Die Rückkehr der Religion in die Politik

Mister Jefferson lebt hier nicht mehr

Die Götter waren schon ins Private verbannt. Woran der Nachbar glaubte, war gleichgültig. Über die furchtbare Rückkehr der Religion in die Politik.

Wir waren, am Ende der Moderne und am verheißenen Beginn einer neuen, elektronisch verstärkten Aufklärung (die dann doch ausblieb), mehrheitlich der Meinung, wir würden es wohl schaffen, ohne die Hilfe der Götter zu leben. Ob sie uns verlassen hätten oder ob wir sie abgeschafft hätten, ob sie sich in own personal Götter oder beliebige Gleichnisse verwandelt hätten, das wäre eher eine Frage der Poesie als eine der Politik, und aus eben dem Umstand, ohne die Hilfe der Götter zu leben (zu denen man ja privat und ästhetisch durchaus seine Bindung hätte aufrechterhalten können), hätte uns eine neue Solidarität erwachsen sollen. Nur als Demokraten, nicht als Gläubige würden wir den öffentlichen Raum beanspruchen; Politik und Religion seien ein für allemal voneinander zu trennen, anders würde es nichts mit einer menschenwürdigen Zukunft, gegen die, nebenbei gesagt, kein Gott, der noch bei Versstand ist, ­etwas haben könnte.
Thomas Jeffersons berühmter Satz wäre nun endlich Grund fürs Zusammenleben geworden: »Es verletzt mich nicht, wenn mein Nachbar meint, es gebe zwanzig Götter oder keinen Gott.« Und hatte nicht schon vor langer Zeit ein preußischer König verkündet, in seinem Land könne jeder nach seiner Fasson selig werden? Beide, die demokratische wie die monarchische Auffassung, religiöse Überzeugungen könnten weder den politischen Konsens noch den Gehorsam eines Untertanen ernsthaft gefährden, dem einzelnen aber durchaus bei seinem Wohlbefinden und seiner Vervollkommnung behilflich sein, fußten auf der Überzeugung, dass das Bewusstsein der Menschen weit genug entwickelt sei, um moralische Werte ohne Paradiesversprechung und Höllendrohung zu pflegen. Der aufgeklärte politische Mensch müsste den gläubigen, spirituellen Menschen nicht unbedingt ersetzen, hätte ihn aber, wie man so sagt, domestiziert.
Erstens war alles nicht so einfach, und zweitens kam es ganz anders. Die Götter, die man ins Private verbannt hatte und denen man eine sanfte Verabschiedung aus der Geschichte der Menschheit bereiten wollte, kamen zurück. Als Kriegsgötter. Nicht als Friedensstifter, sondern als amoralische Gewalttäter.
Eine Bruchstelle scheint die Frage gewesen zu sein, ob die Götter das Gute im Menschen lieben, weil es das Gute ist, oder ob das Gute nur das Gute ist, weil es von den Göttern kommt. Damit haben sich die Menschen schon ein paar Jahrtausende abgemüht. Wenn die Götter das Gute um des Guten willen lieben, dürfen sie getrost ein paar kosmische Schritte zurücktreten und die Menschen sich selbst überlassen; wenn sie allerdings der Meinung sind (und dabei noch, wie einige von ihnen, besonders eifersüchtig), dass nichts Gutes komme, außer von ihnen, dann müssten sie natürlich durch die Verbannung in den Privatbereich besonders gekränkt sein und entsprechend zornig reagieren. Das Problem eines jeden »Fundamentalismus« ist also, dass seine Gläubigen nur als gut ansehen können, was von ihren Göttern kommt. In der furchtbaren Umkehrung aber ist alles gut, was von den Göttern kommt, ob es nun im »menschlichen« Sinne gut ist oder nicht. »Fundamentalismus«, auch wenn er der direkten Gewalt entsagt, hat nicht nur einen antiaufklärerischen und antidemokratischen, sondern immer auch einen antihumanen Zug.
Was den ersten Punkt anbelangt, nämlich die zähen Widerstände der Religionen gegen ihre Entpolitisierung im Namen der Demokratie oder der Aufklärung, so musste sich eine Kritik etablieren, die viel weniger den Göttern galt als vielmehr den Personen, Institutionen und Diskursen, die sich weigerten, den Gang einerseits ins Museale (die Kirche, die ihren sozialen Niedergang als Kunstwerk überlebt), andererseits ins Private mitzumachen. Diese Form der Blasphemie ist nicht nur ein Recht der Aufklärung, sondern auch eine Pflicht.
Der Vorrang der Freiheit, der Demokratie und der Vernunft vor aller Religion musste durchgesetzt werden, und deswegen sollte es zu einem erst einmal sehr einfach erscheinenden Deal kommen: a) Staat und Gesellschaft garantieren dem einzelnen die Religionsfreiheit. b) Die Religionen verzichten im Gegenzug darauf, sich in Staat und Gesellschaft breit zu machen. c) Staat und Gesellschaft garantieren dem einzelnen eine Freiheit, die eine Kritik, wenn es sein muss, auch mit drastischen Mitteln, einschließt, gegenüber dem Teil der Religionen, der sich nicht an diese Abmachungen hält. Jede Religion ist erlaubt, und ebenso ist jede Kritik der Religionen erlaubt, solange und soweit sie nicht mit Gesetzen in Konflikt geraten, die nichts mit Religion zu tun haben. Das wird hier und da heikel. Natürlich kann die Ausübung einer Religion nicht erlaubt sein, deren oberstes Gesetz es ist, Ungläubigen die Nasen abzuschneiden. Ist aber die Ausübung einer Religion erlaubt, deren oberstes Gesetz es ist, sich gegenseitig die Nasen abzuschneiden? Den Frauen, den Kindern, den Greisen die Nase abzuschneiden (deren Einverständnis ja durch die Religionszugehörigkeit vorausgesetzt wird, oder etwa nicht)? Ist die Ausübung einer Religion erlaubt, deren oberstes Gebot es ist, sich selber die Nase abzuschneiden?
Neben Elementen der Religion, die sich problemlos privatisieren lassen, Glaubensinhalte, Riten oder kulinarische Vorschriften etwa, treten solche auf, die sich in einem Graubereich bewegen, Eingriffe in den Körper, Kleidervorschriften, die sich nicht auf den privaten Bereich begrenzen lassen, Eingriffe in den öffentlichen Kommunikationsfluss zum Beispiel, und schließlich solche, die sich einfach nicht privatisieren lassen, zum Beispiel jenes Gesetz, das mehr oder zwingend vorschreibt, das göttliche Gesetz auch zum weltlichen zu machen oder Ungläubige nicht nur zu ignorieren (wohlgemerkt: ausschließlich in ihrer religiösen, nicht in ihrer politischen Praxis), sondern aktiv zu bekämpfen, oder zum Beispiel durch Hochzeitsvorschriften die Freiheit der Lebensgestaltung der einzelnen zu beschränken. Die Privatisierung der Religion funktioniert nur, wenn sie zugleich eine Individualisierung ist.
Um Mitglied einer modernen, demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft zu werden, muss jeder religiöse Mensch Elemente seiner Religion opfern, um andere erhalten zu können. Weder ist das Oper seinem Ausmaß nach gerecht verteilt, noch ist es gleich praktizierbar. Deswegen waren in diesem Prozess die Reli­gionen – der Blick auf etliche der früheren »insularen« Gesellschaften mit multireligiöser Kultur zeigt es – nicht nur auf gegenseitige Duldung, sondern auch auf gegenseitige tätige Hilfe angewiesen. Man musste einander, um ein gedeihliches (ja: ein fröhliches) Miteinander zu ermöglichen, gegenseitig bei der Privatisierung helfen, Crossover dulden und andere Merkmale von Gemeinsamkeit mindestens genausoachten wie die religiösen. Humor, nebenbei bemerkt, war immer ein gutes Mittel, so etwas zu erleichtern.
Nun war es fatalerweise nicht nur so, dass die Religionen nicht von der weltlichen Macht lassen wollten, vielmehr fiel es auch der welt­lichen Macht schwer, sich von der Religion als Instrument und Legitimation zu trennen. (Er­innern wir uns an unsere Geschichte: Die monotheistischen Gottesvorstellungen waren ­allesamt zugleich religions-, staats- und »volks«-bildende Konstrukte; eine Entpolitisierung ist daher gewiss etwas anderes als eine formale Beschränkung, sie verwandelt den heißen Kern der Religion selber. Beziehungsweise sie tut es nicht, denn offenkundig bricht er an allen Ecken und Ende in der Krise wieder hervor, auch nach scheinbar langen Perioden des Arrangements sei es mit der Konkurrenz, sei es mit der Aufklärung.)
Dass sich eine der großen Parteien, die sich in der Architektur der bürgerlichen Gesellschaft als »konservativ« anpries, christliche Demokratie nannte, und zwar signifikant gerade in den Ländern, die sich noch mit ihrem faschistischen Erbe herumplagten, in Deutschland und in Italien, war ein bewusster Bruch mit Jeffersons Idee der Privatisierung der Religion. Weil auch dies im Rahmen des allgemeinen Arrangements zu bleiben versprach, fällt es nicht weiter auf, dass sich eine sogenannte christliche Partei darüber empören kann, dass es bei der Konkurrenz nicht anders geht.
Die Antwort auf diesen Widerspruch nun ist der verräterische Satz, mittlerweile offenbar kanonisiert, der Islam gehöre zu Deutschland. Wenn mit Deutschland der Staat gemeint ist, dann ist diese Aussage grundfalsch, denn zu einem Staat gehört der Islam genau so wenig wie jede andere Religion. Ist damit allerdings eine Gesellschaft in Deutschland gemeint, so ist er vollkommen tautologisch, denn die freie Religionsausübung in ihrer privatisierten Form ist ja ohnehin grundgesetzlich garantiert und Demokratie ohne sie nicht denkbar. Wenn es sich also nicht um ein reines Werbebild für »irgendwie« praktizierte Toleranz handelt, bedeutet er einen Deal mit der – wie es scheint unaufhaltsamen – Repolitisierung der Religion.
Christlich nannte sich die CDU wohl nur einem kleineren Teil ihrer Protagonisten zuliebe, in der Hauptsache sollte die Religiösifizierung der Demokratie diese einer bestimmten Klientel schmackhaft machen, die noch ganz und gar nicht bereit war, ihre Religion zu privatisieren, sondern sie als historisch-moralische Kontinuität benutzte, und den Übergang vom Faschismus zur Demokratie moderieren. Die Demokratie zu verchristlichen war ebenso ein Angebot für den »sanften« Übergang vom Faschismus zur Demokratie wie die »Verheimatlichung« der Nation (die im übrigen selbst wiederum nur durch die Verwendung christlicher Symbole und Allegorien funktionieren konnte).
Auch im zweiten deutschen Staat nach dem Faschismus, der DDR, hat es ein Arrangement von Politik und Religion gegeben, das man vielleicht als das genaue Gegenbild ansehen mag. Der Staat konnte die Religion hier nicht gebrauchen, wusste aber um ihre gesellschaftliche Notwendigkeit. Die Duldung ohne Diskurs war ein prekäres Spiel für beide Seiten. Und so trat auch hier das Gegenteil einer Privatisierung, das Gegenteil einer Jefferson-Modellierung ein. Die Folgen bei der »Wiedervereinigung« (die man im Nachhinein, da wir gerade bei Kari­katuren sind, als eine Annexion mit Hilfe der Kirchen ansehen könnte) sind bekannt, und sie betreffen weit mehr als eine (wiederum zum Karikaturhaften tendierende) Herrschaft bestimmter Repräsentanten des neuen Arrangements, das die Privatisierung der Religion auf ganz neue Weise aufhebt.

So wie man von »schwarzer Pädagogik« spricht, kann man wohl auch von »schwarzer Politik« (keine kabarettistische Doppeldeutigkeit ist hier intendiert, aber wenn es schon einmal passt!) sprechen, eine Politik, die mit teilvirtuellen Methoden der Angsterzeugung und mit sehr realer Gewalt operiert, um die Menschen in ihrem Sinne gefügig zu machen. Die Politik der jungen Bundesrepublik war mindestens halbschwarz, sie räumte den christlichen Redaktionen einen breiteren Raum in der politischen Ökonomie ein, als sie nach den Vorgaben einer echten Demokratie nicht nur in Jeffersons Sinne hätten beanspruchen dürfen. Religion und Politik halfen einander und missbrauchten einander.
Der neue, alte Gegner, der Sozialismus, konnte nur bekämpft werden, indem neben vielem anderen (der Angst um die schönen bunten Sachen zum Beispiel) die religiösen Mythen wieder in den Dienst der Politik gestellt wurden, was nicht nur ein gemeinsames Vorgehen von Kirche und Staat gegen unliebsame gesellschaftliche Entwicklungen meint, sondern auch einen identitätspolitischen Kreuzzug. Allerdings gelang hier, was anderswo so radikal scheitern musste, nämlich eine moderate Assemblage von Kirchen und kapitalistischer Demokratie. Dass Religion den »Fortschritt« hier und da ein wenig verlangsamte (die katholische Sexual- und Familienpolitik als Diskursfutter: Der große Abwehrkampf um den nächsten Schritt der Privatisierung wurde ausgerechnet am Körper der Frau geführt und musste zu einer Spaltung in eine offensichtlich starrsinnige Amtskirche, eine zu Aufklärung und, nun eben, spiritualisierter Privatisierung bereite Mehrheit und eine sich radikalisierende, militante Minderheit führen), konnte nichts mehr daran ändern, dass sie in der Form einer Amtskirche, in Form eines mehr oder weniger geschlossenen Ordnungssystems, nicht mehr in der Lage war, Staat und Gesellschaft entscheidend zu prägen. Die Religion verschwand darauf freilich eben nicht in der Jeffersonschen Nachbarschaftsprivatheit, sondern sie wechselte gleichsam den Aggregatzustand, aus einer festen wurde eine flüssige Religion, aus einer hierarchischen eine subjektive, aus einer architektonischen eine mediale. Die Kirchen leerten sich, dafür wurden die Jakobswege voll; nicht ein Priester wurde Bundespräsident, sondern einer, der politische Reden mit Priestertechniken pimpte. Nicht in fester, sondern in flüssiger Form kehrte diese Religion in die Politik zurück und zeigte eines überdeutlich: Die Privatisierung des Religiösen war nicht akzeptiert worden, sondern hatte nur zu neuen Erscheinungsformen geführt.
Zur gleichen Zeit aber, und das eine ist schlechterdings nicht ohne das andere zu denken, etablierten sich immer weiter »orthodoxe« und »fundamentalistische« Inseln in den neuen Flüssen der Religion in der Politik. Die Evangelikalen, keineswegs nur in den USA, wenngleich dort mit den modernsten Mitteln an Medien, Technik und Kapital ausgestattet (woanders begnügt man sich mit aggressiv in den öffentlichen Raum gesetzten Architekturen), und die »Islamisten« wetteifern um die drastischere Rückkehr der Religion in die Politik und mancherorts, wie in Afrika, auch um die brutalere Form des Terrorismus im Namen Gottes.
Jene Demokratie, die sich auf die Fähigkeit der Menschen berufen musste, »vernünftig« mit ihrer Religion umzugehen, wird von der Rückkehr der Götter in ihrer neuen Form als Kriegsgötter (und als Bürgerkriegsgötter) auf doppelte Weise bedroht, durch die innere, flüssige und durch die äußere, »manifeste« Form. Die Religion politisiert sich wieder, schlimmer aber noch: Die Politik in den so oder so zerfallenen Nationalstaaten (die zu traurigen Überresten in den neuen globalen Regulations- und Deregulationszirkeln wurden) rief – man kann es nicht anders nennen als skrupellos – die Religion zu Hilfe. Die furchtbarsten Ausbeuter- und Terrorregimes auf dieser Welt seit dem Jahrtausendwechsel (sehen wir einmal von Nordkorea ab, wo gleich eine eigene Religion erzeugt wurde) sind durch Religionen oder in politisch-religiösen Allianzen entstanden; hingegen ist kein Beispiel bekannt für ein Land, das sich mit Hilfe der Religion demokratisieren konnte.

Vielleicht kann man indes nicht nur daran ablesen, dass der Jeffersonsche Vorschlag der Demokratisierung der Gesellschaft im Zeichen der Privatisierung der Religion gescheitert ist (ein erstes Scheitern der Demokratie, dem weitere folgten). Er setzt einen Menschen voraus, der vollständig in der Vernunft aufgeht und in vollständiger Weise »erwachsen« geworden ist. Ob es diesen Menschen überhaupt geben kann? Er ist jedenfalls nicht, und da schließt sich ein Kreis, nach unserem Kanzlerinnenwort »marktkonform«. Denn, was Thomas Jefferson in seinem Statement nicht bedacht hat: Zu klären wäre nicht nur das Verhältnis der Religionen zur Politik (durch ein einvernehmliches Projekt zur Privatisierung und Individualisierung), sondern auch das Verhältnis der Religionen zur Ökonomie. Religionen sind in der Welt der Waren- und Geldströme dies und jenes (Flucht und Trost möglicherweise eingeschlossen), sie sind immer auch ein Geschäft. Ein Bombengeschäft sogar.
Wollte man die Religionen im Sinne Jeffersons privatisieren, müsste man sie nicht nur entpolitisieren, sondern auch entökonomisieren oder, zeitgemäß, entkapitalisieren. Aber so sehr die Religionen in Politik gewachsen sind, so sehr sind sie in Ökonomien gewachsen, und Ökonomien sind in ihnen gewachsen. Und so wenig die Religionen (als System von Organisationen) von der Ökonomie lassen können, so wenig die Ökonomien von den Religionen. Und das reicht vom »Konsumkapitalismus« bis zur »Plünderungsökonomie«. Nicht viel weniger bedeutend ist etwas, das zwischen beidem vermittelt, die »Sozialarbeit« der Religionen, eine Schnittstelle zwischen der privaten und der politischen Seite, moralisch so unanfechtbar wie tückisch in seiner politischen Ökonomie. Die Religionen als Sozialarbeiter (als Speiser der Armen, als Erzieher, als Heiler der Kranken, Disziplinierer der manischen Störer, Pfleger der Alten) schaffen sich nicht nur Aktionsfelder.
Die »großen« Religionen (mit ihren Welterzählungen und ihrem Organisationsgrad) waren maßgeblich am Entstehen der Nationen beteiligt; das Entstehen von neuen oder erneuerten Nationen in einer Zeit, da Nationen nicht nur als ökonomisches Konzept überholt scheinen und auch die Geschichte der nationalen Demokratien sich dem Ende zuneigt, ist von einer massiven Religiösifizierung begleitet. Der ukrainische Regierungschef lässt keine Gelegenheit aus, sich mit einer Phalanx der klerikalen Elite fotografieren zu lassen, auch Putin macht sich die ursprüngliche Staatskirche zunutze; neo- und kryptofaschistische Regimes wie das in Ungarn binden die Kirchen in ihre Konzepte ein; die Religionen spielten ihre Rolle sowohl beim Zerfall Jugoslawiens wie bei den Neugründungen danach. Religionen sind Verstärker einer Vielzahl von Separatismuskonflikten, und Radio Maria begleitet den Autofahrer durch Europa, stets religiöse Erbauung, Bigotterie und politische Botschaften vermengend, in national abgewogenen Dosierungen. Noch ungleich heftiger ist der politische Islam (wir haben mittlerweile gelernt, an der Existenz einer unpolitischen Religion zu zweifeln) in Zerfall und Neugründung von Nationen involviert. Der Zerfall von Nationen, so scheint es, setzt sich in religiöse Energien um, die eine gemeinsame Wiedergeburt verheißen. Eine vorauseilende Islamisierung des Staates wie sie in der Türkei zu beobachten ist, scheint als eine Notbremse zu funktionieren, wenn sich eine Nation gegenüber ihrer inkohärenten und ungleichzeitigen Gesellschaft behaupten will, während anderswo schwache laizistische Nationen (die, unter anderem, ihren sozialen Verpflichtungen nicht nachkommen wollen oder können) durch »islamistische« Gruppierungen zu Fall gebracht werden.
Natürlich gibt es den Islam und das Christentum nicht. Wie die Nationen, so »leiden« auch die Religionen nicht nur unter Zerfallserscheinungen, sondern auch unter einem erheblichen Sinnverlust. Die Politisierung der Religionen ist ein untrügliches Zeichen für den Verlust ihrer spirituellen und narrativen Substanz. Religionen müssen politisch werden (und politisch werden bedeutet letztlich immer: gewalttätig werden), wenn sie ansonsten ihre Gestalt verlieren würden. Umgekehrt muss Politik religiös werden, wenn es ihr ansonsten an Legitimation und Narration fehlt. Diese neue Einheit verlangt, gleichsam als Spiegelbild des Opfers, das der religiöse Mensch für eine demokratische, moderne Gesellschaft, die Jeffersons Liberalität als Grundlage eines Prosperitätsversprechens, zu erbringen hatte, nicht nur das Opfer der demokratischen, modernen Gesellschaft, sondern auch das Opfer des Prosperitätsversprechens. Das Opfer von Bürger- und Menschenrecht auf dem Altar der Identität durch politisierte Religion und religiösifizierte Politik ist dabei zwingend. Unter vielem anderen ist der Terror eine Praktizierung dieses Opfers. Dass sich eine der entsprechenden Gruppen den Titel »Westliche Bildung ist Sünde« gibt, ist demnach konzentrierteste Programmarbeit.
Ihn als »Krieg der Kulturen« oder gar als »Krieg der Religionen« zu bezeichnen, trifft daher mitnichten den Kern des Konflikts. Das, was wir den »islamistischen Terror« nennen, tötet wesentlich mehr Muslime als »Ungläubige«, und denjenigen, die schon wieder wegen einer »Kränkung« auf die Straßen gehen und Gewalt verüben, scheint es nicht im geringsten zu denken zu geben, dass sich da aus scheinbaren Kollateralschäden eine Hauptsache entwickelt. Muslime werden Muslime töten (müssen), solange sie sich nicht in einem fundamentalen Zusammenschluss von Nation und Religion verbunden fühlen dürfen. Dies ist der Weg des terroristischen politischen Islam von al-Qaida zu IS, von einer militanten Reaktion auf den Zerfall zu einer militanten Neugründung (ob dies nun realistisch ist oder einer Bewegung entspricht, die nichts so sehr fürchten müsste wie die Erreichung ihrer Ziele).
In der Moderne mussten sich, in den industrialisierten Zentren des Westens wie in den sozialistischen Staaten (wenn auch unter ganz anderen Umständen), die Religionen retten, indem sie sich bis zu einem gewissen Grad privatisierten. Diese Domestizierung der Religionen betraf mit wenigen Ausnahmen auch die Länder der damals so genannten Dritten Welt. Die meisten postkolonialen Diktaturen, Kleptokratien oder Terrorregimes unterdrückten nicht nur die sozialistischen und bürgerlich-demokratischen Oppositionellen, sondern auch die politischen und sozialen Potentiale der Religionen. Sowohl die postkolonialen, missionarischen als auch die traditionellen, gegenmissionarischen Religionen arbeiteten »im Untergrund«, so oder so. Die auf diese Weise gesammelten Energien warteten gewissermaßen nur auf den Zusammenbruch von Regimes beziehungsweise von Nationen (oder deren Fiktionen), hier wie dort. Offensichtlich sind alle monotheistischen Religionen in ihrem heißen Kern so auf eine Einheit von Staat, Volk und Religion bezogen, dass das große Projekt der Moderne, die Privatisierung der Religionen (übrigens natürlich Voraussetzung für eine Einwanderergesellschaft mit demokratisch-kapitalistischen Zielsetzungen), ihre Domestizierung, genau dann sein Scheitern so drastisch offenbaren musste, da das zweite große Projekt, die nationalen Demokratien, und das dritte große Projekt, die Aufklärung, ihren Steuerungscharakter verlieren.
Aber steckt dieses Scheitern einer Domestizierung der Religion nicht schon in dem Projekt selbst?

Was geschieht, wenn eine religiöse und eine politische Überzeugung miteinander in Konflikt geraten? So wie sich der »überzeugte Demokrat« von einer in den öffentlichen Raum und zu politischer Macht drängenden Religion bedroht fühlen kann, so kann sich der religiöse Mensch von einer Demokratie bedroht fühlen, die seine religiösen Überzeugungen begrenzt. Kein Schweinefleisch zu essen und zu bestimmten Zeiten zu fasten, das lässt sich einigermaßen konfliktfrei privatisieren, das Gebot einer Strafe für eine bestimmte (religiöse) Missetat indes nicht.
Das Scheitern von Jeffersons Modell kann zwei Ursachen haben. Die erste wäre: Er hat die Menschen überschätzt. Sein aufklärerisches Menschenbild war, nett gesagt, utopisch, weniger nett, mit Richard Rorty gesagt: »absolutistisch«. Die Religionen, so scheint es, haben nicht nur unterschiedliche Techniken, sondern auch unterschiedliche Grenzen der Privatisierung. Die Privatisierung der Religion kränkt insbesondere jene, die sich als »historische Religionen« verstehen (im Gegensatz etwa zu lokalen Göttern oder zu zyklischen Weltbildern).
»Wenn der Einzelne in seinem Gewissen Überzeugungen vorfindet«, so Richard Rorty, »die für die öffentliche Politik von Belang, aber nicht zu rechtfertigen sind auf der Basis von Überzeugungen, die ihm und seinen Mitbürgern gemeinsam sind, muss er sein Gewissen auf dem Altar des öffentlichen Nutzens opfern.«
Wie kann man zu diesem Opfer überredet werden? Natürlich erst einmal durch einen Nutzen. Durch die Privatisierung meiner Religion wachsen mir als gesellschaftlichem und ökonomischem Wesen Vorteile zu. Daher ein bekannter Widerspruch: Einem urbanen Mittelstand fällt die Privatisierung der Religion leichter als einer entwurzelten und vom sozialen Aufstieg ausgeschlossenen Unterschicht. Auf der einen Seite aber wächst sich ein Schuldgefühl aus – das Opfer, das man für die Integration und den Wohlstand gebracht hat, kann nicht vollständig innerlich verarbeitet werden, und der Konflikt bricht wieder auf, wenn persönliche Krise und äußere Verstärkung zusammen kommen. Und auf der anderen Seite entfalten sich die destruktiven, »milieubedingten« Energien und sehen die politische Religion als ideale Lösung, sie zugleich auszuagieren und zu sanktionieren. So mag sich das Phänomen erklären, dass sich der »islamistische Terror« sowohl aus jungen Angehörigen der »integrierten« Mittelschicht als auch aus der depravierten, gewohnheitskriminellen »Unterwelt« rekrutieren kann.
Zum zweiten könnte sich eine Domestizierung der Religionen durch einen Diskurs vollziehen. Man hörte und wurde gehört bei der Bestimmung dessen, was richtig, angenehm, vernünftig, schön und sinnvoll ist. Die Elemente der religiösen Praxen wären selbst Gegenstand der demokratischen Verhandlungen und hätten dabei eine mehr oder weniger selbstverständliche Würde. Statt sie also schlicht zu opfern, könnte der religiöse Mensch seine Religion öffentlich erklären. Sie wäre dann allerdings auch für andere Sinn- und Erklärungssysteme, die Wissenschaft, die Medien, die Kunst, offen, darauf zu reagieren. Die Privatisierung der Religionen aber hat auch dazu geführt, dass Techniken des Verbergens und Maskierens, der Ausschließung auch, entwickelt wurden. Eine Religion, die weder vollständig privatisiert noch demokratisch veröffentlicht werden kann, muss zwangsläufig eine gekränkte und eine »verschwörerische« sein.
Zum dritten könnte die Domestizierung der Religion durch die Ausstattung des Rückzugsortes geschehen. Die Privatsphäre darf, unter Duldung der Jeffersonschen Nachbarn, bis zu einem gewissen Grad ausgedehnt werden. Das Opfer, das die Religiösen der Zivilgesellschaft bringen, wäre miteinander abgeglichen, so dass keine Konkurrenz entsteht zwischen einer Religion, die mehr und einer anderen, die weniger Raum aus dem Privaten in die Öffentlichkeit hinein beanspruchen darf.
In besonderen Situationen lassen sich allerdings alle diese Argumente für das Opfer umdrehen. Es wird kein Vorteil in einer Gesamtgesellschaft gewährt, so dass es von Vorteil in einer »Partialgesellschaft« oder »Parallelgesellschaft« ist, dieses Opfer nicht zu vollziehen, sondern es im Gegenteil offensiv zu verweigern. Der Diskurs wurde von der Gesamtgesellschaft abgelehnt oder nicht ernst genommen. Der Rückzugsraum wird unter Druck gesetzt, der Wettbewerb zwischen den Religionen wird – aus unterschiedlichen Interessen und mit unterschiedlichen Techniken – angeheizt. Dann schlägt die in der Privatisierung angestaute Energie durchaus explosiv zurück, und die Legitimation dazu verschafft die Lektüre der jeweiligen heiligen Schriften auf die Aspekte der Kriegsgötter hin. Und so kehrt der domestizierte Friedensgott als unkontrollierbarer Kriegsgott zurück.
All das macht eine religiöse Kultur oder eine religiöse Subkultur noch nicht automatisch fundamentalistisch oder terroristisch. Aber sie bilden dadurch ein offenes System, das die Grenzen der Privatisierung der Religion immer weiter in Frage stellt. Das Instrument dazu ist die Kränkung, die wir als geradezu maschinelle Reaktion derzeit erleben dürfen. Die absehbare Reaktion von islamischen Gruppierungen oder Milieus auf Karikaturen ihrer religiösen Zeichen (beziehungsweise des Unzeichenbaren) wäre selbst nur in Form einer Karikatur darzustellen, verböte sich das nicht durch eben das, was dem Laizisten heilig sein muss, nämlich das Menschenleben, die Unversehrtheit und die Freiheit durch den brutalen und barbarischen Angriff auf kulturelle Objekte und schließlich auf Menschen. Natürlich ist es unsinnig, den Islam sowie die repolitisierte Religion insgesamt unter einen terroristischen Generalverdacht zu stellen. Aber genauso unsinnig ist es, an eine klare und verlässliche Trennungslinie zwischen einer guten, domestizierten und einer bösen, terroristischen Religion zu glauben.
Warum sind die Götter als Kriegsgötter, als ihre eigenen Negationen, zurückgekehrt? Welche heiligen Schriften man auch studiert, diese »böse Rückkehr« steckt in allen, in den monotheistischen Religionen natürlich ganz besonders. Gewiss findet man in ihnen immer auch die andere Seite, die Seite von Göttern, die den Menschen helfen wollten, zu einer Gemeinschaft der Freien, Gerechten und Solidarischen zu werden. Doch ist das nicht nur eine Frage der Lesart (Terroristen oder religiöse Begleiter terroristischer Nationalisten hätten mithin ihre heiligen Schriften nur falsch gelesen oder »Dinge aus dem historischen Zusammenhang« gerissen, wie uns die zivilgesellschaftlichen Wissenschaftler aller Religionen nicht müde werden zu erklären), sondern extrem schmerzhaftes Symptom einer grandiosen Modernisierungskrise. Die Umwandlung des Konsenskapitalismus in den Finanzkapitalismus, die Umwandlung der nationalen Demokratien in universale Steuerungsinstanzen ohne andere Legitimation als ihre Funktionalität in dieser Umwandlung selbst, kurzum die fundamentale Umwandlung der Weltordnung nimmt eine ungeheure Masse Menschen einfach nicht mit. Die überflüssigen Menschen indes können kein revolutionäres Subjekt bilden. Neben einem hoffnungslosen Versinken in Drogen, Entertainment, Verblödung und Entkräftung im Überlebenskampf bieten sich nur die beiden Dinge als Identitätsrettung an, die objektiv so überflüssig werden wie es die Menschen subjektiv werden: die Nation und die Religion. Beides als gekränkte und bedrohte, beides als militante und terroristische Varianten. Einmal als fundamentales Gegensatzpaar, einmal als bizarre Verbindung. Schwer zu sagen, was von beidem schrecklicher ist. Beides verlangt Menschenopfer, Blutbäder, Terrorakte, das Unbewohnbarmachen immer weiterer Zonen der Welt.
Mr. Jefferson lebt hier nicht mehr. Er geriet in einen Religionsstreit seiner Nachbarn, die sich nicht nur über einander, sondern auch über einen Kerl empörten, der behauptete, ihr Glauben tue ihm nicht weh. Religionen, die niemandem weh tun, gibt es nicht.