Michael Mörth im Gespräch über die Menschenrechte in Guatemala

»Die Justiz ist weitgehend kontrolliert«

Vor zwei Jahren noch, als der Prozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt stattfand, gab es in Guatemala Hoffnung, das Justizsystem werde unabhängiger und Menschenrechtsverbrechen würden endlich verfolgt. Doch Guatemala entwickelt sich zum Narco-Staat und die Verteidigung von Grundrechten bleibt weiterhin gefährlich. Michael Mörth lebt seit mehr als 20 Jahren in Guatemala und war im ersten Prozess gegen Ríos Montt Nebenkläger. Der 62jährige Anwalt arbeitet in der wichtigsten Menschenrechtskanzlei des Landes, dem Bufete Juridico de Derechos Humanos (BDH). Mit ihm sprach die Jungle World über die Entwicklungen in Guatemalas Justizsystem.

Am 10. März wurden in Guatemala zwei Reporter in der Stadt Mazatenango auf offener Straße erschossen. Nimmt die Gewalt gegen Kritiker von Regierenden wieder zu?
Die Gewalt hat nie aufgehört. Guatemala gehört zu den gefährlichsten Ländern weltweit – allerdings hat die Ermordung der beiden Journalisten auf offener Straße und die Verletzung eines weiteren Kollegen in Mazatenango einen speziellen Hintergrund. Die beiden Journalisten waren von zwei Bürgermeistern, einer direkt aus Mazatenango, der andere aus einer benachbarten Gemeinde, massiv bedroht worden. Der eine Reporter hat hier in Guatemala-Stadt am Vortag noch eine Anzeige gegen einen dieser Bürgermeister erstattet, um sich zu schützen. Das bedeutet, dass er sehr konkret bedroht wurde. Beide Journalisten hatten die öffentlichen Finanzen in der betroffenen Region unter die Lupe genommen, waren auf Korruption gestoßen und hatten da­rüber berichtet. Das hat ihnen wahrscheinlich das Leben gekostet. Insgesamt sind in Guatemala binnen eines Jahres acht Reporter ermordet worden. Journalisten, die investigativ recherchieren und ihre Ergebnisse publizieren, leben sehr gefährlich in Guatemala. Das ist eine Katastrophe.
Zwischenzeitlich gab es Hoffnung, dass Morde in Guatemala geahndet werden. Nimmt die Gewalt wieder zu?
Wenn ich mir ansehe, was bei uns in der Kanzlei, die auf Verbrechen gegen die Menschheit spezi­alisiert ist, an Fällen eintrifft, dann muss ich eindeutig sagen: Ja. Wir haben es mit bedrohten, mit kriminalisierten Reportern zu tun, die mit allen Mitteln an ihrer Arbeit gehindert werden. Aber wir vertreten auch immer mehr Menschenrechtsaktivisten, deren Arbeit durch Anzeigen, Beschuldigungen, Verleumdungen erschwert und verunmöglicht werden soll. Insgesamt ist die Situation ausgesprochen schwierig. Die Fälle, in denen über Anzeigen Aktivisten und Journalisten der Mund verboten wird, werden mehr.
2014 wurden die wichtigsten Stellen im Justizsystem neu besetzt. Mit welchem Effekt?
Bevor es faktisch zu diesen Neubesetzungen kam, hatten wir zwei wichtige Triebkräfte für den Aufbau eines effektiven Justizsystems verloren. César Barrientos, der Präsident der Strafkammer des Obersten Gerichts, verübte Anfang März 2014 Selbstmord, weil er dem Druck nicht mehr gewachsen war. Unstrittig ist, dass er Selbstmord verübte, aber woher der Druck kam, dem er ausgesetzt war, ist nach wie vor nicht klar. Die zweite Triebkraft, die wir verloren haben, ist die Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz, die sieben Monate vor dem Ende ihrer Amtszeit das Büro räumen musste. Faktisch wurde sie entfernt, weil sie für Veränderung stand. Mit dem Verlust dieser beiden zentralen Figuren hat auch das juristische System, haben die neuen Kammern für ­Kapitalverbrechen, die auf Initiative der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit eingeführt worden waren, an Schlagkraft verloren. Insgesamt wurde das Justizsystem merklich geschwächt und daran haben einflussreiche Kreise durchaus ein Interesse.
Es werden Richter eingeschüchtert und reglementiert.
Genau. Derzeit liegt uns eine Liste von zehn Richtern vor, die sich gegen Einflussnahme von außen gewehrt haben und die nun versetzt werden: nach Huehuetenango, in den Petén und anderswo. Das ist für die Familien alles andere als einfach und alle diese Richter hatten sich für die Unabhängigkeit der Justiz engagiert – das ist die Quittung. Das sind eindeutige Disziplinarmaßnahmen.
Klingt fast wie eine »Säuberung« im Justiz­system.
Ja, ich gehe davon aus, dass das so ist. Die Ansage ist: Wir wollen keine unabhängige Justiz, wir wollen die Justiz kontrollieren. So wurde auch bei den Neubesetzungen von Richterstellen in den vergangenen Monaten vorgegangen. Da wurde nach Parteibuch besetzt. Das wurde auch von den diplomatischen Vertretungen und von der UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala kritisiert. Zwar hat dies kurz für Aufsehen gesorgt und auch dazu geführt, dass das Verfassungsgericht insistiert hat, aber letztlich ohne echte Folgen.
Welche Auswirkungen hat das?
Heute haben wir eine Strafkammer, die eine vollkommene Kehrtwende weg von der Politik der vergangenen Jahre vollzogen hat. So werden zum Beispiel viele wissenschaftliche Mitarbeiter entlassen, die Urteile basierend auf internationalem Recht geschrieben haben. Heute ist internationales Recht in den Urteilen verpönt – absurd, aber real. Da wird der rollback deutlich sichtbar.
Das klingt ernüchternd. Ist die Justiz kalkulierbar geworden?
Nein, so weit geht es nicht, aber es gibt deutlich mehr Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Auf der anderen Seite haben wir trotz der negativen Vorzeichen hier und da auch Erfolge zu verzeichnen. Wir haben einen Freispruch von vier An­geklagten in einem Kriminalisierungsfall erreicht, wir haben einen Schuldspruch gegen die Firma eines mental gestörten Privatdetektivs erreicht, der eine Menschenrechtsaktivistin erschossen hatte. Und gestern wurden alle Anklagepunkte gegen Yasmín Barrios fallengelassen, die Rich­terin, die den Prozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt geleitet hat. Die guten Urteile kaschieren aber nur unzureichend, dass die Justiz in Guatemala weitgehend kontrolliert ist. Das war vor einem Jahr noch ganz anders.
Im April und Mai 2013 fand der Jahrhundertprozess gegen Ríos Montt statt. Der ehemalige Diktator wurde zu 80 Jahren Haft wegen Völkermords verurteilt, doch das Urteil wurde wenige Tage später vom Verfassungsgericht kassiert und eine Neuverhandlung für den ­Januar 2015 angeordnet. Wie sieht es derzeit aus?
Der Prozess wurde am 5. Januar wieder aufgenommen, aber die Verteidigung hat sich einer neuen Strategie bedient: Verzögerung. Zudem plädiert die Verteidigung auf Nicht-Prozessfähigkeit des angeklagten Ríos Montt. Daher gehen wir nicht davon aus, dass der Prozess stattfinden wird, und wir glauben auch nicht, dass es ein faires Urteil geben wird. Letztlich gibt es ein solches Urteil ja, denn wir haben es mit einer ille­gitimen Wiederholung des Prozesses zu tun.
Dagegen läuft eine Klage vor dem Interamerikanischen Menschengerichtshof. Wie ist der derzeitige Stand?
Der Fall liegt seit einem Jahr bei der Kommission und die Chancen stehen nicht schlecht, dass der Antrag in diesem Jahr zugelassen wird und dass dann die folgenden Schritte relativ zügig vonstatten gehen. Unser Ziel ist es, das Urteil des guatemaltekischen Verfassungsgerichts aufzuheben, das das Urteil des Prozesses gegen Ríos Montt wegen Verfahrungsfehlern annulliert und eine Neuverhandlung angesetzt hatte.
Wie schätzen Sie die Chancen ein?
Ausgesprochen gut, denn die Beweislast ist erdrückend. Aber es gibt natürlich auch politischen Druck.
Vor wenigen Wochen ist der ehemalige Präsident Alfonso Portillo (2000 bis 2004) nach einer in den USA verbüßten Haftstrafe wegen Korruption nach Guatemala zurückgekehrt. Was bedeutet das rund ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen im September?
Der Herausgeber der Tageszeitung El Periódico hat geschrieben, dass es für ihn unerträglich sei, dass ein Präsident, der zugegeben hat, sein Volk um mehrere Millionen Quetzales bestohlen zu haben, nach Guatemala zurückkehrt und von den Parteien umworben wird. Diese Einschätzung teile ich und das Geschehen zeigt, wie weit der Verfall der Moral zumindest bei den Eliten vorangeschritten ist.
Nun hat sich die katholische Kirche eingeschaltet, in Person des Erzbischofs Óscar Julio Vian Morales. Er hat an die Bevölkerung appelliert, »nicht zu vergessen und sich zu erinnern, was passiert ist«. Gilt das auch für die Jahre des Bürgerkriegs?
Ich gehe davon aus, dass die Kirche dafür plädiert und dass sie dem skrupellosen Vorgehen der Eliten Paroli bietet.
Im September soll in Guatemala gewählt werden. Haben Sie Hoffnung auf Veränderung? Und wie beurteilen Sie die Bilanz von Otto Pérez Molina, einem ehemaligen General, der sich die Sozialpolitik auf die Fahne geschrieben hatte?
Die Bilanz von Otto Pérez Molina ist verheerend, denn weder ist die Steuerreform Realität geworden, noch ist Guatemala heute deutlich sicherer oder besser ernährt. Die Strategie Pérez Molinas hat nicht gegriffen: Die Kriminalitätsstatistiken haben sich nur wenig verbessert, Prävention findet nicht statt und in der öffentlichen Wahrnehmung gilt die Regierung als korrupt. Alternativen sind leider nicht vorhanden, denn zwischen den Parteien sind die Unterschiede nur marginal, weil alle um bestimmte Persönlichkeiten herum gruppiert sind. Das ist das zentrale Defizit.
Derzeit scheint die Situation in Guatemala so brisant, dass selbst das alljährliche Festival des Menschenrechtsfilms nicht stattfindet. Die Organisatoren gehen ins Exil – unter anderem nach Berlin, aber auch nach Buenos Aires und ins nahegelegene San José in Costa Rica. Eine richtige Entscheidung?
Ich finde es eine traurige, aber nachvollziehbare Entscheidung. Sie steht für die Situation in Guatemala und die Organisatoren werden ihre Gründe haben, weshalb sie sich dazu entschieden haben. Ich werde das Festival hier aber vermissen.