Warum der Jemen wichtig ist. Eine Analyse

Der König lässt es stürmen

Im Jemen interveniert eine von Saudi-Arabien geführte Koalition gegen die vom Iran unterstützten Houthis. Die militärischen Ziele sind unklar.

Wenn es ein wirklich übles Anzeichen für die Entwicklung im Jemen gibt, dann ist das wohl die Ankündigung des somalischen Innenministers Mohammed Abdi Hayr Mareye, wegen der verschlechterten Sicherheitslage im Jemen die dort auf eine Evakuierung wartenden Somalier zurückzubringen. Das wird sich kaum auf alle geschätzt 500 000 Somalier beziehen, die seit den neunziger Jahren vor dem somalischen Bürgerkrieg in den Jemen geflüchtet sind. Flüchtlinge aus einem failed state: Es sieht so aus, als ob dieses Schicksal in nächster Zeit auch viele Jemeniten selbst betreffen könnte. Der Zerfall des jemenitischen Staats war seit langem vorhersehbar, die Intervention der saudischen Luftwaffe im Jemen könnte nun der entscheidende Impuls sein, die seit Jahren zwar immer wieder aufflackernden, aber vergleichsweise begrenzten Kämpfe in einen desaströsen, offenen Krieg zu überführen.
Der Angriff der Saudis und ihrer dazugekauften arabischen Verbündeten hatte ebenfalls eine lange Ansagezeit, wenn er auch nicht in dieser völlig unverdeckten Form zu erwarten war. Aber das ist ein eher schlechtes Zeichen, denn die Bombenangriffe der »Operation Decisive Storm« – was wohl nicht zufällig an »Desert Storm«, den Irak-Krieg des Jahres 1991, erinnert – müssten zumindest irgendein symbolisches Ziel erreichen, um ohne Gesichtsverlust eingestellt werden zu können. Aber was könnte das sein? Die mittlerweile nach dem Vorbild der Hizbollah organisierten Houthis werden die Waffen nicht einfach so strecken. Wieso sollten sie? Es sieht auch nicht so aus, als ob die Strategen in Riad einen Plan B hätten, und womöglich ist »Decisive Storm« genau das, wonach es momentan aussieht: die Entscheidung, offen Krieg zu führen, um bewusst eine Eskalation herbeizuführen. Wenn die Kosten in einem Konflikt dramatisch steigen, kommt es darauf an, wer das meiste Geld hat. Und da können die Saudis problemlos mithalten.

Hinter der tatsächlich umwälzenden Entscheidung der Golfmonarchen, selbst zu kriegführenden Akteuren zu werden, steht der Rückzug der US-Amerikaner unter Präsident Barack Obama aus dem Nahen Osten sowie deren Kooperation mit dem Iran. Der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Anwar Mohammed Gargash, brachte es bei Twitter auf den Punkt: »Strategisch profitiert der Iran von den Veränderungen in der Region und wir können nicht tatenlos zusehen, wenn die Houthis unter der iranischen Fahne marschieren.«
Die Herrscher auf der arabischen Halbinsel – mit der Ausnahme von Oman, das eine außenpolitisch extrem vorsichtige Sonder- und Vermittlerrolle spielt – mussten nach ihrem strategischen Kalkül der von den USA zuletzt immer offener tolerierten Expansion des Iran irgendwann ein Hindernis in den Weg stellen. Dieser Zeitpunkt ist nun aus mehreren Gründen gekommen, der überraschende Siegeslauf der Houthis seit Sommer 2014 und ihr jüngster Vorstoß in Richtung des südjemenitischen Aden sind nur der Anlass des Bombenkriegs. Die Saudis machen mit ihren Luftangriffen auch deutlich, was sie von dem drohenden Abschluss der Atomverhandlungen mit dem Iran halten.
Verhandlungen, deren erfolgreichen Abschluss Obama angesichts der verheerenden Bilanz seiner Nahost-Politik genauso dringend braucht wie der sanktionsgebeutelte Iran, der seine Verbündeten in Syrien, im Irak, im Libanon und nun auch im Jemen finanzieren muss. Der Personalwechsel in Saudi-Arabien nach der Einsetzung des neuen Königs Salman dürfte ebenfalls eine Rolle spielen, sein Sohn Mohammed, der neue Verteidigungsminister, ist erst Mitte dreißig. Der Generationswechsel verspricht nichts Gutes für den Jemen, Abdul Malik al-Houthi, der Führer der Houthis, gehört derselben Altersgruppe an, und Ahmed Saleh, der Sohn des ehemaligen jemenitischen Dauerpräsidenten Ali Abdullah Saleh, hat sich von den Anhängern seines Vaters bereits als Präsidentschaftskandidat feiern lassen.
Aber der Konflikt im Jemen ist keineswegs nur ein Stellvertreterkrieg – neben der großen regionalen Auseinandersetzung Iran versus Saudi-Arabien gibt es eine Reihe von innerjemenitischen Gründen für die Verschärfung der Lage. Auch hier wirkt der saudische Angriff fast wie eine Art Befreiungsschlag, der klarere Frontlinien herstellt. Dass die Houthis 2014 so umstandslos die Hauptstadt Sanaa einnehmen und vor allem kontrollieren konnten, verdankt sich wie ihr jüngster Vormarsch in Richtung Süden dem Bündnis mit Ali Abdullah Saleh. Dem ehemaligen Präsidenten folgt weiterhin der wohl am besten ausgerüstete Teil des Militärs, die ehemalige Präsidialgarde.
Es sind vor allem die Stützpunkte dieser Saleh ergebenen Militäreinheiten, die von den Bombenangriffen betroffen sind. Der amtierende jemenitische Präsident Abd Rabbuh Mansur Hadi, der jahrelang unter Saleh als stellvertretender Ministerpräsident diente, konnte zwar im Februar aus dem Hausarrest der Houthis fliehen, machtpolitisch ist er allerdings ein Leichtgewicht. Auch deshalb ist er von saudischer Hilfe abhängig. Die Milizionäre der »Volkskomitees«, die rund um die südjemenitische Metropole Aden gegen die Houthis und ihre Verbündeten kämpfen und bisher Hadi unterstützen, sind tendenziell separatistisch eingestellt. Wenn es Hadi nicht schnell gelingt, mit saudischer Unterstützung die Reste der staatlichen Struktur zu stabilisieren, dürfte der Kampf um eine ziemlich perspektivlose südjemenitische Unabhängigkeit beginnen.
Die machtpolitischen Verhältnisse im Jemen sind unübersichtlich. Salehs verschlungene Pfade sind dafür das beste Beispiel; er hat als Präsident des Jemen annähernd ein Dutzend Kriege gegen die Houthis geführt, bis er sich mit ihnen verbündete. Seine auch von den Saudis gehasste Konkurrenz von der Islah-Partei – den Muslimbrüdern – haben die Houthis im Sommer 2014 ausgeschaltet. Sein persönlicher Rivale, General Ali Mohsin, musste ebenfalls aus Sanaa fliehen – nach Saudi-Arabien, weshalb längst Spekulationen die Runde machen, was der verbitterte Warlord mit »Decisive Storm« zu tun haben könnte.

Die jemenitische Politik mit ihren Stammesklüngeln, Familienbanden, Intrigen und Verrätereien erinnert an »Game of Thrones«, nur die Drachen und die Frauen fehlen. Insofern ist auch das vom Nachrichtensender al-Arabiya kolportierte Gerücht gar nicht so unplausibel, Saleh habe den Saudis einen Coup gegen die Houthis angeboten, wenn man ihn aus dem Fadenkreuz der Bomber nähme. Al-Arabyia steht der saudischen Regierung extrem nahe und solche Gerüchte über Saleh dienen einem offensichtlichen propagandistischen Zweck. Doch vielleicht war das tatsächlich der Plan von Saleh und er hat sich nur das eine entscheidende Mal verrechnet: zuerst seine Feinde von den Houthis aus dem Weg räumen zu lassen, um dann die Houthis zu beseitigen und seinen Sohn als Retter der jemenitischen Nation zu präsentieren.
Das von westlichen Diplomaten ab 2012 so gepriesene und ernsthaft als Lösung für Syrien vorgeschlagene »jemenitische Modell« bestand letztlich nur darin, den grundlegenden Konflikten aus dem Weg zu gehen. Vor allem war man – und waren nicht zuletzt auch die Saudis – bestrebt, Saleh nicht anzutasten, womit man ihm die Möglichkeit gab, weiterhin als Schattenpräsident zu agieren. Die Demonstranten des »arabischen Frühlings« in Sanaa ließ man dagegen alleine. Das Desaster im Jemen ist auch ein hervorragendes Beispiel für das Scheitern von angeblich knallhart kalkulierender Realpolitik.
Ein jemenitischer Analyst schätzt, dass es derzeit elf größere überregional operierende Gruppen gibt, die zusammen rund 320 000 Bewaffnete ins Feld schicken können. Die meisten dieser Kämpfer sind sehr jung und haben kein Zukunftsversprechen außer ihrer Kalaschnikow. Wenn dieses Potential komplett entfesselt würde, wäre ein Ende der Kämpfe kaum absehbar. Der Jemen rangiert schon seit Jahren in den Bereichen, die eigentlich humanitäre Katastrophen signalisieren. Die Hilfsorganisation Oxfam warnte erst im Januar davor, dass von den 24 Millionen Jemeniten zehn Millionen nicht genug zu essen haben. Doch bislang war die gesellschaftliche Struktur noch vorhanden und funktionsfähig, genauso wie staatliche Institutionen – und es herrschte der unbedingte Wille vor, diesen Zustand zu erhalten. Ein Jemen im offenen Krieg wird umgehend die Fähigkeit verlieren, diese Dauerkrise weiterhin zu meistern.

Ein entscheidender Faktor für die unmittelbare Zukunft des Landes ist die Frage, ob der militärische Vorstoß der Saudis und ihrer Verbündeten auch den ernsthaften Einsatz von Bodentruppen beinhalten wird. Die Saudis haben hier bisher eher doppeldeutige Antworten gegeben. Die seit Monaten erwartete Gründung einer arabischen Eingreiftruppe (Jungle World 46/14) wurde am Wochenende auf dem Treffen der Arabischen Liga in Aqaba beschlossen. Aber was könnte das Ziel einer extrem risikoreichen und wahrscheinlich sehr blutigen Bodenoffensive sein?
Sowohl Saudi-Arabien wie Ägypten, dessen Militär wohl einen großen Anteil der Truppen zu stellen hätte, haben bittere Erfahrungen mit einer militärischen Intervention im Jemen. Beide Länder griffen in den sechziger Jahren im jemenitischen Bürgerkrieg ein und wurden, obwohl auf gegnerischen Seiten stehend, beide besiegt. Es gibt kein realistisches Ziel eines Einmarsches im Jemen – nur die Perspektive, unsägliches Chaos zu verbreiten. Die einzigen, die man als Nutznießer der ganzen Malaise ansehen darf, sind die Kämpfer von al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (Aqap) sowie islamistische Gruppen, die sich dem »Islamischen Staat« andienen wollen.
Letztere haben mit den jüngsten Selbstmordanschlägen auf zaiditisch-schiitische Moscheen in Sanaa bereits bewiesen, dass sie daran arbeiten, den Konflikt im Jemen blutig zu konfessionalisieren. Das Operationsgebiet von Aqap umfasst bereits jetzt den größten Teil des südjemenitischen Territoriums. Die Vorteile eines allgemeinen Kriegs liegen für Aqap auf der Hand. Die Glaubenskrieger können im Chaos nur gewinnen. Wenn sie denn keine Islamisten wären – nach den ersten saudischen Bombenangriffen hätten bei ihnen die Sektkorken knallen müssen.