Der jüngste Staat Europas zerfällt. Ein Bericht aus dem Kosovo

»Nichts wie weg«

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Vielleicht war es die Tränengaswolke über Pristina am 27. Januar, die manche Menschen zu der Entscheidung bewegte, das Land endgültig zu verlassen. Bereits zwei Tage zuvor war das Parlament des Kosovo angegriffen worden, wobei die Glasfassade der unteren Stockwerke zerstört wurde. An diesem Tag eskalierten die Proteste mit Ansage. Dadan Molliqaj, Mitglied der nationalistischen Partei Vetëvendosje (Selbstbestimmung), stellte ein Ultimatum: »Wir geben der Polizei 15 Minuten, um die Barrikaden zu entfernen, weil wir das Recht haben, auf dem Skanderbeg-Platz vor dem Parlament zu demonstrieren.« Als diese Worte durch den Lautsprecher dröhnten, war allen Anwesenden klar, was passieren würde.
Auf die Minute genau begannen die Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei. Menschen strömten in die umliegenden Cafés, um sich die Augen auszuwaschen. Viele drückten sich Zwiebeln in die Augen. Die Kellner hielten die Türen zu, weil sie Angst hatten, dass ihre Cafés in Brand gesetzt werden. Regierungsangaben zufolge wurden an diesem Tag 80 Personen verletzt, wahrscheinlich waren es mehr.
Die Proteste richteten sich gegen die amtierende Regierung, die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal sechs Wochen im Amt war. Zuvor herrschte ein halbes Jahr lang politischer Stillstand, weil keine stabile Regierung zustande kam. Die Jugend kommentiert die Regierungsbildung auf zweierlei Arten: Die einen werfen Steine auf das Parlament und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die anderen verlassen das Land.
Die Partei Vetëvendosje war Hauptinitiatorin der Proteste. Sie versteht sich als eine linke Bewegung, hervorgegangen aus den Kämpfen für die Rechte von Albanern im ehemaligen Jugoslawien. In letzter Zeit macht die Partei allerdings vor allem mit antiserbischen Ressentiments Stimmung und fordert eine Vereinigung des Kosovo mit Albanien. Die Demonstranten hatten zwei Forderungen, die beide antiserbischen Charakter tragen.
Die erste Forderung war der Rücktritt des serbischstämmigen Ministers Aleksandar Jablanović, weil dieser Mütter von Kriegsopfern als »Wilde« bezeichnet hatte, die serbisch-orthodoxe Pilger in Gjakova mit Eis beworfen hatten. Diese Forderung wurde inzwischen erfüllt. Die zweite Forderung richtete sich direkt gegen Serbien. Die Demonstranten skandierten: »Trepča gehört uns, Trepča gehört nicht Serbien.« Die Trepča-Minen waren einst der größte Devisenlieferant Jugoslawiens und der größte Reichtum des Kosovo. Hier lagern mehr Blei, Zink, Silber, Gold und Kadmium als sonst irgendwo in Südosteuropa. Eine Verstaatlichung der Minen wurde auf Druck Serbiens und der USA verschoben.
Neben dem realen wirtschaftlichen Wert haben die Trepča-Minen auch einen symbolischen Wert für die Kosovo-Albaner. Am 20. Februar 1989 begannen über 1 300 Arbeiter einen Hungerstreik, um gegen die Abschaffung der Autonomie des Kosovo durch das Regime von Slobodan Milošević zu demonstrieren. Die Minenarbeiter streikten acht Tage und Nächte lang, bevor sie aus den Stollen herauskamen und verhaftet wurden. 180 Streikende mussten daraufhin ins Krankenhaus gebracht werden. Milošević veranlasste, dass alle albanischen Arbeiter vor Ort entlassen und durch Serben ersetzt wurden. Deswegen kochen bei dem Thema auch schnell die Emotionen hoch.

Auf einem Schild, das eine junge Frau bei den Protesten in die Luft hielt, war zu lesen: »Wir haben nicht genug Essen, um die Armen zu speisen, aber wir haben genug für die Serben.« Am einprägsamsten brachte Driton Caushi, Vertre­ter von Vetëvendosje, die Stimmung auf den Punkt: »Ministerpräsident Isa Mustafa dient nicht dem Volk, er dient dem serbischen Faschismus.« Der Regierung vorzuwerfen, sie sei »proserbisch«, zeugt von der Angewohnheit, jedes Thema unter dem Gesichtspunkt nationalistischer Befindlichkeiten zu betrachten.
Die Trepča-Minen waren das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt, die einst Titova Mitrovica hieß. Von den Zeiten der »Brüderlichkeit und Einheit« zeugt noch ein Monument für die Minenarbeiter aus dem Jahre 1973. Zwei Säulen halten einen Minenwagen. Gewidmet ist das Monument den serbischen und albanischen Minenarbeitern, die im antifaschistischen Kampf ihr Leben gaben. Das Monument symbolisiert die Überwindung der Konflikte zwischen Serben und Albanern. Heute ist es bedeutungslos. Die friedliche Koexistenz ist vergessen und einer revisionistischen Geschichtspolitik zum Opfer gefallen. Mitrovica wurde entlang des Flusses Ibar geteilt. Im Norden die Serben, im Süden die Albaner. Dazwischen blanker Hass, gegenseitige Vorwürfe und die ­Erinnerung an den Kosovo-Krieg.
Mitrovica hat ein neues Monument. Die Brücke über die Ibar ist zum Symbol des Hasses zwischen Serben und Albanern geworden. Italienische KFOR-Soldaten sind dort bis zum heutigen Tag stationiert, um für Frieden zu sorgen. Wer die Brücke überquert, wird schief angeschaut. Zwei junge Männer erkundigen sich nach unseren Serbischkenntnissen. Nach bestandenem Test rufen die beiden erfreut: »Ihr seid nun auf der sicheren Seite der Stadt, wir werden euch beschützen.«
Der Autoverkehr zwischen den beiden Stadtteilen ist unterbrochen, weil auf der serbischen Seite die Straßen aufgebrochen wurden. Nun liegt dort Schutt. Auf der serbischen Seite der Brücke wurde zudem der »Park des Friedens« errichtet, mit Rasen und ein paar Betonblumentöpfen drum herum. Der »Park des Friedens« wurde von albanischer Seite als Provokation betrachtet, weil die für Autos gedacht Brücke weiter unbefahrbar bleibt. Im Juni vergangenen Jahres kam es wiederholt zu Ausschreitungen. Diesmal, weil albanische Nationalisten und UÇK-Anhänger versuchten, auf die andere Seite zu gelangen, den Park zu zerstören und Serben im anderen Stadtteil anzugreifen.
Eine Studentin im Süden Mitrovicas hat genug von der Situation vor Ort: »Mir geht das alles auf die Nerven. Ich mache meine Abschlussprüfung in Psychologie und dann ziehe ich nach München. Mein Mann ist schon dort.« Ein Visum für Deutschland hat sie nicht, weswegen sie auch nicht namentlich genannt werden will. Ein Pass aus dem Kosovo ist nicht viel wert. Auch Akademiker haben es nicht leicht, ein Arbeitsvisum für die EU zu bekommen. Serbien, Mazedo­nien, Montenegro und Albanien – danach endet die Reisefreiheit der meisten Kosovaren.
Niemand weiß, warum gerade jetzt so viele Menschen den Kosovo verlassen. Die wirtschaftliche Situation hat sich nicht verschlimmert und die neue Regierung ist auch nicht schlechter als die vorherigen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 50 000 und 100 000 Kosovo-Albaner seit Jahresanfang versucht haben, den Kosovo dauerhaft zu verlassen. Dabei hat das Land gerade mal 1,8 Millionen Einwohner.

Bestimmte Gruppen aus dem Kosovo suchen bereits seit langem das Weite. Während die Situation für Roma, Balkan-Ägypter und Aschkali im gesamten Balkanraum schwierig ist, kommt im Kosovo hinzu, dass ihnen vorgeworfen wird, im Krieg auf der Seite der Serben gestanden zu haben. Seit dem Kosovo-Krieg leben die meisten von ihnen in abgeschotteten Elendsquartieren. Viele Menschen hier sprechen ausgezeichnetes Deutsch. Einige der Kinder sprechen nur Deutsch und Romani und sind des Albanischen überhaupt nicht mächtig. Es sind die Kinder, die in Deutschland geboren und dennoch abgeschoben wurden.
Die Gebiete, in denen Roma nach dem Kosovo-Krieg angesiedelt wurden, waren nicht nur schäbig, in manchen Fällen waren sie sogar verseucht. Die Flüchtlingslager Žitkovac, Kablare und Česmin Lug, unweit von Mitrovica, wurden auf Indus­triebrachen von Trepča errichtet. Bei den Kindern in den Flüchtlingslagern erfasste man die höchste Bleibelastung, die jemals in menschlichem Haar gemessen wurde.
Es ist daher wenig überraschend, dass die meisten Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter das Land verlassen wollen. Als die Bundesregierung sich dazu entschloss, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina kurzerhand zu sicheren Drittstaaten zu erklären, blieb der Kosovo außen vor. Nun werden wieder Stimmen laut, die fordern, dieses Versäumnis nachzuholen. Dabei werden die Asylanträge aus dem Kosovo sowieso durchgängig abgelehnt, aber all das interessiert die Menschen vor Ort nicht. Sie kommen trotzdem.

Nun geht auch die Mittelschicht. Es verlassen so viele Kosovo-Albaner das Land wie seit den Vertreibungen durch das Regime von Slobodan Milošević nicht mehr. Vergangene Woche feierte der Kosovo den siebten Jahrestag seiner Unabhängig. Das Land wird faktisch seit den Nato-Bombardierungen 1999 nicht mehr von Serbien regiert, erlange die Unabhängigkeit offiziell jedoch erst am 17. Februar 2008. Richtige Feierlaune ist dennoch nicht aufgekommen. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in absoluter Armut, also von weniger als 1,10 Euro am Tag. Zwei von drei Jugendlichen sind arbeitslos.
Vom Skanderbeg-Platz, wo die Proteste stattfanden, bis zur zentralen Omnibusstation in Priština braucht man etwa zehn Minuten mit dem Auto. Der Weg führt die George-Bush-Straße entlang, dann biegt man in den Bill Clinton-Boulevard ein. Zum Dank für die Hilfe im Kosovo-Krieg wurde dem US-Präsidenten eine Statue errichtet. Clinton grüßt die Kosovaren mit erhobener Hand und einem breiten Lächeln, als lüde er sie dazu ein, Teil der westlichen Wohlstands­gesellschaft zu werden.
500 Meter von der Statue entfernt befindet sich einer der deprimierendsten Orte des gesamten Landes. Drei junge Männer warten auf ihren Bus und erklären: »Wir wollen nach Italien, Deutschland oder in die Niederlande. Hauptsache weg.« Die naive Anmerkung, dass der Kosovo doch ganz schön sei, quittieren sie mit der Aussage: »Nein, nichts ist gut im Kosovo.« Vom Busbahnhof in Priština fahren derzeit Tausende Kosovaren nach Serbien. Sie wollen von dort über die Grenze nach Ungarn in die EU gelangen. Die ungarische Botschaft im Kosovo schätzt, dass bis zu 60 000 Kosovo-Albaner sich derzeit in Ungarn aufhalten. Manche versuchen, auf gut Glück über die grüne Grenze zu laufen, andere bezahlen Schlepper, die sie über die Grenze bringen. Ein Stehplatz für die nächtliche Überfahrt in einem VW-Transporter kostet rund 250 Euro. Die Schmuggelrouten wurden bereits während des Embargos gegen Serbien erprobt und funktionieren bestens. Danach fahren die Kosovaren mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiter nach Wien oder München. Berichte über Mafiaclans, die Menschen für Tausende von Euro über die Grenze schmuggeln, dürften deutlich übertrieben sein.

In den vergangenen Tagen kam es auf den Busbahnhof zu Handgreiflichkeiten. Es gibt mehr Menschen, die aus dem Land herauswollen, als es Plätze in den Bussen gibt. Fast jeder hier kennt jemanden in einem EU-Land. Ein Viertel der Kosovaren lebt in der Diaspora, die meisten in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den USA. Die Überweisungen von Verwandten sind für viele notwendig, um über die Runden zu kommen, und machen einen relevanten Teil des kosovarischen Bruttoinlandsprodukts aus.
Die ungarische Polizei hat kürzlich 2 000 Menschen festgenommen, die versucht haben, die serbisch-ungarische Grenze illegal zu überqueren – an nur einem Tag. Teilweise versuchen ganze Familien, gemeinsam die Grenze zu überqueren. Kosovo ist nicht nur das jüngste Land Europas, sondern auch das Land mit der jüngsten Bevölkerung. Die Jugend sieht keine Chancen – auch, weil Jobs nach Parteibuch und Kontakten vergeben werden und nicht nach Quali­fikation. Es gibt Schulen, die in den vergangenen Wochen die Hälfte ihrer Schüler verloren haben.
»Weggehen ist keine Lösung«, sagte die Prä­sidentin Atifete Jahjaga und bat ihre Landsleute, zu bleiben und an der Situation im Kosovo zu arbeiten. Die haben ihre Hoffnung jedoch längst begraben und versuchen, das Land zu verlassen.
Nach Angaben des serbischen Innenministeriums liegen derzeit 60 000 Passanträge aus dem Kosovo vor. Weil Serbien den Kosovo weiterhin als sein Staatsgebiet betrachtet, können Kosovo-­Albaner einen serbischen Pass beantragen, mit dem sie legal in die EU einreisen können. Die kosovarische Journalistin Una Hajdari kommentiert dieses Phänomen mit den Worten: »Wenn Kosovo-Albaner sich sieben Jahre nach der Unabhängigkeit wieder serbische Pässe holen, um hier rauszukommen, dann gibt es nichts, was sie hier noch halten kann.«