Schiitische Milizen kämpfen in Syrien und im Irak gegen den IS

Der iranische Vormarsch

Das iranische Regime unterstützt nicht nur schiitische Milizen im Irak und Syrien, sondern auch im Jemen und baut seine Machtbasis in der Region weiter aus. Diesen Bemühungen wird kaum etwas entgegengesetzt.

Besorgt zeigte sich das Washington Institute for Near East Policy: Einer jüngst vom Institut veröffentlichten Studie zufolge kämpften inzwischen »weit über 50 verschiedene schiitische Milizen in Syrien und dem Irak«. Seit im vergangenen Sommer irakische Kleriker und Politiker ihre Anhänger im Kampf gegen die Jihadisten des »Islamischen Staats« (IS) zu den Waffen riefen, entstanden innerhalb kürzester Zeit Dutzende neuer Milizen. Diese sind in der Regel lediglich Parteien oder religiösen Führern gegenüber verantwortlich und stehen nicht unter Kontrolle des irakischen Verteidigungsministeriums. Stattdessen übt das iranische Regime unmittelbaren Einfluss auf sie aus, Waffen und Ausbildung kommen aus dem Iran, einige Einheiten werden zum Teil sogar von Offizieren der al-Quds-Brigaden, Einheiten der Revolutionsgarden für Auslandseinsätze, befehligt. Die Milizionäre teilen selbstredend auch die antiamerikanische und vor allem antiisraelische Weltanschauung ihrer iranischen Gönner.
Umso bemerkenswerter ist, dass inzwischen einige dieser Kämpfer, wie erst jüngst bekannt wurde, auch im Besitz US-amerikanischer Waffensysteme sind, die die USA der Regierung in Bagdad in jüngster Zeit geliefert haben. So machte etwa ein Foto mit einem Milizionär die Runde, der stolz, eine Hizbollah-Fahne in der Hand, auf einem nagelneuen US-amerikanischen Panzer posierte. Es sagt über den »War on Terror« einiges aus, dass inzwischen US-Waffen nicht nur vom »Islamischen Staat« verwendet werden, der sie vergangenes Jahr bei der Einnahme Mossuls erbeutete, sondern auch von dessen schiitischen Kontrahenten.

Auch sonst unterschieden sich die Gegner nur graduell. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben in den vergangenen Monaten detailliert dokumentiert, wie sich schiitische Milizionäre in von ihnen »befreiten« Gebieten aufführen (Jungle World 44/2014). So wurden gefangene IS-Kämpfer vor laufender Kamera misshandelt, gar geköpft. Bewohnerinnen und Bewohner aus Orten nördlich und südlich von Bagdad, aus denen der IS hinausgeworfen wurde, sollen systematisch vertrieben und die Gebiete zu »sunnitenfreien Zonen« erklärt worden sein.
Die Stadt Jalawla, die im Dezember von schiitischen Milizen und kurdischen Peshmerga der PUK eingenommen wurde, sei, berichten Journalisten des kurdischen Fernesehsenders Rudaw, eine Geisterstadt. Zivilisten lebten dort keine mehr. Weil sie de facto unter Kontrolle schiitischer Milizen stehen, trauten sich vormalige Bewohnerinnen und Bewohner, meist Sunniten, nicht zurückzukommen. Noch befindet sich die Stadt unter schiitisch-kurdischer Doppelkontrolle, doch beide Seiten beanspruchen sie für sich. Wo immer Schiiten den Märtyrertod gestorben seien, werde man bleiben, ließ kürzlich ein Sprecher der Imam-Ali-Brigaden verlauten, während wiederum kurdische Politiker besorgt zusehen, wie sich schiitische Milizionäre vor den Toren der von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten Stadt Kirkuk sammeln. Auch wenn sie derzeit noch Seite an Seite gegen den IS kämpfen, der nächste blutige Konflikt im Irak scheint programmiert. Denn weder schiitische Politiker in Bagdad noch ihre Schutzherren im Iran sind an einer weitergehenden kurdischen Unabhängigkeit interessiert. Ganz im Gegenteil erklärte erst kürzlich der iranische Außenminister, Hossein Amir, dass einzig »die Zionisten« einen unabhängigen kurdischen Staat in der Region erschaffen wollten, die Islamische Republik dagegen alles unternehmen werde, um dies zu verhindern.

Nicht nur irakische Kurdinnen und Kurden haben allen Grund, mit wachsender Sorge zu verfolgen, wie der Iran in der Region an Einfluss gewinnt – selbst wenn kurdische Politiker in ihren offiziellen Verlautbarungen noch immer ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, dass ihr Nachbar ihnen in der Stunde der Not zur Hilfe geeilt sei. Auch unter den Schiiten regt sich Widerstand. Ausgerechnet Muqtada al-Sadr, dessen Mahdi-Milizen jahrelang gegen US-Soldaten gekämpft haben und der selbst enge Beziehungen zum Iran unterhält, scheint ebenfalls über die jüngste Entwicklung nicht glücklich. Kürzlich trat er, gemeinsam mit dem irakischen Verteidigungsminister Khaled al-Obeidi, vor die Presse und forderte ein Ende des ausufernden Milizenwesens. Seine eigenen Kämpfer stellte er deshalb öffentlichkeitswirksam unter die Kontrolle der irakischen Armee. Dass ein Akteur wie al-Sadr sich zu so einem Schritt genötigt sieht, dürfte ein untrügliches Zeichen dafür sein, wie sehr sich inzwischen die vom Iran gesteuerten Milizen verselbständigt haben. Offenbar fürchten inzwischen auch irakische schiitische Politiker, dass der Iran, ähnlich wie zuvor im Libanon, plant, eine an das Modell der Hizbollah angelehnte Parallelstruktur im Irak zu etablieren.
Längst allerdings haben die Mahdi-Milizen auch ihre frühere Bedeutung eingebüßt, derzeit spielen Organisationen, die sich unter direkter Kontrolle Irans befinden, wie die Kataib Hizbollah oder die Imam-Ali-Miliz, eine weit größere Rolle. Leisteten bislang Revolutionsgardisten im Libanon, Syrien und dem Irak vor allem logistische Hilfe, so stehen sie neuerdings selbst an vorderster Front. Allein im Irak sollen bis zu 7 000 von ihnen in die Kämpfe verwickelt sein. Und das fordert seinen Preis. Nicht nur in Syrien, neuerdings auch im Irak haben die Iraner wachsende Verluste zu beklagen.
So gelang es kürzlich dem IS, mit General Hamid Taghavi einen der ranghöchsten Offiziere der al-Quds-Brigaden in der Nähe von Samarra zu erschießen, auch kursieren Gerüchte, dass Qasem Soleimani, der die iranischen Aktivitäten in der gesamten Region koordiniert und sich in letzter Zeit gerne an der irakischen Front ablichten ließ, verletzt worden sei. Wachsende finanzielle Verpflichtungen und mehr Leichensäcke sind ein Preis, den das iranische Regime offenbar bislang bereit ist, für seine expansive Politik zu zahlen. Erst kürzlich prahlte ein Berater des religiösen Führers Ali Khamenei, man übe inzwischen die Kontrolle über vier arabische Hauptstädte aus.

An der syrisch-israelischen Golan-Grenze musste vor Kurzem ein hochrangiger iranischer General sein Leben bei einem israelischen Luftangriff lassen. Auch dort verstärkt der Iran gerade seine Präsenz. Ein Sprecher der Freien Syrischen Armee warnte deshalb in einem Interview mit der Zeitung Times of Israel vor einer möglichen neuen Front an Israels Grenze und rief die israelische Regierung zu einer engeren Kooperation mit der syrischen Opposition gegen das Bündnis zwischen Bashar al-Assad, dem Iran und der Hizbollah auf. Mit großer Sorge betrachtet man in Israel nicht nur, wie der Iran, dessen erklärtes politisches Ziel ja die Vernichtung des »zionistischen Krebsgeschwürs« ist, seinen Einfluss im Nahen Osten immer weiter ausdehnt, sondern auch, dass die US-Regierung mit dieser Entwicklung offenbar keine Probleme hat, ja den Iran als Verbündeten im Kampf gegen den IS behandelt. So erklärte US-Oberbefehlshaber General Martin E. Dempsey, als er Anfang Januar auf dieses Thema in einer Pressekonferenz angesprochen wurde, die USA stünden dem iranischen Engagement durchaus positiv gegenüber, solange es keine Angriffe auf US-Soldaten gebe.
US-Außenminister John Kerry akzeptierte inzwischen sogar einen Verbleib Assads an der Macht und gab damit einer der Hauptforderungen Russlands und des Iran nach. Überhaupt vermeidet die US-Regierung seit Monaten jede militärische oder politische Konfrontation mit dem syrischen Diktator und unternimmt auch sonst nichts, was den Iran verärgern könnte. So hörte man aus dem US-Außenministerium keine Verurteilung der jüngsten Entwicklung im Jemen, wo sich seit vergangenem Sommer die schiitischen Houthi-Milizen, die sich ebenfalls iranischer Unter­stützung erfreuen, auf dem Vormarsch befinden und inzwischen nicht nur die Hauptstadt Sanaa eingenommen, sondern auch den Präsidentenpalast gestürmt haben. Ein von den UN vermitteltes Friedensabkommen ist gescheitert, die jemenitische Regierung inzwischen zurückgetreten. Im ärmsten Land der arabischen Welt droht weiteres Chaos, von dem wiederum kurzfristig vor allem der Iran profitieren dürfte.
Derzeit steht einer weiteren iranischen Expansion in der Region wenig im Weg. Bestenfalls der niedrige Ölpreis, der dem Regime zu schaffen macht, ein paar syrische Rebellen, die vom Westen im Stich gelassen werden, Israel, dessen politische Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind, und Saudi-Arabien, das außenpolitisch mit dem Rücken zur Wand steht und wo gerade der König verstorben ist.
Die USA und Europa hingegen setzen offenbar weiter auf engere Kooperation mit dem Iran, sie hoffen, dass ausgerechnet die Islamische Republik künftig im Nahen Osten für Stabilität sorgen wird. Dass der Iran keineswegs an einer Stabilisierung interessiert ist, sondern an failed states und jenen chaotischen Zuständen, die er gerade überall zu schaffen mithilft, wird man in den USA und der EU, wenn überhaupt, begreifen, wenn es einmal mehr zu spät und die nächste absehbare Katastrophe eingetreten ist.