Rumänische Literaturgeschichte

Die Macht der Nashörner

Aspekte der rumänischen Literaturgeschichte.

Generationen von deutschen Schulkindern haben das Theaterstück »Die Nashörner« des ­rumänischen Dramatikers Eugène Ionesco ge­lesen. Generationen von deutschen Schulkindern haben es nicht verstanden, weil ihre Lehrer es ihnen nicht zu erklären vermochten. Denn rumänische Literatur ist – wie der historische Hintergrund, vor dem sie entstand – nach wie vor ein unbekannter Teil der europäischen Literaturgeschichte, und außer Eugène Ionesco sind nur wenige rumänische Schriftsteller und Schriftstellerinnen bekannt. Der Blick wendet sich nur in Ausnahmefällen gen Osten oder gen Südosten, auf dieses Land, das der rumänische Exilautor Norman Manea ein surrealistisches genannt hat.
Norman Manea ist 1941, damals war er fünf Jahre alt, wurde in einem Viehwaggon, »eingepfercht zwischen den Leibern von Nachbarn und Verwandten und Freunden«, wie er in seiner Autobiographie beschreibt, in ein Konzentrationslager in Transnistrien, jenseits des Flusses Dnjestr, verschleppt, das er überlebt hat. (1) Seitdem ist die Geschichte des Holocaust, die Geschichte des rumänischen Holocaust, das Thema seines Lebens. Es ist eine Geschichte, die auf die frühen zwanziger Jahre zurückgeht, als sich, wie in anderen südeuropäischen und südosteuropäischen Ländern, vor allem Studenten antisemitischer Äußerungen und Übergriffe schuldig machten, weil sie die Konkurrenz durch ihre jüdischen Kommilitonen fürchteten: 1922 musste die Universität Bukarest sogar zeitweilig geschlossen werden, weil orthodoxe Studenten ihre jüdischen Kommilitonen aus den Hörsälen jagten, doch auch die Folgejahre blieben von der aggressiven antisemitischen Stimmung der Studentenschaft geprägt.

Der rumänische Faschismus

1927 gründete der 28jährige Anwalt Corneliu Codreanu, der drei Jahre zuvor in der nordrumänischen Stadt Jassy den Polizeipräfekten erschossen hatte, die Legion Erzengel Michael, eine faschistische und aggressiv antisemitische Organisation, über deren ideologische Ausrichtung Florin Turcanu, Politikwissenschaftler an der Universität Bukarest, schreibt: »Der Name der neuen Bewegung war eine seltsame Begriffsschöpfung. Das Wort ›Legion‹ verwies zum einen auf die römischen Ursprünge der Nation und auf die ›Legionen‹ rumänischer Bauern, die 1848/49 unter Führung von ›Tribunen‹ gegen die ungarische Unterdrückung gekämpft hatten, zum anderen auf Gabriele d’Annunzios ›Legionäre‹ in Fiume. Der Erzengel Michael, der den Drachen bezwang, war Codreanus Lieblingsheiliger, ein Symbol des christlichen Triumphes über die Kräfte des Teufels.« (2)
Die Legion, die von 1930 an über die paramilitärische sogenannte Eiserne Garde verfügte – die Begriffe Garde und Legion werden seitdem synonym verwendet –, wollte die Macht im Staat mit Hilfe der orthodoxen und konservativen Bauernschaft erringen und Rumänien sowohl von den Juden als auch von den vorgeblich korrupten Berufspolitikern säubern, mit deren Hilfe der Monarch Carol II. an den Bürgerrechten Ersterer noch festzuhalten versuchte.
Inmitten einer politisch, aber auch ökonomisch schwierigen Situation begann auch Mircea Eliade, der später weltberühmte Begründer der Religionsgeschichte und der vergleichenden Religionswissenschaft, der Philosoph und Romanautor, seine Karriere. Eliade, noch heute sicherlich einer der bekanntesten rumänischen Intellektuellen, vertrat bereits als junger Mann eine dezidiert idealistische, antimarxistische und antimodernistische Welt­anschauung. Er ereiferte sich über die Lockerung der Sitten, die sich in den zwanziger Jahren in Bukarest durchgesetzt habe: »Noch zehn Jahre später sollte Eliade«, schreibt sein Biograph Turcanu, »als er in einer Gefängniszelle ›Hochzeit im Himmel‹ schrieb, die abscheuliche Erinnerung heraufbeschwören an ›das Jazz- und Cocktailzeitalter, als die jungen Frauen Pagenschnitte und Kleider trugen, die nur bis zum Knie gingen. Ich glaube, die Jugend war niemals so schamlos wie zu jener Zeit. In jenen Jahren konnte man in manchen Häusern mit ­irgendeinem Mädchen schlafen, kaum dass man mit einer gewissen Beharrlichkeit mit ihr getanzt hatte.‹«
Eliade, in seiner Jugend ein schwärmerischer Anhänger des theosophischen Kreises um Madame Blavatsky sowie des Buddhismus, war ein Jahr nach Gründung der Legion nach Indien gereist, um den Hinduismus an seinen geographischen Quellen zu studieren. Als er drei Jahre später, 1931, nach Bukarest zurückkehrte, kehrte er auch als Religionswissenschaftler an die Universität Bukarest zurück, die nach wie vor von der aggressiv antisemitischen Stimmung der Studentenschaft geprägt war. Eliade kehrte auch zu seinem Professor Nae Ionescu zurück, der sich inzwischen zum Propagandisten der Garde entwickelt hatte und der Antisemitismus auch in den Hörsälen predigte.
1935 veröffentlichte Eliade seinen Roman »Die Hooligans«, die langatmige und schwer zu lesende Geschichte über den Klavierlehrer ­Petru Anicet und seine Generation auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Doch weder Liebe und Sex noch Arbeit und Kultur vermögen die Gruppe junger Leute auf Dauer zu fesseln, Eliade propagiert die Ekstase in der Politik und verleiht den Begriffen Hooligan und Hoo­liganismus dem Zeitgeist gemäß eine positive Bedeutung. Auf dieses Buch spielte der brillante junge Student Mihail Sebastian an, als er 1935 die Broschüre »Wie ich zum Hooligan wurde« veröffentlichte.

Hooligans und Nashörner

Mihail Sebastian war das Pseudonym von Iosif Hechter aus Braila, er hatte es sich zugelegt, als er sein Leben in den Intellektuellenzirkeln, an den Theatern und in den Redaktionsstuben von Bukarest begonnen hatte. Er war Jude und musste sich mit dieser Schrift auch gegen Nae Ionescu verteidigen, der bisher sein Professor, Kollege und Freund gewesen war. Nae Ionescu hatte, trotz seines Antisemitismus, seinen Schüler Sebastian noch lange emotional an sich zu binden gewusst.
Noch 1934 hatte Sebastian ihn um ein Vorwort für seinen Roman »Seit zweitausend Jahren« gebeten. Das Vorwort war ein wüster ­antisemitischer Ausfall, ein Todesurteil, wie Sebastian selbst befand, als er es in Händen hielt, dennoch ließ er es drucken. (3) Schließlich hatte Ionescu die Juden für krank erklärt, da sie den Messias nicht erkannt hätten. Und er hatte den vorgeblichen Gegensatz zwischen Orthodoxen und Juden für naturgegeben erklärt: »Juda leidet«, hatte Nae Ionescu in diesem Vorwort geschrieben, »weil er inmitten von Völkern lebt, die er, selbst wenn er wollte, nicht aufhören kann anzufeinden. Juda leidet, weil er Juda ist. Iosif Hechter, du bist krank. Du bist krank in deiner Substanz, weil du nicht anders kannst als leiden und weil dein Leiden tiefe Ursachen hat. Der Messias ist schon gekommen, und du hast ihn nicht erkannt. Iosif Hechter, fühlst du nicht, wie dich Kälte und Dunkelheit umfangen?« (4)
Nae Ionescu sollte nicht die einzige Enttäuschung für Mihail Sebastian bleiben. Er hatte sich nach dessen Rückkehr aus Indien auch mit Mircea Eliade befreundet und führte ein Tagebuch, das 50 Jahre später unter dem Titel »Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt« veröffentlicht wurde. Es gibt Aufschluss darüber, wie Eliade, wie die meisten Mitglieder der studentischen Gruppe, die Eliade »Generation« genannt hatte, innerhalb weniger Jahre zu jenen »Nashörnern« wurden, die Eugène Ionesco dann in seinem 1959 uraufgeführten Stück ­denunziert hat.
Im Theaterstück greift die Tierwerdung von ehemals Zivilisierten genauso rasant um sich, wie es in den dreißiger Jahren in Bukarest im Zuge der Faschisierung der Intellektuellen geschehen war. Eugène Ionesco hatte die damalige historische Realität in eine Parabel gefasst, denn er war, als Sohn einer jüdischen Mutter und eines orthodoxen Vaters, seinerzeit selbst verzweifelt: »Ich hatte niemanden außer dir.« Das soll Ionesco im Jahr 1936 einem Freund ins Gesicht geschleudert haben, nachdem auch dieser ihm gestanden hatte, der Garde beigetreten zu sein. »Ich habe auch dich verloren. Ich bleibe hier keine Sekunde länger.« (5)
Der Theaterautor Ionesco verließ Rumänien zwei Jahre später und ging nach Frankreich, wo er seine Erfahrung mit den »Nashörnern« literarisch verarbeitet hat. Bis zu seinem Tod im Jahr 1994 ist er dort auch geblieben.
Auch Mihail Sebastian musste zutiefst verletzt erleben, wie sich seine Umwelt im Verlauf der dreißiger Jahre zusehends von ihm abwandte, wie sich auch diejenigen, die er für seine Freunde hielt, sukzessive gegen ihn wandten, wie sie der antisemitischen Propaganda der Legion erlagen oder wie sie diese zu der ihren machten: »Um bei der Politik zu bleiben«, notierte Sebastian am 27. November 1935 beispielsweise, »ich muss eine kurze, angespannte Diskussion erwähnen, die ich Montagabend nach dem Theater mit Mircea Eliade im Continental führte. Es war nicht die erste dieser Art. Und ich bemerke bei ihm ein immer deutlicheres Abgleiten nach rechts. Wenn wir zu zweit sind, verstehen wir uns noch ganz gut. Aber in der Öffentlichkeit wird seine rechtslastige Position extrem und kategorisch. Er hat mir mit ziemlicher Aggressivität eine Ungeheuerlichkeit gesagt: ›Alle großen Geister stehen rechts.‹ So einfach ist das.« (6)
Zwei Jahre später musste er feststellen, dass auch eine befreundete Schauspielerin, die er für die Hauptrolle eines seiner Stücke vorgesehen hatte, auf den neuen Zug aufgesprungen war: »Marietta habe ich seit etwa zwei Wochen nicht mehr gesehen«, heißt es im Tagebuch, »und besonders eilig habe ich es mit einem Treffen nicht. Sie hatte in den letzten Tagen einen antisemitischen Anfall, bei dem ich nicht anwesend war, von dem mir Gheorge genau berichtet hat: ›Die Saujuden sind schuld‹, kreischte Marietta. ›Sie nehmen uns das Brot vom Mund weg, sie beuten uns aus, ersticken uns. Sie sollen von hier weg. Dies ist unser Land, nicht ihres. Rumänien den Rumänen!‹ Eines Tages werde ich versuchen, Marietta ganz ruhig zu erklären, warum zwischen einer Frau, die so denkt, und der Rolle in meinem Stück eine absolute, definitive Unverträglichkeit besteht.« (7)

Ende einer Freundschaft

Eliade und die Schauspielerin waren keine Ausnahmen, die gesamte rumänische Gesellschaft war nach rechts abgeglitten, nachdem Carol II. im November 1933 eine liberale Regierung eingesetzt hatte, die Neuwahlen vorbereiten sollte. Ministerpräsident Ion Duca hatte die Eiserne Garde verboten und war von ihren Schergen erschossen worden. Ein Krieg zwischen Legionären und Regierung hatte sich angeschlossen, ein extrem blutiger Krieg, in dessen Verlauf sich die Mehrheit der rumänischen Intellektuellen auf Seiten der Legion positionierte.
Wie Professor Nae Ionescu, der Mentor einer ganzen Generation, hatte sich Mircea Eliade im Jahr 1935 endgültig auf die Seite der Legionäre geschlagen, 1937 trat er ihnen bei. Er stellte sich, wie sein Biograph Turcanu feststellt, bewusst in den Dienst einer offen antisemitischen Gruppe, die behauptete, die Juden hätten sich verschworen, zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ein neues Palästina zu errichten, und zum Beleg dieser Behauptung die Protokolle der Weisen von Zion heranzog.
Am 25. Februar 1937 notierte Mihail Sebastian in seinem Tagebuch mit Blick auf Eliade und alle anderen Freunde: »Die Situation wird immer peinlicher. Ich sehe mich nicht imstande, die Doppelzüngigkeit zu ertragen, zu der uns unsere Freundschaft nötigt, seit sie alle zur ›Eisernen Garde‹ bekehrt worden sind. Mirceas letzte Artikel in der Vremea sind immer legionärsfreundlicher geworden. Einige wollte ich gar nicht mehr lesen. Den letzten habe ich erst heute früh gelesen, obwohl er schon am Freitag erschienen ist und mir alle Leute davon erzählten. Ist denn eine Freundschaft mit Menschen möglich, die eine ganze Reihe mir fremder Ideen und Gefühle teilen, derart fremde Ideen, dass es schon betretenes Schweigen auslöst, wenn ich ins Zimmer komme?« (8)
Im Dezember des Jahres 1937 machte Sebastian sich keine Gedanken mehr über seine Freundschaften, er hatte sie aufgegeben und vermerkte in seinem Tagebuch, dass die Eiserne Garde bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer große Erfolge erzielt habe. Für die jüdische Bevölkerung Rumäniens weiß er: »Mir wird klar, dass wir nichts mehr zu gewinnen, zu verteidigen oder zu erhoffen haben. Alles ist verloren. Jetzt folgen die Gefängnisse, das Elend, vielleicht die Flucht, das Exil, vielleicht noch viel Schlimmeres.« (9)
Doch Codreanu wurde vorerst wegen Aufwiegelung gegen die soziale Ordnung zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und bald von Regierungskräften ermordet. Die Regierung versuchte, die Garde zu zerschlagen, wurde von diesen Bemühungen aber im Jahr 1940 von der außenpolitischen Situation abgelenkt, die sich massiv auf das Land auswirkte: 1940 okkupierte die Sowjetunion Bessarabien und den Norden der Bukowina. Unmittelbar danach zwang Hitler Rumänien dazu, einen Teil Siebenbürgens an seinen Verbündeten Ungarn und den Süden der Dobrudscha an Bulgarien abzutreten. Dass Carol II. auf Widerstand verzichtete, ließ das Sympathiependel vieler Rumänen und Rumäninnen zu Gunsten der verbotenen Garde ausschlagen.
Der König ging ins Exil; Staatschef wurde mit General Ion Antonescu ein Hitler-Kollaborateur, unter dem Rumänien den Holocaust vorweggenommen hat, auch wenn Antonescus Verhältnis zur Garde bis zum Ende des Krieges widersprüchlich blieb. Doch zwischen Herbst 1940 und Januar 1941 verbündete er sich mit den Legionären und ließ sie gewähren: »Im September 1940«, erinnert sich Norman Manea in seiner Autobiographie, »hatte der General Antonsecu, der sich bald zum Marschall ernennen sollte, den ›Legionären‹ Nationalstaat ausgerufen, kurz darauf folgte der Aufstand der Legionäre: der Aufmarsch der Grünhemden in den Straßen der Stadt, die Besetzung der Zuckerfabrik in Itzkany, wo Vater daran gehindert wurde, zur Arbeit zu gehen, die Ermordung des Suczawaner Musikers Jacob Katz. Die Gerüchte über ›Ritualmorde‹ auf dem Bukarester Schlachthof, wo die Legionäre die Leichen ermordeter Juden unter einem Schild mit der Aufschrift ›Koscher‹ aufgehängt haben sollten, drangen bis in die Bukowina. Zwangsarbeitseinsatz, Geiselnahme unter den Besuchern einer Synagoge …  Die deutschen Offiziere der Truppen, die an der nahen sowjetischen Grenze zusammengezogen waren, hatten einigen Juden in der Umgebung bereits von dem erzählt, was dann die ›Endlösung‹ des Führers heißen sollte.« (10)

Der Holocaust in Rumänien

Schon vor Antonescu hatte es antisemitische Maßnahmen gegeben, die kurze Interimsregierung unter Premierminister Goga hatte 1937 verfügt, dass alle Juden ihre Staatsangehörigkeit neu beantragen mussten; sie durften nicht mehr als Journalisten oder Anwälte arbeiten.
Goga hatte die jüdische Bevölkerung Rumäniens vertreiben wollen. Antonescu ging daran, sie zu töten: Im Sommer 1941 verfügte er die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung der Nordbukowina, Bessarabiens und von Teilen der heutigen Ukraine.
In der nordostrumänischen Stadt Jassy wurden am 29. Juni 1941 und in den darauf folgenden Tagen, also noch vor der deutschen Wannseekonferenz, rund 13 000 Juden und Jüdinnen ermordet. Von Jassy aus fuhren die sogenannten Todeszüge ab, Züge ohne Bestimmungsort mit einem einzigen Zweck, und Norman Manea schreibt in seiner Autobiographie über seinen Jugendfreund: »Sein Vater war 1941 mit dem ›Todeszug‹ aus Jassy verschwunden. Die auf den Straßen und aus ihren Häusern zusammengetriebenen Juden waren dicht an dicht wie Ölsardinen in einer Konserve in die versiegelten Wagen eines Güterzugs verfrachtet worden, der keine andere Bestimmung hatte als das Nichts. Er irrte langsam und ziellos durch die Glut des Sommers, bis die ausgehungerten, ausgedörrten, erstickten Leiber nur noch Leichen waren.« (11)
Insgesamt kostete der rumänische Holocaust rund 300 000 Juden und Jüdinnen das Leben. Diesen Staat hat Mircea Eliade derweil als Mitglied der rumänischen Gesandtschaft, als Pressesekretär Rumäniens, in Lissabon repräsentiert.
Für Mihail Sebastian, der in Bukarest zurück­geblieben war, wurde das Leben so schwer, wie er es bereits Ende 1937 vorausgesehen hatte. Er konnte auch keine Theaterstücke mehr zur Aufführung bringen und keine Texte mehr verkaufen. Er verlor seine Wohnung, wurde als Jude besteuert und musste Zwangsarbeit leisten. Doch Sebastian überlebte das Antonescu-Regime. Er kam aber im Mai 1945 ums Leben, als er von einem sowjetischen Militärlaster überfahren wurde: »Ohne Zweifel hat Mihail in den letzten Jahren fünf Jahren ein Hundeleben geführt.« Das notierte Mircea Eliade trocken, als er in Lissabon vom Tod seines früheren Freundes erfuhr. (12)
Eliade, das muss auch sein ihm sehr gewogener Biograph zugestehen, konstatiert das »Hundeleben« seines früheren Freundes ohne jedes Schuldbewusstsein. Dennoch wagte er sich nach 1945 nicht nach Rumänien zurück, wo – auch blutig – abgerechnet wurde mit den Schergen des Antonescu-Regimes und wo die siegreiche Rote Armee ein System im Sinne Josef Stalins durchzusetzen begann.
Über Frankreich ging Eliade stattdessen nach Chicago, wo er einen Lehrstuhl erhielt und wo er ein Gelehrter von Weltruhm wurde, der lange über jeden Zweifel erhaben schien. Bisweilen wurde er zwar noch zu Lebzeiten mit Fragen zu seiner Vergangenheit konfrontiert, doch er stritt jede Unterstellung, er sei Faschist oder Antisemit gewesen, kategorisch ab. Diese Haltung behielt er bis zu seinem Tod am 22. April 1986 bei.
1991 verfasste der inzwischen gleichfalls in den USA lebende Norman Manea einen Aufsatz, in dem er sich mit dem Legionär, Faschisten und Antisemiten Eliade befasste.

Verrat an einem Patrioten

Die Reaktionen waren furchterregend: Romania Mare, die Zeitschrift der nationalistischen Rechten in Rumänien, drohte ihm offen. »In einem ihrer letzten Briefe«, berichtet Norman Manea über seine Schwiegermutter, »bat sie uns, nicht mehr an ihre Adresse zu schreiben, sondern an die ihres Nachbarn. Nach der Veröffentlichung meines Textes über Mircea Eliade, als die Zeitungen der neuen Demokratie mich der Blasphemie und des Verrates bezichtigten, hatten die Patrioten vor Ort den Postkasten der Schwiegermutter des Angeklagten als strate­gisches Ziel ausgemacht und ihn ein paarmal angezündet.« (13)
Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen des Textes von Manea über Mircea Eliade, am 21. Mai 1991, war ein anderer Exilrumäne, der Professor Ioan Petru Culianu, auf der Toilette einer US-amerikanischen Universität durch einen Kopfschuss getötet worden.
»Das unerklärliche Rätsel des Mordes«, schreibt Manea in seiner Autobiographie, »hatte natürlich Spekulationen genährt: über die Beziehungen des jungen Professors Culianu zu seinem Meister, dem rumänischen Religionshistoriker Mircea Eliade, dem er nach Amerika gefolgt war, zur rumänischen Gemeinde von Chicago, zu dem im Exil lebenden König von Rumänien, zur Parapsychologie, von der er besessen war. Da gab es auch noch die Verbindung zu den Legionären. Legionäre wurden die Mitglieder der Eisernen Garde, der rechtsex­tremen nationalistischen Bewegung, genannt. Dieser Bewegung hatte Mircea Eliade in den dreißiger Jahren das Wort geredet, und sie hatte Anhänger in der rumänischen Gemeinde von Chicago. Es hieß, Culianu sei im Begriff gewesen, die politische Vergangenheit des Meisters kritisch zu sichten.« (14)
»Die Hooligans« – so hieß der Roman, den Mircea Eliade 1935, auf dem Höhepunkt seiner Identifikation mit der Legion, veröffentlicht hatte. »Wie ich zum Hooligan wurde« – so hatte Mihail Sebastian die Broschüre genannt, mittels der er nach dem vernichtenden Angriff von Nae Ionescu noch versuchen wollte, mit seinen ehemaligen Freunden zu diskutieren.
»Die Rückkehr des Hooligan« – so nannte Norman Manea seine Autobiographie, in der er der offiziellen Geschichtsschreibung Rumäniens die Geschichte des fünfjährigen jüdischen Jungen entgegensetzt, der er einmal war. Die Geschichte eines Kindes, das in ein Konzentrationslager verschleppt wurde, aber auch die Geschichte seiner Familie, die Geschichte seines Lebens unter Ceauceşcu und letztlich die Geschichte seiner Flucht zuerst nach Berlin und dann in die Vereinigten Staaten.
Entstanden ist »Die Rückkehr des Hooligan« anlässlich einer Reise, die Manea im Jahr 1997 noch einmal nach Rumänien geführt hat. Dort wurde gerade eine, wenn auch verhaltene, geschichtliche und literarische Diskussion geführt, denn erst im Vorjahr, im Jahr 1996, war Mihail Sebastians Tagebuch »Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt« in der Heimat seines Verfassers erschienen.
Norman Manea hatte Angst vor einer Rückkehr nach Rumänien. Er fühlte sich bedroht, wie er sich auch in den Vereinigten Staaten nach der Veröffentlichung seines Artikels bedroht gefühlt hatte, mit dem er den großen Religionsgelehrten vom Sockel stürzte, der nach wie vor von einer großen Gemeinde verehrt wurde. »In der Folge«, berichtet er in seiner Autobiographie, »hatte das FBI Verbindung zu mir aufgenommen und mir geraten, vorsichtig zu sein in meinem Umgang mit Landsleuten und nicht nur mit denen.« (16)
Norman Manea hat seine Ängste und das Gefühl, durch Sympathisanten der Legion noch in den USA bedroht zu sein, noch einmal in dem 2010 auf Deutsch erschienenen Roman »Die Höhle« verarbeitet. »Die Höhle« ist eine weitere Selbstreflexion, in der sich der Erzähler, hinter dem Manea unschwer zu erkennen ist, in den Schriftsteller Augustin Gora und in den Cousin von dessen Noch-Ehefrau Lu, Peter Gaspar, aufspaltet. (17)
Gaspar, der den Holocaust erlebt hat, denn er wurde in Auschwitz gezeugt, scheint Goras Frau für sich gewonnen zu haben, mit der er den amerikanischen Boden lange nach der Ankunft von Gora betritt. Beide Männer, die trotz ihres Konkurrenzverhältnisses eine freundschaftliche Beziehung verbindet, repräsentieren bald die für Manea positive wie auch negative Seite des Exils: Während Gaspar sich in den Weiten des amerikanischen Westens verliert und Amerikaner wird, hat Gora mit seiner Frau und mit seinem Land das verloren, was ihm am wichtigsten war. Gemeinsam ist beiden jedoch das Interesse an Mihnea Palade (auf Englisch nennt er sich Portland), der für Culianu steht und der wie dieser auf der Toilette einer amerikanischen Universität erschossen wird.
Lange hatte Palade/Portland ausgehalten an der Seite seines Lehrers, des großen Meisters Cosma Dima, was selbstverständlich Eliade meint. Doch dann wurde er aufgeschreckt durch eine Rezension, in der Gaspar Dima als das bezeichnet wird, was dieser offenbar nicht nur in bewegten Jugendjahren, sondern bis zu seinem Lebensende war: Ein überzeugter Faschist und Antisemit, von seinen Anhängern noch posthum verteidigt gegen Vorwürfe und entschuldigt, verborgen hinter einer Mauer des Schweigens und Vergessens, deren Schutz zu verlassen er bis zum Ende keinen Anlass sah.
Auch Manea hat in den Vereinigten Staaten Karriere gemacht und ist ein bekannter Autor geworden: »Acht Jahre gingen ins Land«, so zieht er ein Resümee in »Die Rückkehr des Hooligan«, »ich veröffentlichte Bücher, erhielt Preise, wurde writer in residence und Professor am Bard College. Auch in der Heimat begann mein Ruf sich zu wandeln: Mein Artikel über Mircea Eliade und die Eiserne Garde beförderte mich zum Volksfeind Nummer eins, Auslandsabteilung.« (18)
Das war in den neunziger Jahren. Eine Untersuchung über die Frage, wie die rumänische Gesellschaft Eliade und Sebastian heute gegenübersteht, lässt auf sich warten.

Anmerkungen
(1) Norman Manea: Die Rückkehr des Hooligan. Ein Selbstporträt, München, Wien 2004, S. 56
(2) Florin Turcanu: Mircea Eliade. Der Philosoph des Heiligen oder Im Gefängnis der Geschichte, Schnellroda 2006, S. 153
(3) Ebd., S. 85
(4) »›Es ist eine Tragödie. Es ist ein Todesurteil‹, sagte Sebastian zu Eliade, der sich erinnerte, wie sein Freund ›bleich, mit beinah verzerrtem Gesicht an einem Nachmittag zu mir kam‹, nachdem er das Vorwort gelesen hatte.«
Vgl. Florin Turcanu: Mircea Eliade. Der Philosoph des Heiligen oder Im Gefängnis der Geschichte, S. 190
(5) Zitiert nach Edward Kanterian (Hg.): Vorwort zu: Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935–1944, Berlin 1998, 2005, S. 13 f.
(6) Ebd., S. 209
(7) Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935–1944, S. 66
(8) Ebd., S. 163
(9) Ebd., S. 171
(10) Ebd., S. 199
(11) Norman Manea: Die Rückkehr des Hooligan, S. 94
(12) Ebd., S. 199
(13) Florin Turcanu: Mircea Eliade. Der Philosoph des Heiligen oder im Gefängnis der Geschichte, S. 288
(14) Ebd., S. 39
(15) Ebd., S. 15
(16) Ebd., S.15 f.
(17) Vgl. Norman Manea: Die Höhle, München 2012
(18) Norman Manea: Die Rückkehr des Hooligan, S. 267