten des Todes zu verarbeiten«, erklärt Dr. Thorin Tritter, Dozent für Ethik und Fellow am Museum of Jewish Heritage in New York, und fordert zu ein wenig mehr Gelassenheit auf. »Manche Menschen verhalten sich bei einem Besuch in Au­schwitz wie betäubt. Andere dagegen entscheiden sich dafür, die Tatsache, dass sie als Juden nicht tot, sondern am Leben sind, in irgendeiner Form zu zelebrieren. Sie schießen dann genau diese Selfies.« Oder machen Videos, wie vor fünf Jahren der ehemalige KZ-Häftling Adam Kohn, der in Auschwitz mit seiner ganzen Familie zu dem Disco-Hit »I will survive« tanzte und so sein Überleben feierte. »Auch das empfanden viele als eine Provokation.«

Irritierungen löst ebenfalls ein relativ neues Phänomen in Israel aus. »Zachor!«, zu deutsch »Erinnere Dich!«, lautet eines der zentralen Gebote aus der Thora und offensichtlich nehmen das einige junge Israelis sehr wörtlich. Sie lassen sich die Nummern ihrer Großeltern oder anderer naher Verwandter, die die Shoah überlebt hatten, auf den linken Unterarm tätowieren. »Meine Generation weiß doch eigentlich gar nichts mehr über den Holocaust«, erläuterte die heute 24jäh­rige Eli Sagir gegenüber der New York Times ihre Motive. »Für viele ist das wie der Exodus aus Ägypten, eine Sage aus uralten Zeiten. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, ihnen so die Geschichte meines Großvaters zu erzählen.« Dabei sind Tätowierungen im Judentum strikt verboten.
Weitere Familienangehörigen folgten Eli Sagirs Beispiel und ließen sich gleichfalls mit der Nummer tätowieren, nach dem Tod ihres Großvaters sogar der über 40jährige Onkel. »Ich persönlich finde diese Aneignung einer Biographie, die nicht meine eigene ist, reichlich anmaßend«, so Dany Avni. Seine vor vier Jahren verstorbene Mutter war ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden. »Ihre KZ-Nummer lautete A7434. Wenn man die Zahlen addiert, lautet das Resultat 18.« Die Zahl 18 in hebräischen Buchstaben geschrieben, heißt gleichzeitig »Leben«. »Deshalb, so glaubte meine Mutter, hatte sie im Unterschied zu anderen überlebt.« Aber trotz der Bedeutung, die deshalb die KZ-Nummer im familiären Gedächtnis besitzt, kämen Avni oder seine Kinder niemals auf die Idee, sich diese tätowieren zu lassen. »Das wäre ein groteskes Holocaust-Tribal.«

»Wir befinden uns gerade im Übergang zwischen erlebter und historischer Erinnerung«, lautet dazu die Einschätzung von Michael Berenbaum, Professor an der American Jewish University. »Die Tätowierungen überbrücken diese auf sehr spektakuläre Weise. Schließlich wiederholt man damit einen Akt, der Namen zerstört und Menschen zu Nummern reduziert hat.« In der Tat schwindet die Zahl der Holocaust-Überlebenden in Israel; waren es vor zehn Jahren noch über 400 000, so leben heute weniger als 200 000 im jüdischen Staat. Nicht wenige von ihnen fühlen sich einsam und verlassen, haben oftmals keine Familienangehörigen. Deshalb gründete Jay M. Shultz, Vorsitzender der Am Yisrael Foundation, die Initiative »Adoptiere eine Großmutter«. Ins­besondere jüngere Einwanderer, die ebenfalls oft alleine in Israel leben, sollen so eine Art Ersatz­familie erhalten und mit Überlebenden der Shoah zusammengebracht werden. Auf diese Weise, so hoffen die Initiatoren, haben die Neu-Israelis Zugang zu den Biographien dieser alten Menschen und verstehen, warum die Shoah im kollektiven israelischen Gedächtnis eine ganz zentrale Rolle einnimmt.